© 2017 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 170/17 Bundesratsbeteiligung bei der Ratifikation des CETA und verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 170/17 Seite 2 Bundesratsbeteiligung bei der Ratifikation des CETA und verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 170/17 Abschluss der Arbeit: 13. September 2017 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 170/17 Seite 3 1. Fragestellung Im Auftrag von Mehr Demokratie e.V., Foodwatch e.V. und Campact e.V.,1 den Organisatoren einer Verfassungsbeschwerde gegen das europäisch-kanadische Freihandelsabkommen „Comprehensive Economic and Trade Agreement“ (CETA), erstattete Prof. Martin Nettesheim ein Gutachten zu verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Zustimmung zu umfassenden Freihandelsabkommen.2 Gebeten wird um eine Einordnung dieses Gutachtens im Bezug auf die Form der Bundesratsbeteiligung an einem CETA-Ratifikationsgesetz.3 Außerdem sollen Rechtsschutzmöglichkeiten für den Fall erläutert werden, dass Bundestag und Bundesrat zur Form der Bundesratsbeteiligung unterschiedliche Rechtsauffassungen vertreten. 2. Zustimmungsbedürftigkeit des Ratifikationsgesetzes In dem vorliegenden Gutachten erarbeitet Nettesheim am Beispiel des CETA allgemeine Vorgaben des deutschen Verfassungsrechts für die Zustimmung zu sogenannten umfassenden Freihandelsabkommen . Solche Abkommen neuen Typs sollen nicht nur „an der Grenze“ außenwirtschaftsrechtliche Marktzugangshindernisse beseitigen, sondern auch „hinter der Grenze“ auf unterschiedliche Politikbereiche der beteiligten Staaten einwirken. Sie zeichnen sich außerdem dadurch aus, dass sie häufig Vertragsgremien mit eigener Rechtsetzungsbefugnis vorsehen.4 Das Gutachten weist wiederholt darauf hin, dass einige der behandelten Fragen bisher weder Gegenstand verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung waren, noch in der Wissenschaft ausführlicher diskutiert wurden. Ausgangspunkt ist die Behandlung des CETA als gemischtes Abkommen, das sowohl Kompetenzen der Europäischen Union als auch solche der Mitgliedstaaten betrifft und daher sowohl von der Union als auch von den Mitgliedstaaten ratifiziert werden muss.5 Nettesheim lehnt die strikte Unterscheidung zwischen einer mitgliedstaatlichen Zustimmung zu den Vertragsteilen, die in den Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten fallen, und einer Zustimmung der Union zu den in ihren Kompetenzbereich fallenden Vertragsteilen ab. Stattdessen zieht er eine Gesamtbetrachtung 1 Pressemitteilung vom 5. Juli 2017, abrufbar unter https://www.ceta-verfassungsbeschwerde .de/2017/07/05/neues-gutachten-bundesrat-kann-ceta-noch-stoppen/; alle Internet-Quellen zuletzt abgerufen am 13. September 2017. 2 Nettesheim, Umfassende Freihandelsabkommen und Grundgesetz, Verfassungsrechtliche Grundlagen der Zustimmung zu CETA, Gutachten vom 25. Juni 2017, abrufbar unter https://www.ceta-verfassungsbeschwerde .de/wp-content/uploads/2017/07/2017-07-05-Nettesheim-Studie-CETA-lang.pdf. 3 Im Folgenden wird der Begriff „Ratifikationsgesetz“ gebraucht. Die Begriffe „Vertragsgesetz“, „Transformationsgesetz “ und „Zustimmungsgesetz“ werden in der Literatur teils synonym gebraucht, vgl. zur Terminologie Nettesheim, in: Maunz/Dürig (Begr.), Grundgesetz-Kommentar, 79. Lfg. 2016, Art. 59 Rn. 90. Dabei ist insbesondere „Zustimmungsgesetz“ missverständlich: Gemeint ist damit nur die Zustimmung von Bundestag und Bundesrat zu dem Vertrag, nicht aber ein Zustimmungs- im Gegensatz zu einem Einspruchsgesetz. 4 Nettesheim, Umfassende Freihandelsabkommen und Grundgesetz, S. 13 ff. 5 Vgl. zur Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten jüngst EuGH, Gutachten 2/15 vom 16. Mai 2017, EUSFTA; dazu Behrends/Kubicki/Rathke, Das Gutachten des EuGH zum EU-Freihandelsabkommen mit Singapur (EUSFTA), Infobrief vom 10. Juli 2017, Az. PE 6 - 3000 - 044/17. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 170/17 Seite 4 vor, die der umfassenden Bindung aller Vertragsparteien an den gesamten Vertragsinhalt besser gerecht werden soll.6 Während eine in der rechtswissenschaftlichen Literatur wohl überwiegende Auffassung auf gemischte Abkommen Art. 59 Abs. 2 Grundgesetz (GG) anwendet,7 hält Nettesheim Art. 23 Abs. 1 GG für anwendbar, der insbesondere für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union geschaffen wurde.8 Nach seiner Auffassung kommt es nämlich zum einen im Außenverhältnis zu Kompetenzverschiebungen: Der Union erwüchsen gegenüber dem Drittstaat, hier gegenüber Kanada, Rechte und Pflichten in Bereichen, in denen ihr die Europäischen Verträge keine Kompetenzen einräumten. Zum anderen erweiterten umfassende Freihandelsabkommen die Handlungsbefugnisse der Unionsorgane. Insbesondere beanspruche der EuGH die Auslegung auch jener Vertragsbestandteile für sich, die in den Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten fallen. Überdies sehe CETA die Errichtung von Vertragsgremien mit erheblichen Entscheidungsmöglichkeiten vor. Darin liege eine Weiterübertragung von primärrechtlich der Union zustehenden Kompetenzen auf andere Institutionen. Eine solche Übertragung sei zwar im Primärrecht vorgesehen, löse aber je nach Inhalt, Umfang und Art der übertragenen Befugnisse erneuten Legitimationsbedarf aus. Würden Vertragsgremien im Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten tätig, sei auch insoweit Art. 23 Abs. 1 GG einschlägig, wenn nur ein hinreichender Nähebezug zur europäischen Integration bestehe .9 Daher stelle sich die Anwendung von Art. 23 GG – jedenfalls bei Abkommen, die zwischen den betroffenen Kompetenzbereichen nicht ausdrücklich unterschieden – als Fortschreibung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dar, das Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG schon seit längerem erweiternd auslege.10 Folgt man dieser Ansicht, so ergibt sich aus Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG, dass das Ratifikationsgesetz stets der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Zu demselben Ergebnis gelangt Nettesheim auch, soweit er das Ratifikationsgesetz hilfsweise am Maßstab des Art. 59 Abs. 2 GG prüft. Die Frage, ob es sich bei dem Ratifikationsgesetz um ein Einspruchs- oder um ein Zustimmungsgesetz handelt, kann dann nur anhand der einzelnen Regelungsgegenstände des Abkommens beantwortet werden. Das Ratifikationsgesetz ist Einspruchsgesetz , wenn ein inhaltsgleiches gewöhnliches Bundesgesetz Einspruchsgesetz wäre; es ist Zustimmungsgesetz, wenn ein Bundesgesetz der Zustimmung des Bundesrates im Sinne der Art. 77, 78 GG bedürfte.11 Nettesheim geht davon aus, dass mehrere Regelungsgegenstände des CETA Zustimmungstatbestände des Grundgesetzes erfüllten. Das CETA stelle in verschiedenen Vorschriften Anforderungen an Struktur, Transparenz und Effektivität des Verwaltungsverfahrens der Vertragsstaaten. Diese Anforderungen seien zwar teilweise sehr allgemein gehalten und 6 Nettesheim, Umfassende Freihandelsabkommen und Grundgesetz, S. 80 f. 7 Vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Form der Bundesratsbeteiligung bei der Ratifikation des CETA, Ausarbeitung vom 10. November 2016, Az. WD 3 - 3000 - 244/16, S. 3 m.w.N. 8 Nettesheim, Umfassende Freihandelsabkommen und Grundgesetz, S. 81 ff. 9 Nettesheim, Umfassende Freihandelsabkommen und Grundgesetz, S. 90 ff. 10 Nettesheim, Umfassende Freihandelsabkommen und Grundgesetz, S. 88, 93. 11 Ausführlich hierzu Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Form der Bundesratsbeteiligung bei der Ratifikation des CETA, Az. WD 3 - 3000 - 244/16. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 170/17 Seite 5 dürften in Deutschland wenig spürbar sein; dennoch seien sie für die Länder rechtlich bindend. Sie erfüllten daher den Tatbestand des Art. 84 Abs. 1 S. 6 GG.12 Außerdem enthalte das CETA Bestimmungen zur Haftung für schädigendes rechtswidriges Verhalten der öffentlichen Gewalt. Darin liege eine Regelung der Staatshaftung im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 25, Abs. 2 GG.13 3. Rechtsschutz bei unterschiedlichen Auffassungen über die Zustimmungsbedürftigkeit Wird der Entwurf eines Ratifikationsgesetzes beim Bundestag durch die Bundesregierung eingebracht , hat deren Einschätzung zur Zustimmungsbedürftigkeit für das weitere Gesetzgebungsverfahren keine bindende Wirkung. Sind Bundestag und Bundesrat uneins über die Zustimmungsbedürftigkeit eines Gesetzes, so behandeln sie den Gesetzentwurf jeweils entsprechend ihrer Rechtsauffassung: Geht der Bundesrat von der Zustimmungsbedürftigkeit eines ihm zugeleiteten Gesetzes aus, so erteilt oder verweigert er die Zustimmung, Art. 77 Abs. 2a GG. Verweigert er die Zustimmung, kann er zugleich vorsorglich Einspruch einlegen.14 Geht der Bundestag (weiterhin) von einem bloßen Einspruchsgesetz aus, so kann er den Einspruch zurückweisen. Sodann steht dem Bundespräsidenten wie bei jedem Gesetz ein – unbestrittenes formelles – Prüfungsrecht zu.15 Folgt er der Auffassung des Bundestages, so fertigt er das Gesetz aus und verkündet es. Der Bundesrat kann sodann ein Organstreitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5, §§ 63 ff. Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) einleiten. Außerdem kann insbesondere jede Landesregierung oder ein Viertel der Mitglieder des Bundestages das Gesetz dem Bundesverfassungsgericht im Wege der abstrakten Normenkontrolle vorlegen, Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6, §§ 76 ff. BVerfGG.16 *** 12 Nettesheim, Umfassende Freihandelsabkommen und Grundgesetz, S. 107 ff. 13 Nettesheim, Umfassende Freihandelsabkommen und Grundgesetz, S. 111 ff. 14 BVerfGE 37, 363, 396; Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl. 2007, Bd. 5, § 102 Rn. 53. 15 Vgl. nur Bauer, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 3. Aufl. 2015, Art. 82 Rn. 12. 16 Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 5, § 102 Rn. 53.