© 2019 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 169/19 Zur Verwirkung von Grundrechten nach Art. 18 GG Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 169/19 Seite 2 Zur Verwirkung von Grundrechten nach Art. 18 GG Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 169/19 Abschluss der Arbeit: 3. Juli 2019 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 169/19 Seite 3 1. Fragestellung Der Sachstand stellt das Verfahren der Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 GG durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) dar.1 Erläutert werden unter anderem die Verfahrensbeteiligten, die Tatbestandsvoraussetzungen von Art. 18 GG und die Rechtsfolgen der Verwirkung. Außerdem werden die praktische Relevanz und die juristische Bewertung der Norm dargestellt. 2. Verfahren nach Art. 18 GG Art. 18 GG lautet: „Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.“ Der Ablauf des Verfahrens vor dem BVerfG ist in den §§ 36 bis 41 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) geregelt. 2.1. Antragsteller und Antragsgegner Antragsberechtigte des Verwirkungsverfahrens sind nach § 36 BVerfGG der Bundestag, die Bundesregierung oder eine Landesregierung. Antragsgegner kann jeder Träger der in Art. 18 GG genannten Grundrechte sein. Dies umfasst zum einen natürliche Personen – sowohl Deutsche als auch Ausländer – soweit ihnen die genannten Grundrechte zustehen.2 Daneben können auch juristische Personen Antragsgegner sein, sofern sie gemäß Art. 19 Abs. 3 GG Inhaber der in Art. 18 GG genannten Grundrechte sind.3 Als juristische Person im Sinne des Art. 19 Abs. 3 GG können sowohl vollrechtsfähige Vereinigungen wie Kapitalgesellschaften und teilrechtsfähige Vereinigungen wie die Gesellschaft bürgerlichen Rechts als auch nichtrechtsfähige Vereine, Parteien, Gewerkschaften und Wählervereinigungen gelten.4 Auch juristische Personen des öffentlichen Rechts kommen in Betracht, soweit ihnen Grundrechte zustehen können.5 Zum Teil wird angenommen , dass Art. 18 GG auch für juristische Personen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat 1 Die folgenden Ausführungen entstammen teilweise der Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 Grundgesetz (GG), WD 3 - 3000 - 170/12. 2 Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 18 Rn. 25; Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Art. 18 Rn. 34. 3 Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 18 Rn. 28. 4 Remmert, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 19 Abs. 3 Rn. 38 ff.; Enders, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, 41. Edition Stand: 15. Mai 2019, Art. 19 Rn 35. 5 Remmert, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 19 Abs. 3 Rn. 40. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 169/19 Seite 4 der Europäischen Union gilt, wenn diese in der Bundesrepublik tätig werden.6 Ein Handeln von natürlichen Personen kann nur zu einer Verwirkung der Grundrechte einer Vereinigung führen, wenn das Handeln der Organisation zuzurechnen ist.7 Eine Grundrechtsverwirkung juristischer Personen gilt nur für diese selbst, nicht für ihre Mitglieder als natürliche Personen, soweit sie nicht für die Organisation tätig werden. Bei juristischen Personen dürften in vielen Fällen Art. 9 Abs. 2 GG (Vereinigungsverbot) und Art. 21 Abs. 2 GG (Parteiverbot) als Spezialregelungen Vorrang vor Art. 18 GG haben.8 2.2. Verfahren Gemäß § 14 Abs. 2, § 13 Nr. 1 BVerfGG ist der Zweite Senat des BVerfG für das Verwirkungsverfahren zuständig. Das Verfahren gliedert sich in die folgenden Schritte: – Vorverfahren (§ 37 BVerfGG), um offensichtlich unzulässige oder nicht hinreichend begründete Anträge von vornherein abzulehnen; – ggf. Anordnung der Beschlagnahme oder Durchsuchung nach den Vorschriften der Strafprozessordnung (§ 38 Abs.1 BVerfGG); – ggf. Anordnung einer Voruntersuchung zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung (§ 38 Abs. 2 BVerfGG); – mündliche Verhandlung (§ 25 Abs.1 BVerfGG); – Verwirkungsentscheidung (§ 39 BVerfGG). Nach Eingang des Verwirkungsantrags hat der Antragsgegner gemäß § 37 BVerfGG das Recht, sich innerhalb einer vom BVerfG bestimmten Frist zum Antrag zu äußern. Anschließend entscheidet das Gericht, ob der Antrag als unzulässig oder als nicht hinreichend begründet zurückzuweisen oder ob die mündliche Verhandlung durchzuführen ist. Das Gericht führt dabei eine summarische Prüfung nach Aktenlage durch.9 Nach der Eröffnung des Hauptverfahrens10 kann das Gericht gemäß § 38 Abs. 1 BVerfGG Beweissicherungsmaßnahmen nach den Normen der Strafprozessordnung anordnen. Für die Anordnung 6 Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Art. 18 Rn. 36; Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 18 Rn. 28. 7 Vgl. zu Art. 9 Abs. 2 GG Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 9 Rn. 117 sowie zu Art. 21 Abs. 2 GG Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 21 Rn. 538. 8 Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 18 Rn. 28, 117; Brenner, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 18 Rn. 27. 9 Waldhoff, in: Walter/Grünewald (Hrsg.), BeckOK BVerfGG, 6. Edition Stand: 1. Dezember 2018, § 37 Rn. 2. 10 Waldhoff, in: Walter/Grünewald (Hrsg.), BeckOK BVerfGG, 6. Edition Stand: 1. Dezember 2018, § 38 Rn. 1. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 169/19 Seite 5 ist allein der Zweite Senat des BVerfG zuständig, während die Durchführung der konkreten Zwangsmaßnahmen den nach dem Strafprozessrecht zuständigen Behörden zusteht.11 Gemäß § 38 Abs. 2 S. 1 BVerfGG kann das BVerfG zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung eine Voruntersuchung anordnen. Diese ist nach § 38 Abs. 2 S. 2 BVerfGG durch einen Richter des nicht an der Hauptsache beteiligten Senats – also des Ersten Senats – durchzuführen. 2.3. Tatbestandsvoraussetzungen Tatbestandlich setzt Art. 18 GG voraus, dass der Antragsgegner eines der genannten Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht hat. Die freiheitliche demokratische Grundordnung ist nach der Rechtsprechung des BVerfG „eine Ordnung, die unter Ausschluss jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt“.12 Zu den Prinzipien dieser Ordnung gehören nach Auffassung des Gerichts zumindest „die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition“.13 Das Tatbestandsmerkmal des „Kampfes“ setzt ein aggressives, zielgerichtetes Tun voraus, das auf die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtet ist.14 Nicht erforderlich ist eine Gewaltanwendung oder strafbare Handlung, vielmehr kann der Kampf auch geistiger Natur sein, was schon deshalb angezeigt ist, weil sich Art. 18 GG vorrangig auf die Kommunikationsgrundrechte bezieht.15 Der in Art. 18 GG genannte „Missbrauch“ ist kein eigenständiges Tatbestandsmerkmal . Vielmehr lässt sich der Missbrauch stets bejahen, wenn Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung eingesetzt werden.16 Endscheidend für die Bejahung der Tatbestandsvoraussetzungen ist die Gefährlichkeit des Antragsgegners für die freiheitliche demokratische Grundordnung. Konkrete Erfolgsaussichten sind zwar nicht erforderlich, bei einer offensichtlichen Aussichtslosigkeit des Handelns dürfte allerdings mangels Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung eine Tatbestandsmäßigkeit 11 Waldhoff, in: Walter/Grünewald (Hrsg.), BeckOK BVerfGG, 6. Edition Stand: 1. Dezember 2018, § 38 Rn. 1. 12 BVerfGE 2, 1 (12 f.). 13 BVerfGE 2, 1 (12 f.); 5, 85 (140). 14 Brenner, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 18 Rn. 27; Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 18 Rn. 44. 15 Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 18 Rn. 54; Brenner, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 18 Rn. 33. 16 Brenner, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 18 Rn. 33. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 169/19 Seite 6 ausscheiden.17 Die Gefährlichkeit darf nicht nur in der Vergangenheit bestanden haben, sondern muss zum Zeitpunkt der Entscheidung bestehen und auch für die Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein.18 Es muss folglich eine Wiederholungsgefahr bestehen. Diese beschränkt sich allerdings nicht auf das zuvor missbrauchte Grundrecht. Auch ein bisher auf ein bestimmtes Grundrecht beschränktes Verhalten kann eine insgesamt bestehende Gefährlichkeit indizieren.19 Die für die Zukunft bestehende Gefährlichkeit muss das BVerfG positiv feststellen. Ein Verweis darauf, dass sich aus dem bisherigen Verhalten des Antragsgegners eine Vermutung für die Fortdauer der Gefährlichkeit ergebe, genügt nicht.20 Dementsprechend hat das BVerfG beispielsweise einen Verwirkungsantrag abgelehnt, weil der Antragsgegner sich seit der (acht Jahre zurückliegenden ) Antragstellung nicht mehr politisch betätigt habe.21 In einem anderen Verfahren lehnte das Gericht den Antrag ab, weil die vom Antragsgegner verbreiteten Auffassungen keine politisch bedeutsame Resonanz mehr fänden und daher keine Gefährlichkeit für den Bestand der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bestehe.22 2.4. Verwirkungsentscheidung Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen vor, so legt das BVerfG gemäß § 39 Abs. 1 BVerfGG in der Verwirkungsentscheidung fest, welche Grundrechte der Antragsgegner verwirkt hat. Die Verwirkung kann zeitlich unbegrenzt oder für einen bestimmten Zeitraum von mindestens einem Jahr ausgesprochen werden. Nach herrschender Meinung bewirkt die Verwirkungsentscheidung nicht den Verlust des Grundrechts , sondern das Verbot, sich gegenüber staatlichen Einschränkungsmaßnahmen darauf zu berufen.23 Neben der vollen Verwirkung kann das Gericht auch eine auf bestimmte Bereiche begrenzte Verwirkung aussprechen.24 Zumindest teilweise wird gefordert, dass sich der Ausspruch 17 Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 18 Rn. 54; Brenner, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 18 Rn. 33. 18 Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 18 Rn. 49. 19 Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 18 Rn. 49. 20 Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 18 Rn. 50. 21 BVerfGE 11, 282 (283). 22 BVerfGE 38, 23 (25). 23 Pagenkopf, in: Sachs (Hrsg.), GG, 8. Aufl. 2018, Art. 18 Rn. 13; Butzer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, 41. Edition Stand: 15. Mai 2019, Art. 18 Rn. 17; Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Art. 18 Rn. 52; Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 18 Rn. 49. Von Coelln, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 56. EL Februar 2019, § 39 Rn. 23 weist allerdings darauf hin, dass gerade die Abwehrmöglichkeit gegen staatliche Maßnahmen der zentrale Gehalt eines Grundrechts sei. Wem diese Möglichkeit entzogen werde, der verliere den Schutz des Grundrechts in vollem Umfang. 24 Waldhoff, in: Walter/Grünewald (Hrsg.), BeckOK BVerfGG, 6. Edition Stand: 1. Dezember 2018, § 39 Rn. 3. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 169/19 Seite 7 der Verwirkung überhaupt nur auf politische Betätigungen beziehen dürfe.25 Dem Betroffenen dürfe daher beispielsweise nicht verwehrt werden, einem rein privaten Verein anzugehören.26 Teilweise wird vertreten, es könne nur dasjenige Grundrecht aberkannt werden, das missbraucht wurde.27 Nach herrschender Ansicht kann sich hingegen der Ausspruch der Verwirkung auf alle in Art. 18 GG genannten Grundrechte beziehen, unabhängig davon, welches Grundrecht der Betroffene missbraucht hat.28 Dies wird vor allem damit begründet, dass der Betroffene ansonsten einfach auf eine andere Betätigungsform ausweichen könnte.29 Nach § 39 Abs. 1 S. 3 BVerfGG kann das Gericht dem Antragsgegner zusätzlich nach Art und Dauer genau bezeichnete Beschränkungen auferlegen, soweit sie nicht andere als die verwirkten Grundrechte beeinträchtigen. Diese Beschränkungen sollen zur präventiven Unterbindung des Grundrechtsmissbrauchs dienen.30 Grund für die Regelung ist, dass die Grundrechtsverwirkung nicht zu einem Verbot eines bestimmten Verhaltens führt.31 So begründet etwa die Verwirkung des Grundrechts der Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) nicht das Verbot, für ein Pressemedium tätig zu werden. Ein solches Verbot kann das Gericht nach § 39 Abs. 1 S. 3 BVerfGG aussprechen.32 Nach § 39 Abs. 2 BVerfGG kann das BVerfG dem Antragsgegner für die Dauer der Grundrechtsverwirkung zudem das Wahlrecht, die Wählbarkeit und die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter aberkennen. Bei juristischen Personen kann das Gericht die Auflösung anordnen. Dies ist allerdings nur unter den Voraussetzungen von Art. 9 Abs. 2 GG zulässig.33 Es muss sich folglich um eine Vereinigung handeln, deren Zwecke oder Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet. 25 Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 18 Rn. 70 ff., 92; Butzer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, 41. Edition 15. Mai 2019, Art. 18 Rn. 13. 26 Butzer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, 41. Edition 15. Mai 2019, Art. 18 Rn. 13. 27 Vgl. die Nachweise bei Brenner, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 18 Rn. 49. 28 Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 18 Rn. 38 ff.; Butzer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, 41. Edition 15. Mai 2019, Art. 18 Rn. 12; Brenner, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 18 Rn. 50. 29 Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 18 Rn. 40; Brenner, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 18 Rn. 50. 30 Waldhoff, in: Walter/Grünewald (Hrsg.), BeckOK BVerfGG, 6. Edition Stand: 1. Dezember 2018, § 39 Rn. 4. 31 Von Coelln, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 56. EL Februar 2019, § 39 Rn. 38. 32 Von Coelln, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 56. EL Februar 2019, § 39 Rn. 38, zum damit einhergehenden Eingriff in die Berufsfreiheit siehe dort Rn. 39 f. 33 Von Coelln, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 56. EL Februar 2019, § 40 Rn. 54. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 169/19 Seite 8 2.5. Aufhebung der Verwirkung Wurde die Verwirkungsentscheidung für einen längeren Zeitraum als ein Jahr oder unbefristet ausgesprochen, so können gemäß § 40 S. 1 BVerfGG sowohl der Betroffene als auch der Antragsteller beantragen, die Verwirkung aufzuheben oder die Dauer der Verwirkung zu verkürzen. Dazu müssen allerding bereits zwei Jahre seit Ausspruch der Verwirkung vergangen sein.34 Eine rückwirkende Wiederaufnahme des Verfahrens ist nicht möglich.35 Die Verwirkung kann daher nur mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben werden. Für die Entscheidung besteht zudem ein Verschlechterungsverbot, eine Entscheidung zulasten des Betroffenen ist daher unzulässig.36 Erforderlich ist ein schriftlicher Antrag mit Begründung.37 Grund für eine Aufhebung der Verwirkung oder eine Verkürzung von deren Dauer kann sowohl ein verändertes Verhalten des Betroffenen als auch eine Neubewertung der Rechtslage sein.38 Der Antrag auf Aufhebung oder Verkürzung kann nach § 40 S. 2 BVerfGG wiederholt werden, wenn seit der letzten Entscheidung des BVerfG ein Jahr verstrichen ist. 3. Praktische Relevanz und Bewertung von Art. 18 GG Die praktische Relevanz von Art. 18 GG ist gering. Bislang gab es vier Verwirkungsverfahren. In allen Fällen wurden die Anträge bereits im Vorverfahren abgelehnt.39 – 1960: Ablehnung des Antrags der Bundesregierung gegen den stellvertretenden Bundesvorsitzenden der Sozialistischen Reichspartei, Otto Ernst Remer.40 – 1974: Ablehnung des Antrags der Bundesregierung gegen den Herausgeber der Deutschen Nationalzeitung, Gerhard Frey.41 34 Faktisch ist eine Aufhebung oder Verkürzung der Dauer daher nur möglich, wenn die Verwirkung für mindestens zwei Jahre ausgesprochen wurde, siehe von Coelln, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 56. EL Februar 2019, § 40 Rn. 4. 35 Lechner/Zuck, in: dieselben, BVerfGG, 8. Aufl. 2019, § 40 Rn. 1. 36 Waldhoff, in: Walter/Grünewald (Hrsg.), BeckOK BVerfGG, 6. Edition Stand: 1. Dezember 2018, § 40 Rn. 1. 37 Waldhoff, in: Walter/Grünewald (Hrsg.), BeckOK BVerfGG, 6. Edition Stand: 1. Dezember 2018, § 40 Rn. 2. 38 Lechner/Zuck, in: dieselben, BVerfGG, 8. Aufl. 2019, § 40 Rn. 3; Waldhoff, in: Walter/Grünewald (Hrsg.), BeckOK BVerfGG, 6. Edition Stand: 1. Dezember 2018, § 40 Rn. 2. 39 Schnelle, Freiheitsmissbrauch und Grundrechtsverwirkung, 2014, S. 94 f. 40 BVerfGE 11, 282. 41 BVerfGE 38, 24. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 169/19 Seite 9 – 1996: Ablehnung von zwei Anträgen der Bundesregierung gegen nicht prominente mutmaßliche Rechtsextreme.42 Trotz der geringen praktischen Relevanz wird Art. 18 GG eine wertsystematische Bedeutung zugebilligt . Die Vorschrift gilt als Ausdruck der wehrhaften Demokratie: „In der Binnenperspektive soll Art. 18 GG – durchaus ähnlich einer Strafnorm – exemplarisch belegen, daß der freiheitliche Verfassungsstaat den Mißbrauch der Grundrechte nicht duldet; er verknüpft insofern Aspekte der Abschreckung potentieller Feinde der Demokratie auf der einen wie der Stärkung des Vertrauens in ihre Selbstbehauptungskraft auf Seiten der rechtstreuen Bevölkerung.“43 Der Norm kommt nach herrschender Ansicht vor allem eine Appell- und Signalfunktion zu.44 Ein Grund für die praktische Bedeutungslosigkeit der Bestimmung wird vor allem darin gesehen, dass die Verfassungsschutzbestimmungen des einfachen Rechts, namentlich des Strafrechts, die Zwecke des Art. 18 GG wirksamer erreichten, als das ohnehin komplizierte Verwirkungsverfahren .45 Insbesondere in Bezug auf Vereinigungen wird auf die höhere Effizienz anderer Mittel zur Bekämpfung extremistischer Tendenzen hingewiesen.46 So werde vom Instrument des Vereinsverbots gerade im rechtsextremistischen Bereich relativ häufig Gebrauch gemacht. Dies hänge nicht zuletzt damit zusammen, dass die Zuständigkeit dafür nicht beim BVerfG, sondern bei den Innenministerien liege und die betroffenen Organisationen erst nachträglich um Rechtsschutz nachsuchen könnten. Zum Teil wird Kritik daran geäußert, dass allein das BVerfG die Verwirkung aussprechen könne. Das BVerfG habe bisher „Glück“ damit gehabt, dass es nur vereinzelte Anträge gegeben habe, denn die damit verbundene Arbeitsbelastung würde ansonsten im Blick auf die sonstigen Aufgaben des Gerichts kaum tragbar sein.47 In diesem Zusammenhang wurde vorgeschlagen, für Verfahren nach Art. 21 GG und Art. 18 GG einen neuen Gerichtshof zu schaffen, der mit dort nebenamtlich tätigen Richtern zu besetzen wäre.48 Mitunter wird die Rolle des BVerfG im Verwirkungsverfahren nicht nur im Hinblick auf die Arbeitsbelastung kritisch gesehen: Es sei paradox, dass das BVerfG, wenn es zum Schutz der Grundrechte berufen sei, sich auf die Kontrolle der tätigen Staatsorgane beschränke , beim Entzug der Grundrechte dagegen den ersten und alleinigen Zugriff auf die Sache 42 BVerfG, Beschluss vom 18. Juli 1996, 2 BvA 1/92, 2 BvA 2/92. 43 Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Art. 18 Rn. 30. 44 Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2013, Art. 18 Rn. 30; Butzer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, 41. Edition Stand: 15. Mai 2019, Art. 18 Rn. 3; Brenner, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 18 Rn. 17. 45 Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 18 Rn. 2 Fn. 3; von Coelln, in: Maunz/Schmidt- Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 56. EL Februar 2019, § 36 Rn. 5. 46 Zur nachfolgenden Argumentation siehe Volkmann, Kampf gegen die Hydra? Der Staat und der Rechtsextremismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 18-19/2012, S. 15 ff. (17). 47 Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 18 Rn. 2 Fn. 3. 48 Vgl. Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 18 Rn. 2 Fn. 3. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 169/19 Seite 10 besitze.49 Die Erwartung, dass die Verwirkungskompetenz gerade beim BVerfG besonders gut verortet sei, lasse sich nicht begründen: Die Wahrnehmung des Verfahrens durch eine sachlich unabhängige Verwaltungsbehörde, bei einem Verwaltungs- oder Strafgericht garantiere ein höheres rechtsstaatliches Niveau, weil die Entscheidung ggf. der Überprüfung durch die Fachgerichte unterläge und – im Wege der Verfassungsbeschwerde – zum BVerfG gelange, dass nun am Maßstab des Grundgesetzes die Letztkontrolle vornehmen könnte. Außerdem seien die Strafkammern der Landgerichte über die StPO besser mit Verfahrensbefugnissen ausgestattet, um die erforderlichen Ermittlungen im Verwirkungsverfahren durchzuführen, als das Bundesverfassungsgericht aufgrund der „spärlichen“ Bestimmungen der §§ 17 ff., 37 ff. BVerfGG. Eine parlamentarische Diskussion über Art. 18 GG findet aktuell zu der Frage statt, ob das Grundrecht der ungestörten Religionsausübung nach Art. 4 Abs. 2 GG in den Grundrechtekatalog des Art. 18 GG aufgenommen werden soll.50 *** 49 Isensee, Verfassungsnorm in Anwendbarkeitsnöten: Art. 18 des Grundgesetzes, in: Der verfaßte Rechtsstaat – Festgabe für Karin Graßhof, 1998, S. 298 ff. (306), siehe dort auch zum Folgenden. 50 Siehe den entsprechenden Gesetzentwurf, BT-Drs. 19/4484, sowie Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz, BT-Drs. 19/9026; zur ersten Lesung siehe Plenarprotokoll 19/52, S. 5493. Zur Zulässigkeit der Erweiterung siehe die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Zur Aufnahme des Grundrechts der ungestörten Religionsausübung in die Verwirkungsregelung des Art. 18 GG, WD 3 - 3000 - 221/17.