© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 167/20 Beherbergungsverbote in den Corona-Rechtsverordnungen der Bundesländer Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 167/20 Seite 2 Beherbergungsverbote in den Corona-Rechtsverordnungen der Bundesländer Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 167/20 Abschluss der Arbeit: 17.8.2020 (zugleich letzter Abruf der Internetquellen) Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 167/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Ausgangssituation 4 3. Verfassungsmäßigkeit von Beherbergungsverboten 5 3.1. Rechtsgrundlage 5 3.2. Grundrechtseingriff 6 3.2.1. Einwohner eines betroffenen Landkreises 6 3.2.2. Betreiber von Beherbergungsbetrieben 7 3.3. Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs 7 3.3.1. Legitimes Ziel 8 3.3.2. Geeignetheit 8 3.3.3. Erforderlichkeit 9 3.3.4. Angemessenheit 11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 167/20 Seite 4 1. Fragestellung Die Ausarbeitung befasst sich mit der verfassungsrechtlichen Bewertung von durch die Bundesländer verordneten Beherbergungsverboten für Reisende aus Landkreisen mit erhöhten Corona- Infektionswerten. Gefragt wurde auch, ob solche Verbote auch dann einen ganzen Landkreis betreffen dürfen, wenn das Infektionsgeschehen innerhalb des Landkreises unterschiedlich verläuft . Da allerdings die Beurteilung von der Sachlage im jeweiligen Bundesland abhängt, insbesondere vom aktuellen regionalen Infektionsgeschehen, und es daher auf den konkreten Einzelfall ankommt, können im Folgenden nur allgemeine Ausführungen angestellt werden. 2. Ausgangssituation Die Fragestellung ergab sich zunächst vor dem Hintergrund eines regionalen Infektionsgeschehens mit dem Coronavirus in den Kreisen Gütersloh und Warendorf (Nordrhein-Westfalen) im Juni 2020. Aufgrund dieses Ausbruchs wurden dort hohe Werte für Neuinfektionen, mit über 25 Fällen pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen, festgestellt, zeitweise lagen diese bei knapp 260 Fällen pro 100.000 Einwohner.1 Nachdem die Infektionszahlen dort zurückgegangen sind, sind zwischenzeitlich in weiteren Landkreisen neue lokale Infektionsherde aufgetaucht.2 Die Rechtsgrundlage für Infektionsschutzmaßnahmen findet sich im Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG). Das IfSG bezweckt, übertragbaren Krankheiten beim Menschen vorzubeugen, Infektionen frühzeitig zu erkennen und ihre Weiterverbreitung zu verhindern. § 28 Abs. 1 IfSG bestimmt, dass im Falle einer Feststellung von Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen oder Ausscheidern die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen trifft, soweit und solange dies zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. § 32 IfSG ermächtigt die Landesregierungen, unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 IfSG maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen. In Reaktion auf das Infektionsgeschehen im Kreis Gütersloh und weitere lokale Corona-Ausbrüche 3 haben mehrere Bundesländer in ihren Corona-Verordnungen gegenüber Beherbergungsbe- 1 Lagebericht des Robert Koch-Instituts (RKI) vom 22.6.2020, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/Inf AZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-06-22-de.pdf?__blob=publicationFile, sowie vom 23.6.2020, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte /2020-06-23-de.pdf?__blob=publicationFile. 2 Siehe etwa Zeit Online, Gericht stoppt bayerisches Beherbergungsverbot für Urlauber, 28.7.2020, abrufbar unter: https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-07/corona-bestimmungen-bayern-beherbergungsverbot-aufgehoben-gerichtsurteil . Die geografische Verteilung der Infektionszahlen lässt sich den täglichen Lageberichten des RKI entnehmen, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte /Gesamt.html. 3 Siehe etwa Zeit Online, Gericht stoppt bayerisches Beherbergungsverbot für Urlauber, 28.7.2020, abrufbar unter: https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-07/corona-bestimmungen-bayern-beherbergungsverbot-aufgehoben-gerichtsurteil . Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 167/20 Seite 5 trieben ein Verbot erlassen, Reisende aus betroffenen Landkreisen aufzunehmen. Die niedersächsische Landesregierung hatte dabei zunächst ein ausdrücklich auf den Kreis Gütersloh bezogenes Verbot vorgesehen. Dieses Verbot wurde zwischenzeitlich wieder aufgehoben.4 Größtenteils beziehen sich die Beherbergungsverbote allerdings nicht ausdrücklich auf bestimmte Landkreise, sondern verbieten die Beherbergung von Personen, die aus einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt anreisen oder dort ihren Wohnsitz haben, in dem oder in der in den letzten sieben Tagen vor der geplanten Anreise die Zahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 laut Veröffentlichung des RKI höher als 50 pro 100.000 Einwohnern liegt.5 Die Verordnungen sehen Ausnahmen für den Fall vor, dass die Reisenden über ein ärztliches Zeugnis verfügen, das bestätigt, dass keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Infektion mit dem Coronavirus vorhanden sind. Das Bundeskanzleramt hat im Einvernehmen mit Staats- und Senatskanzleien der Länder beschlossen , dass auch in Zukunft Beherbergungsverbote für Reisende ohne negatives Testergebnis aus besonders von Corona betroffenen Gebieten als Vorsorgemaßnahme genutzt werden sollen.6 Bei einem klar eingrenzbaren Infektionsgeschehen sei eine Beschränkung auf den betroffenen regionalen Bereich zulässig. Der Verwaltungsgerichtshof (VGH) München hat das Beherbergungsverbot in der Bayerischen Corona-Verordnung im Eilverfahren mit Beschluss vom 28. Juli 2020 vorläufig aufgehoben (siehe auch unter 3.3.3.).7 3. Verfassungsmäßigkeit von Beherbergungsverboten Die Beherbergungsverbote der Corona-Verordnungen müssen mit dem Grundgesetz vereinbar sein. Dies bedeutet zum einen, dass die jeweiligen Rechtsverordnungen auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage beruhen müssen. Zum anderen müssen die Beherbergungsverbote, soweit sie in Grundrechte eingreifen, verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. 3.1. Rechtsgrundlage Ein Eingriff in Grundrechte kann nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen. Die bisherige Rechtsprechung hat die § 32 Abs. 1, § 28 Abs. 1 IfSG als ausreichende Ermächtigungsnorm für den Erlass von Rechtsverordnungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie angesehen.8 4 Die aktuelle Fassung der niedersächsischen Verordnung samt Änderungschronologie ist abrufbar unter: https://www.niedersachsen.de/Coronavirus/vorschriften/vorschriften-der-landesregierung-190625.html. 5 Siehe dazu auch Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Beherbergungsverbote für Reisende aus Risikogebieten innerhalb Deutschlands, WD 9 - 3000 - 57/20. 6 Besprechung des Chefs des Bundeskanzleramtes mit den Chefinnen und Chefs der Staats- und Senatskanzleien am 16.7.2020, Pressemitteilung 257, Punkt 5, abrufbar unter: https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles /besprechung-des-chefs-des-bundeskanzleramtes-mit-den-chefinnen-und-chefs-der-staats-und-senatskanzleien -am-16-juli-2020-1769380. 7 VGH München, Beschluss vom 28.7.2020, 20 NE 20.1609, BeckRS 2020, 17622. 8 Siehe beispielhaft OVG Greifswald, Beschluss vom 9.4.2020, 2 KM 267/20, BeckRS 2020, 5675 Rn. 11 ff.; OVG Münster, Beschluss vom 29.6.2020, 13 B 911/20.NE, BeckRS 2020, 14032 Rn. 23 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 167/20 Seite 6 Auch in Bezug auf Beherbergungsverbote hat die Rechtsprechung die Tauglichkeit der Ermächtigungsgrundlage bisher nicht beanstandet.9 Rechtsverordnungen müssen zudem den Anforderungen von Art. 80 GG genügen. So müssen sie formell ordnungsgemäß zustande gekommen sein und das Zitiergebot nach Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG einhalten. Dass diese Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen eingehalten wurden, wird im Folgenden unterstellt. 3.2. Grundrechtseingriff Durch die Beherbergungsverbote wird sowohl in die Grundrechte der Einwohner eines betroffenen Landkreises als auch in die Grundrechte der Betreiber von Beherbergungsbetrieben eingegriffen . 3.2.1. Einwohner eines betroffenen Landkreises Die Beherbergungsverbote richten sich unmittelbar nur an die Betreiber von Beherbergungsbetrieben . Allerdings hat dieses Verbot zur Folge, dass die Einwohner eines betroffenen Landkreises keine Unterkunft in den Beherbergungen erhalten können, sodass das Verbot sich mittelbar auch auf ihre Freiheit auswirkt.10 Bei den Einwohnern ist der Schutzbereich des Grundrechts auf allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG eröffnet.11 Die allgemeine Handlungsfreiheit ist im Verhältnis zu den anderen Grundrechten als „Auffangrecht“12 konzipiert. Sie schützt „jede Form menschlichen Handelns ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht der Betätigung für die Persönlichkeitsentfaltung zukommt“.13 Da hiernach Betätigungen jeder Art und Güte geschützt werden, genießen auch einfache Tätigkeiten und alltägliche Verhaltensweisen Grundrechtsschutz nach Art. 2 Abs. 1 GG.14 Die Freiheit, sich eine Beherbergung zu suchen und dort zu übernachten, fällt somit in diesen Schutzbereich. Das Grundrecht des Art. 11 Abs. 1 GG, das die Freizügigkeit aller Deutschen im Bundesgebiet schützt, ist durch ein Beherbergungsverbot hingegen nicht betroffen. Denn nicht jede allgemeine Fortbewegung oder jeder allgemeine Aufenthalt stellt eine für die Freizügigkeit relevante Betätigung dar.15 Erforderlich ist für den Schutz nach Art. 11 Abs. 1 GG vielmehr ein Ortswechsel von 9 Vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23.4.2020, 11 S 25/20, BeckRS 2020, 6642 Rn. 9; OVG Berlin- Brandenburg, Beschluss vom 5.5.2020, 11 S 38/20, BeckRS 2020, 7533 Rn. 24. 10 Vgl. zu einem ähnlich gelagerten Fall OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 5.5.2020, 11 S 38.20, BeckRS 2020, 7533 Rn. 10. 11 So auch OVG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 23.4.2020, 11 S 25/20, BeckRS 2020, 6642 Rn. 20. 12 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, 89. EL Oktober 2019, Art. 2 Abs. 1 Rn. 15. 13 BVerfGE 80, 137 (152). 14 Dreier, in: derselbe, GG, 3. Aufl. 2013, Art. 2 Abs. 1 Rn. 26. 15 Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 11 Rn. 13. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 167/20 Seite 7 einiger Bedeutung und Dauer16 „im Sinne einer Verlagerung des alltäglichen Lebensschwerpunkts “17. Die Beherbergungsverbote gelten nur für Aufenthalte in Beherbergungsbetrieben in den jeweiligen Bundesländern. Die Verlagerung des Lebensschwerpunktes bleibt den Einwohnern der betroffenen Landkreise unbenommen. 3.2.2. Betreiber von Beherbergungsbetrieben Die Freiheit der Betreiber von Beherbergungsbetrieben, sich die eigenen Gäste unabhängig von deren Wohn- oder Aufenthaltsort auszusuchen, fällt in den Schutzbereich des Grundrechts der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG.18 Der Schutzbereich der Berufsfreiheit umfasst nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „jede auf Erwerb gerichtete Tätigkeit […], die auf gewisse Dauer angelegt ist und der Schaffung und Aufrechterhaltung einer Lebensgrundlage dient“.19 Dies ist bei dem privatwirtschaftlichen Betrieb von Beherbergungsstätten gegeben. Ein Verbot der Beherbergung bestimmter Gäste stellt einen Eingriff in die Art und Weise der Berufsausübung in Form einer Berufsausübungsregelung dar. Für diese Art des Eingriffs in die Berufsfreiheit gelten im Vergleich zu Berufszulassungsregelungen geringere Anforderungen.20 3.3. Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs Ein Eingriff in Grundrechte muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Dies setzt voraus, dass der Eingriff ein legitimes Ziel in geeigneter, erforderlicher und angemessener Weise verfolgt.21 Zu bedenken ist dabei, dass eine Änderung der ursprünglichen Sachlage, die zum Erlass eines Gesetzes oder einer Verordnung geführt hat, dazu führen kann, dass die staatliche Maßnahme nicht länger verhältnismäßig ist. Insbesondere bei Prognoseentscheidungen besteht daher eine Pflicht des Gesetz- bzw. Verordnungsgebers, die Sachlage zu beobachten und die erlassenen Normen ggf. anzupassen.22 Zu beachten ist des Weiteren, dass gerichtliche Entscheidungen zur Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme in Bezug auf die Bekämpfung der Corona-Pandemie in hohem Maße einzelfallabhängig sind und insbesondere nur den zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Stand in Bezug auf die 16 Pagenkopf, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 11 Rn. 16. 17 OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23.3.2020, 11 S 12/20, BeckRS 2020, 4408 Rn. 4. 18 Vgl. bereits OVG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 23.4.2020, 11 S 25/20, BeckRS 2020, 6642 Rn. 18. 19 BVerfGE 102, 197 (212). 20 Vgl. Ruffert, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, 43. Edition Stand: 15.5.2020, Art. 12 Rn. 94 ff. 21 Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 314. 22 Siehe dazu den Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Einschätzungsspielraum , Begründungspflicht und Beobachtungspflicht bei grundrechtsbeschränkenden Maßnahmen, WD 3 - 3000 - 096/20, S. 5 f., abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource /blob/701834/3ded447af97bd019d6ca2f80c4a50899/WD-3-096-20-pdf-data.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 167/20 Seite 8 Infektionslage abbilden können.23 Entsprechende Entscheidungen sind daher in ihren Aussagen nur verallgemeinerbar, soweit es um Grundsatzfragen geht. 3.3.1. Legitimes Ziel Zweck der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie sind der Schutz der Gesundheit und des Lebens der Bevölkerung sowie eine Verhinderung der Überlastung des Gesundheitssystems . Dies sind legitime Ziele für Grundrechtseingriffe.24 3.3.2. Geeignetheit Die Geeignetheit der Maßnahme zur Zweckerreichung bestimmt sich danach, ob die Maßnahme zur Herbeiführung des gewünschten Erfolges zumindest förderlich ist.25 Bei der Beurteilung der Geeignetheit staatlicher Maßnahmen besteht ein Einschätzungsspielraum des Normgebers.26 Das Corona-Virus überträgt sich vor allem durch soziale Kontakte. Nach derzeitigem Erkenntnisstand wird davon ausgegangen, dass sich ein beträchtlicher Anteil von Personen mit dem Virus infiziert , bevor die übertragende Person Symptome der Krankheit zeigt.27 Zur Verringerung des Infektionsrisikos wird die schnelle Isolierung von positiv Getesteten, die Identifikation und frühzeitige Quarantäne enger Kontaktpersonen und insbesondere auch das Abstandhalten zu anderen Personen sowie das Einhalten von Hygieneregeln als wirksam empfohlen. In Bezug auf die Infektionsgefahr durch Reisen hat das OVG Berlin-Brandenburg ausgeführt: „Touristische Reisen führen zu einer vorübergehenden Veränderung des potentiellen Kontaktumfeldes . Sie bergen zumindest abstrakt die Gefahr, eine (noch) asymptomatisch verlaufende Infektion an einen anderen Ort zu tragen und das Virus dort weiter zu verbreiten.“28 Bei Reisenden aus einem Gebiet mit hohen Infektionszahlen besteht eine erhöhte Gefahr, eine unbemerkte Erkrankung zu verbreiten. Daher kann ein Verbot der Beherbergung zum einen die Zahl der Neuinfektionen im Umfeld des Beherbergungsbetriebs reduzieren, zum anderen kann es Personen davon abhalten , überhaupt in das jeweilige Bundesland einzureisen, in dem das Beherbergungsverbot gilt, 23 So hatte etwa das OVG Münster nur eine Woche vor der gerade genannten Entscheidung, mit der die „Lockdown “-Maßnahmen im Landkreis Gütersloh außer Vollzug gesetzt wurden, diese Maßnahmen aufgrund der Infektionslage noch bestätigt, siehe OVG Münster, Beschluss vom 29.6.2020, 13 B 911/20.NE, BeckRS 2020, 14032. 24 Vgl. etwa BVerfG, NVwZ 2020, 1040 (1041); OVG Münster, Beschluss vom 15.4.2020, 13 B 440/20.NE, BeckRS 2020, 5957, Rn. 53. 25 Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 314. 26 Vgl. die Ausführungen bei Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 316. 27 Vgl. RKI, SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), Nr. 2.: Übertragung durch asympto-matische/präsymptomatische und symptomatische Infizierte, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html#doc13776792bodyText2, siehe dort auch zum Folgenden. 28 OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23.4.2020, 11 S 25/20, BeckRS 2020, 6642 Rn. 15. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 167/20 Seite 9 wodurch weitere Infektionen vermieden werden können. Die Beherbergungsverbote sind daher geeignet, dem Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung und der Verhinderung der Überlastung des Gesundheitssystems zu dienen. 3.3.3. Erforderlichkeit Eine Maßnahme ist erforderlich, wenn kein weniger belastendes Mittel zur Verfügung steht, dass dem Zweck der Maßnahme in gleicher Weise dient.29 Auch bei dieser Frage steht dem Gesetz - bzw. Verordnungsgeber ein Einschätzungsspielraum zu.30 Die bisherige Rechtsprechung hat in einer früheren Phase der Corona-Pandemie auch allgemein geltende Beherbergungsverbote für Touristen, ohne Begrenzung auf Landkreise mit erhöhten Infektionszahlen, als erforderlich angesehen .31 Der Grundrechtseingriff durch lokal begrenzte Beherbergungsverbote ist demgegenüber weitaus geringer. Wie oben ausgeführt, lässt sich diese Rechtsprechung aber nicht ohne Weiteres auf andere Fälle übertragen. Für die Prüfung der Erforderlichkeit einer Maßnahme sind sämtliche Umstände des Einzelfalles von Bedeutung. Folgende allgemeine Überlegungen lassen sich anstellen: Das Robert Koch-Institut schätzt die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland durch das Coronavirus derzeit (Stand: 17.8.2020) weiterhin insgesamt als hoch, für Risikogruppen als sehr hoch ein.32 Bei der Bewertung der Erforderlichkeit von Infektionsschutzmaßnahmen gegen Corona hielt die Rechtsprechung in ähnlich gelagerten Verfahren mit Blick auf die Erforderlichkeit für bedeutsam, dass das Virus nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen hoch infektiös sei und vor allem bei älteren Menschen mit Vorerkrankungen eine hohe Sterberate verursache . Darüber hinaus sei ein Impfstoff oder die Möglichkeit der direkten medizinischen Behandlung bislang nicht gegeben. Andere Methoden als die Vermeidung von körperlicher Nähe und Kontaktmöglichkeiten zwischen Menschen sowie die Einhaltung bestimmter Hygieneregeln stünden derzeit nicht zu Verfügung.33 Da bereits vor Ausbruch der Symptome eine Ansteckung anderer Personen erfolgen kann, ist zu Beginn eines lokalen Anstiegs der Infektionszahlen nicht verlässlich festzustellen, ob es sich um ein begrenztes oder sehr weitreichendes Infektionsgeschehen handelt. Bei Einwohnern besonders 29 Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 314. 30 Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 316; siehe in Bezug auf Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie beispielsweise OVG Greifswald, Beschluss vom 8.4.2020, 2 KM 236/20, BeckRS 2020, 5637 Rn. 24. 31 OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23.4.2020, 11 S 25/20, BeckRS 2020, 6642 Rn. 16 ff.; OVG Berlin- Brandenburg, Beschluss vom 5.5.2020, 11 S 38.20, BeckRS 2020, 7533 Rn. 26 ff. 32 RKI, Risikobewertung zu COVID-19, Risikobewertung, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/Inf AZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html. 33 Siehe zum Ganzen etwa OVG Greifswald, Beschluss vom 8.4.2020, 2 KM 236/20, BeckRS 2020, 5637 Rn. 24; OVG Greifswald, Beschluss vom 9.4.2020, 2 KM 267/20, BeckRS 2020, 5675 Rn. 14. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 167/20 Seite 10 betroffener Landkreise ist nicht auszuschließen, dass eine größere Zahl von Personen bereits unentdeckt infiziert ist und andere infizieren kann.34 Dies ist insbesondere deshalb der Fall, weil für die Betroffenen vor Symptombeginn kein Anlass für eine ärztliche Untersuchung besteht. Durch eine Reise von Personen aus betroffenen Landkreisen in andere Bundesländer besteht daher die Gefahr, das Coronavirus zu verbreiten. Ein lokal begrenztes Beherbergungsverbot, das im Falle eines negativen Testergebnisses nicht zum Tragen kommt, dürfte folglich grundsätzlich erforderlich sein, um die Verbreitung eines neu aufgetretenen Infektionsgeschehens zu verhindern. Ein Beherbergungsverbot für Einwohner eines gesamten Landkreises könnte allerdings aufgrund eines regional unterschiedlichen Verlaufes des Infektionsgeschehens innerhalb des Landkreises seine Erforderlichkeit mit der Zeit verlieren. In einem solchen Fall könnten dann Beherbergungsverbote für Einwohner nur einzelner Teile des Landkreises als milderes Mittel gleich wirksam sein.35 Zum Teil wird die Erforderlichkeit eines gegenüber allen Einwohnern eines betroffenen Landkreises ausgesprochenen Beherbergungsverbotes auch generell bezweifelt. So hat der VGH München vor kurzem das Beherbergungsverbot der Bayerischen Corona-Verordnung im Eilverfahren vorläufig aufgehoben.36 Es bestünden „Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Regelung des § 14 Abs. 2 Satz 1 6. BayIfSMV, als das Beherbergungsverbot allein an der sog. 7-Tages-Inzidenz von SARS-CoV-2-Neuinfektionen, bezogen auf 100.000 Einwohner und Landkreis bzw. kreisfreie Stadt, anknüpft. Die statistische Größe der auf Kreisebene ermittelten 7-Tages-Inzidenz gibt zwar – vermittelt über die Zahl der Neuinfektionen – Aufschluss über die Dynamik des jeweiligen Infektionsgeschehens und damit auch über den Anteil möglicherweise ansteckender Personen. Dennoch erscheint fraglich, ob sich allein aus der Überschreitung einer 7-Tages-Inzidenz von 50 pro 100.000 Einwohnern die Erforderlichkeit eines Verbots der Beherbergung von Gästen aus diesen Landkreisen und kreisfreien Städten ergeben kann. Wie bereits aus dem Beschluss der Bund-Länder -Konferenz vom 6. Mai 2020 – in der sich Bund und Länder auf das Kriterium der 7-Tages- Inzidenz und den maßgeblichen Schwellenwert verständigt haben – hervorgeht [...], kann das Infektionsgeschehen auf Kreisebene nicht nur regional verteilt, sondern auch lokalisiert und klar eingrenzbar – etwa in einem Betrieb, einer Einrichtung oder einer Wohneinheit – verlaufen . [...] Eine entsprechend detaillierte Erkenntnislage vorausgesetzt, erlaubt ein solches lokales Ausbruchsgeschehen gezielte, räumlich beschränkte Eindämmungsmaßnahmen, die das gesamte Kreisgebiet weder betreffen müssen noch – aus Gründen der Verhältnismäßigkeit – dürfen.“37 Für den Fall, dass der Verordnungsgeber an den bisherigen Schwellenwerten (mehr als 50 Infektionen pro 100.000 Einwohner in den letzten sieben Tagen vor der Anreise) festhalten wolle, sei eine zusätzliche Feststellung im Einzelfall „über die Wahrscheinlichkeit einer flächendeckenden 34 Vgl. insoweit auch OVG Greifswald, Beschluss vom 8.4.2020, 2 KM 236/20, BeckRS 2020, 5637 Rn. 28. 35 Vgl. zum „Lockdown“ im Kreis Gütersloh OVG Münster, Beschluss vom 6.7.2020, 13 B 940/20.NE, BeckRS 2020, 14802 Rn. 15 ff., 18. 36 VGH München, Beschluss vom 28.7.2020, 20 NE 20.1609, BeckRS 2020, 17622. 37 VGH München, Beschluss vom 28.7.2020, 20 NE 20.1609, BeckRS 2020, 17622, Rn. 45. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 167/20 Seite 11 Ausbreitung des jeweiligen Infektionsgeschehens erforderlich, um die Verhältnismäßigkeit des Aufnahmeverbots zu wahren“.38 3.3.4. Angemessenheit Die Angemessenheit einer Maßnahme ist gewahrt, wenn der Grundrechtseingriff nicht außer Verhältnis zum verfolgten Zweck steht.39 Es ist somit zu prüfen, ob die Schwere des Eingriffs, d.h. der Nachteil für die Betroffenen, noch in einem angemessenen Verhältnis zu dem Gewicht und der Dringlichkeit der durch die Maßnahme geförderten Gemeinwohlbelange steht.40 Dabei ist neben der Wertigkeit der jeweiligen Rechte, Rechtsgüter oder sonstigen Belange auch der Grad ihrer Beeinträchtigung zu berücksichtigen. Auch diese Frage lässt sich nur unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände des Einzelfalles beantworten. Allgemein lässt sich Folgendes ausführen: Den Staat trifft eine Schutzpflicht für Leben und Gesundheit der Bevölkerung, welche sich auch in dem Anspruch auf Schutz vor Infektionskrankheiten konkretisiert.41 Durch die Beherbergungsverbote beabsichtigen die Verordnungsgeber, diese Schutzpflicht für Leben und Gesundheit zu erfüllen, und damit zwei der höchsten Rechtsgüter42 zu schützen. Der Schutz dieser Rechtsgüter dürfte grundsätzlich auch empfindliche Grundrechtseingriffe rechtfertigen. Den durch die Beherbergungsverbote betroffenen Grundrechten, namentlich der allgemeinen Handlungsfreiheit und der Berufsausübungsfreiheit, kommt dagegen objektiv nicht die gleiche überragende Wertigkeit zu. Die zum Gesundheits- und Lebensschutz erfolgenden Grundrechtseingriffe sind zudem im Verhältnis nicht übermäßig schwerwiegend.43 Den Einwohnern der betroffenen Landkreise bleibt es bei einem Beherbergungsverbot – anders als bei einem „Lockdown“ ihres Landkreises oder einem Ausreise- bzw. Einreiseverbot – unbenommen, Orte außerhalb ihres Landkreises aufzusuchen. Ihre Freiheit wird im Wesentlichen nur in Bezug auf ihre Urlaubsgestaltung beschnitten. Die Betreiber der Beherbergungsbetriebe können ihre berufliche Tätigkeit zudem zum jetzigen Zeitpunkt im Wesentlichen fortführen wie bisher. Da sich das Beherbergungsverbot nur auf Einwohner bestimmbarer einzelner Landkreise und damit auf eine überschaubare Anzahl an potentiellen Gästen bezieht, ist die Berufsausübung nur in begrenztem Maße betroffen. Dies könnte sich ändern , wenn es zu zahlreichen weiteren Infektionsherden kommt und daher eine wachsende Zahl von Landkreisen von den Verboten umfasst wäre. Da mit der Zahl der Infektionsherde allerdings 38 VGH München, Beschluss vom 28.7.2020, 20 NE 20.1609, BeckRS 2020, 17622, Rn. 45. 39 BVerfGE 50, 217 (227); 80, 103 (107); 99, 202 (212 f.). 40 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, 90. EL Februar 2020, Art. 20 VII, Rn. 117-120. 41 OVG Greifswald, Beschluss vom 8.4.2020, 2 KM 236/20, BeckRS 2020, 5637 Rn. 29. 42 BVerfGE 39, 1 (42): „Das menschliche Leben stellt, wie nicht näher begründet werden muss, innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar; es ist die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte.“ 43 So auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23.4.2020, 11 S 25/20, BeckRS 2020, 6642 Rn. 20. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 167/20 Seite 12 gleichzeitig die Gefahr für Gesundheit und Leben der Bevölkerung wächst, dürften die Interessen der Beherbergungsbetriebe in diesem Fall weiter zurücktreten. Die Angemessenheit eines Grundrechtseingriffs kann sich auch daraus ergeben, dass Ausnahmeregelungen vorgesehen sind. In den einschlägigen Regelungen der Corona-Rechtsverordnungen ist die Möglichkeit vorgesehen, durch ärztliches Attest nachzuweisen, dass keine Anzeichen für eine Infektion mit dem Coronavirus bestehen.44 Wird dieser Nachweis geführt, so wird der Betreffende von dem Beherbergungsverbot nicht erfasst. Durch die Ausnahmeregelung wird der Eingriff auf die sachlich gerechtfertigten Fälle beschränkt. *** 44 Siehe dazu bereits Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Beherbergungsverbote für Reisende aus Risikogebieten innerhalb Deutschlands, WD 9 - 3000 - 57/20.