© 2019 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 167/19 Einzelfragen zur Beobachtung von Gewerkschaften durch Verfassungsschutzbehörden Nachfragen zur Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 143/19 Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 167/19 Seite 2 Einzelfragen zur Beobachtung von Gewerkschaften durch Verfassungsschutzbehörden Nachfragen zur Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 143/19 Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 167/19 Abschluss der Arbeit: 17. Juli 2019 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 167/19 Seite 3 1. Einleitung Der Sachstand befasst sich mit Nachfragen zur Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Beobachtung von Gewerkschaften durch Verfassungsschutzbehörden, WD 3 - 3000 - 143/19. Die Nachfragen betreffen die Voraussetzungen und Grenzen der Beobachtung . 2. Voraussetzungen der Beobachtung Die Voraussetzungen der Beobachtung durch Verfassungsschutzbehörden bestimmen sich nach der Generalklausel des § 8 Abs. 1 Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG). Das Bundesamt für Verfassungsschutz und die Verfassungsschutzbehörden der Länder dürfen demnach die zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen Informationen einschließlich personenbezogener Daten verarbeiten, soweit nicht die anzuwendenden Bestimmungen des Bundesdatenschutzgesetzes oder besondere Regelungen im BVerfSchG entgegenstehen. Ihre Aufgaben erfüllen die Verfassungsschutzbehörden , indem sie gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG Informationen über Bestrebungen , die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind, sammeln und auswerten. 2.1. Bestrebungen Unter Bestrebungen sind nach der gesetzlichen Definition des § 4 Abs. 1 BVerfSchG Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluss zu verstehen. Gemeint sind aktive Verhaltensweisen, die auf die Beseitigung oder Beeinträchtigung von Grundwerten der freiheitlichen Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland oder eines der sonstigen im BVerfSchG aufgezählten Schutzgüter gerichtet sind.1 Diese aktiven Verhaltensweisen müssen gemäß § 4 Abs. 1 S. 1 BVerfSchG politisch bestimmt sowie ziel- und zweckgerichtet sein. Über das bloße Vorhandensein bestimmter Vorstellungen und Meinungen hinaus ist eine gewisse Zielstrebigkeit hinsichtlich der Verwirklichung des verfassungsfeindlichen Ziels erforderlich. Die Handelnden müssen auf den Erfolg der Rechtsgüterbeeinträchtigung hinarbeiten.2 2.2. Gewerkschaften als Beobachtungsobjekte Ein Personenzusammenschluss nach § 4 Abs. 1 BVerfSchG ist jede Personenmehrheit, unabhängig von ihrer Rechtsform, in der eine Mehrheit von Personen einen gemeinsamen Zweck verfolgt.3 Vereinigungen gemäß Art. 9 Abs. 1 GG sind stets Personenzusammenschlüsse, denn auch sie setzen eine Personenmehrheit voraus, die für längere Zeit einen gemeinsamen Zweck verfolgt. Der Begriff der Personenmehrheit ist überdies umfassender als der der Vereinigung, denn er setzt keine organisierte Willensbildung voraus. Im Ergebnis sind daher auch Gewerkschaften Personenzusammenschlüsse i.S.d. § 4 Abs. 1 BVerfSchG. Die Tätigkeit einer Gewerkschaft kann damit auch 1 BT-Drs. 11/4306, S. 60. 2 BVerwG, Urteil vom 21.7.2010 – 6 C 22/09 –, juris Rn. 59 f. 3 OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23.11.2011 – 1 B 111.10 –, juris Rn. 46; VG Düsseldorf, Urteil vom 15.2.2011 – 22 K 404/09 –, juris Rn. 180 f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 167/19 Seite 4 Gegenstand einer Sammlung und Auswertung von Informationen durch die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder sein. 2.3. „in einem oder für einen Personenzusammenschluss“ § 4 Abs. 1 BVerfSchG setzt Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluss voraus. Verhaltensweisen in einem Zusammenschluss können nur solche von dessen Mitgliedern sein.4 Daneben können auch Personen, die nicht Mitglied eines Personenzusammenschlusses sind, für diesen handeln.5 Bei der Beobachtung eines Nichtmitglieds gelten indes strengere Voraussetzungen als bei der Beobachtung von Mitgliedern eines Personenzusammenschlusses. Das Handeln eines Nichtmitglieds für einen Personenzusammenschluss setzt gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 BVerfSchG voraus, dass der Außenstehende den Zusammenschluss nachdrücklich unterstützt, etwa durch Werbemaßnahmen oder finanzielle Zuwendungen.6 3. Grenzen der Beobachtung 3.1. Einzelne Gruppierungen innerhalb von Personenzusammenschlüssen Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen eines Personenzusammenschlusses können auch dann bestehen, wenn diese nur bei einzelnen Gruppierungen innerhalb des Zusammenschlusses vorliegen.7 „Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Gruppierungen innerhalb des Personenzusammenschlusses etwa nach Satzung, Beschlusslage, Delegiertenschlüssel, personeller Vertretung in den Organen, Finanzierung, Zahl der Mitglieder, Möglichkeit tatsächlicher Einflussnahme in den Gremien einen Einfluss von nennenswertem Gewicht haben [...]. Gerade die innere Zerrissenheit und Flügelkämpfe innerhalb eines Personenzusammenschlusses können eine Beobachtung durch die Verfassungsschutzbehörden erfordern, da nur so festzustellen ist, in welche Richtung sich dieser letztlich bewegt, und weil nur so Regierung, Parlament und Öffentlichkeit über den Fortgang der weiteren, noch nicht abgeschlossenen Entwicklung sachkundig und angemessen unterrichtet werden können.“8 Nicht ausreichend für eine Beobachtung sind hingegen vereinzelte verfassungsfeindliche „Entgleisungen“ von Funktionsträgern, Mitgliedern oder Anhängern.9 Die Bewertung von Bestrebungen als verfassungsfeindlich erfordert eine Gesamtschau aller vorhandenen Tatsachen. In diese sind auch Anhaltspunkte in Bezug auf andere Personenzusammenschlüsse einzubeziehen, mit denen sich der betroffene Personenzusammenschluss identifiziert 4 Roth, in: Schenke/Graulich/Ruthig (Hrsg.), Sicherheitsrecht des Bundes, 2. Aufl. 2019, § 4 BVerfSchG Rn. 30. 5 Roth, in: Schenke/Graulich/Ruthig (Hrsg.), Sicherheitsrecht des Bundes, 2. Aufl. 2019, § 4 BVerfSchG Rn. 31. 6 Roth, in: Schenke/Graulich/Ruthig (Hrsg.), Sicherheitsrecht des Bundes, 2. Aufl. 2019, § 4 BVerfSchG Rn. 32 ff.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 15.3.2005 – 1 C 26/03 –, juris Rn. 24 ff. 7 Roth, in: Schenke/Graulich/Ruthig (Hrsg.), Sicherheitsrecht des Bundes, 2. Aufl. 2019, § 4 BVerfSchG Rn. 114. 8 Roth, in: Schenke/Graulich/Ruthig (Hrsg.), Sicherheitsrecht des Bundes, 2. Aufl. 2019, § 4 BVerfSchG Rn. 114 m.w.N. (Hervorhebungen nicht im Original). 9 BVerwG NJW 2002, 980 (982); OVG Berlin-Brandenburg NVwZ 2006, 838 (842). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 167/19 Seite 5 oder mit denen er sympathisiert.10 Insbesondere gilt dies für Über- oder Untergliederungen (Bundes-, Landes-, Kreis- oder Ortsverbände) mit teilidentischem Mitgliederkreis sowie für Nebengliederungen wie etwa andere Landes- und Ortsverbände, die Teil eines Bundesverbands sind.11 Eine förmliche satzungsmäßige Zusammengehörigkeit ist hingegen nicht erforderlich. Vielmehr genügt eine faktische Verbindung.12 3.2. Beobachtung von Einzelpersonen Neben Personenzusammenschlüssen können auch Einzelpersonen Beobachtungsobjekte der Verfassungsschutzbehörden sein. Verhaltensweisen von Einzelpersonen, die nicht in einem oder für einen Personenzusammenschluss handeln, können nach § 4 Abs. 1 S. 4 BVerfSchG Gegenstand einer Beobachtung sein, wenn sie auf die Anwendung von Gewalt gerichtet sind oder aufgrund ihrer Wirkungsweise geeignet sind, eines der Schutzgüter des BVerfSchG erheblich zu beschädigen. Neben dem Sonderfall des § 4 Abs. 1 S. 4 BVerfSchG kommen Einzelpersonen als selbstständige Beobachtungsobjekte auch dann in Betracht, wenn sie in einem oder für einen Personenzusammenschluss handeln.13 Das ergebe sich aus der Erwägung, dass die originäre Aufgabe der Verfassungsschutzbehörden nicht die bloße Beobachtung von Personenzusammenschlüssen sei. Sie bestehe vielmehr in der Sammlung von Informationen, Nachrichten und Unterlagen über die in § 3 Abs. 1 und § 4 Abs. 1 BVerfSchG aufgezählten Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluss . Daher könne auch jede Einzelperson zum selbstständigen Objekt einer Beobachtung werden, wenn bei ihr Anhaltspunkte für diese Verhaltensweisen in Bezug auf einen Personenzusammenschluss vorlägen. *** 10 OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23.11.2011 – 1 B 111.10 –, juris Rn. 46. 11 Roth, in: Schenke/Graulich/Ruthig (Hrsg.), Sicherheitsrecht des Bundes, 2. Aufl. 2019, § 4 BVerfSchG Rn. 107 m.w.N. 12 Roth, in: Schenke/Graulich/Ruthig (Hrsg.), Sicherheitsrecht des Bundes, 2. Aufl. 2019, § 4 BVerfSchG Rn. 107; VG Hamburg, Urteil vom 13.12.2007 – 8 K 3483/06 –, juris Rn. 42. 13 Roth, in: Schenke/Graulich/Ruthig (Hrsg.), Sicherheitsrecht des Bundes, 2. Aufl. 2019, § 4 BVerfSchG Rn. 94 ff., dort auch zum Folgenden.