© 2016 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 162/16 Bedeutung der Europäischen Konvention für Menschenrechte und der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für die deutsche Gesetzgebung Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. 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Fragestellung Es ist die Frage aufgeworfen worden, welche Rolle die Europäische Konvention für Menschenrechte (EMRK) und die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) für die deutsche Gesetzgebung spielen. 2. Erläuterungen 2.1. Bedeutung und Rang der EMRK und der Entscheidungen des EGMR in der deutschen Rechtsordnung Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt der EMRK als völkerrechtlichem Vertrag lediglich der Rang eines einfachen Gesetzes zu. Sie steht damit im Rang unter dem Grundgesetz. Völkerrechtliche Verträge würden nach Maßgabe des Art. 59 Abs. 2 GG durch ein Zustimmungsgesetz des deutschen Gesetzgebers in die deutsche Rechtsordnung inkorporiert und könnten daher keinen höheren Rang als das (einfache) zustimmende Gesetz haben. Zwar sehe Art. 25 GG einen Vorrang der allgemeinen Regeln des Völkerrechts vor, dazu gehörten aber die Bestimmungen in völkerrechtlichen Verträgen nicht.1 Allerdings sind einige der Menschenrechte, die die EMRK enthält, mittlerweile als allgemeines Völkerrecht anerkannt, wobei die Einzelheiten teilweise stark umstritten sind. Dazu gehören z.B. das Genozid-, Sklaverei- und Folterverbot.2 Damit ändert sich zwar nicht der Rang der EMRK, aufgrund ihres Inhalts gehen diese besonderen Menschenrechte nach Art. 25 GG jedoch dem einfachen Recht vor. In seiner Görgülü-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht der EMRK jedoch – im Unterschied zu anderen völkerrechtlichen Verträgen – eine besondere Bedeutung zugemessen. Dies beruhe auf dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes. Danach ist die gesamte deutsche Rechtsordnung, einschließlich der Grundrechte, im Lichte der EMRK auszulegen , soweit dies mit dem Wortlaut des Grundgesetzes vereinbar ist.3 Die Regelungen der EMRK seien „Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes“. Daraus folge, dass „die entsprechenden Texte [der EMRK] und Judikate [des EGMR] zur Kenntnis genommen werden und in den Willensbildungsprozess des zu einer Entscheidung berufenen Gerichts, der zuständigen Behörde oder des Gesetzgebers einfließen“ müssen.4 1 Zuletzt: Beschluss vom 15. Dezember 2015 – Treaty Override, NJW 2016, 1295, 1297 (Erwägungsgrund 42) mit umfangreichen Nachweisen zur ständigen Rechtsprechung. 2 Siehe dazu ausführlicher Wollenschläger, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band 2, 3. Auflage 2015, Art. 25 Rdnr. 18 m.w.N. 3 BVerfGE 111, 307, 317 - Görgülü; ebenso aus der jüngsten Rechtsprechung BVerfGE 131, 286, 295 – Sicherungsverwahrung II. 4 BVerfGE 111, 307, 324 – Görgülü. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 162/16 Seite 4 2.2. Folgen dieser Einordnung der EMRK für die deutsche Gesetzgebung Aufgrund der Görgülü-Rechtsprechung ist der Gesetzgeber somit gehalten, die Vorschriften und Aussagen der EMRK bei der Entscheidung über den Inhalt neuer Gesetze zu berücksichtigen. Das Bundesverfassungsgericht hat an anderer Stelle außerdem ausgeführt, dass bei der Auslegung der Gesetze grundsätzlich nicht anzunehmen sei, dass der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar bekundet habe, von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen wolle.5 Vor dem Hintergrund dieser zweiten Aussage stellt sich die Frage, ob es dem Gesetzgeber verfassungsrechtlich gestattet ist, gewollt und unter klarer Bekundung seiner Intention, gesetzliche Regelungen zu schaffen, die im Widerspruch zu den Aussagen der EMRK stehen. Wie dargestellt, räumt das Bundesverfassungsgericht der EMRK denselben Rang ein wie einfaches Bunderecht. Für ranggleiches Bundesrecht gilt der Rechtsgrundsatz, dass ein jüngeres Gesetz, dessen Vorschriften mit einem älteren Gesetz in Widerspruch stehen, das ältere Gesetz insoweit verdrängt (lex posterior derogat legi priori). Die weiterführende Frage ist daher, ob dieser Rechtsgrundsatz auch im Verhältnis zu völkerrechtlichen Verträgen gilt. Das Bundesverfassungsgericht hat dies kürzlich bejaht.6 Auch der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes hindere den Gesetzgeber nicht daran, Reglungen völkerrechtlicher Verträge durch ein jüngeres Gesetz zu verdrängen („treaty override“).7 Diese Entscheidung zum treaty override bezieht sich allerdings auf einen bilateralen Vertrag zwischen der Türkei und Deutschland (Doppelbesteuerungsabkommen). Das Gericht geht in der Entscheidung nicht ausdrücklich darauf ein, ob dies auch für die EMRK gilt. Es erwähnt lediglich, dass die Veränderung oder Überschreibung der unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte nach Art. 1 Abs. 2 GG dem Gesetzgeber nicht gestattet ist.8 Wie dieser Hinweis genau zu verstehen ist, ist nicht eindeutig. Klar dürfte sein, dass der Gesetzgeber inhaltlich keine von diesen unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten nach Art. 1 Abs. 2 GG abweichenden Gesetze schaffen darf.9 Dies liegt aber an ihrem inhaltlichen (materiellen) Gehalt und nicht an ihrer Rechtsform als völkerrechtliche Vereinbarung. Außerhalb dieser unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte ist die treaty override- Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach hiesiger Auffassung so zu verstehen, dass der Gesetzgeber durch ein jüngeres Gesetz von den Regeln der EMRK abweichen darf. In der Praxis wird es allerdings im Einzelnen nicht leicht zu bestimmten sein, was noch zu den unverletzlichen 5 BVerfGE 74, 358, 370 – Unschuldsvermutung; zuletzt bestätigt im Beschluss vom 15. Dezember 2015 – Treaty Override, NJW 2016, 1295, 1298. 6 Beschluss vom 15. Dezember 2015 – Treaty Override, NJW 2016, 1295. 7 Beschluss vom 15. Dezember 2015 – Treaty Override, NJW 2016, 1295, 1299 f. 8 Beschluss vom 15. Dezember 2015 – Treaty Override, NJW 2016, 1295, 1296 und 1301. 9 Dies gilt im Übrigen auch für den verfassungsändernden Gesetzgeber (Art. 79 Abs. 3 GG). Der einfache Gesetzgeber kann zudem solche Menschenrechte, die den allgemeinen Regeln des Völkerrechts zugeordnet werden, nicht verändern , da diese im Rang über dem einfachen Recht stehen (Art. 25 GG); vgl. dazu oben S. 5 und den Nachweis in Fn. 2. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 162/16 Seite 5 und unveräußerlichen Menschenrechten gehört und daher der Dispositionsbefugnis des Gesetzgebers entzogen ist und was nicht.10 Ist eine solche Abgrenzung doch im Einzelfall möglich und erlässt der Gesetzgeber ein der EMRK widersprechendes Gesetz, sind die völkervertraglichen Folgen zu beachten, die sich daraus für die Bundesrepublik Deutschland ergeben.11 2.3. Folgen von Entscheidungen des EGMR für die deutsche Gesetzgebung Zur Bedeutung der Urteile des EGMR hat sich das Bundesverfassungsgericht in der Görgülü- Entscheidung ebenfalls geäußert. Danach hat der Gesetzgeber die Aussagen der EMRK in ihrer Interpretation durch den EGMR zu berücksichtigen.12 Das vom Gesetzgeber – vor allem auch als Auslegungshilfe der Grundrechte – zu beachtende Recht der EMRK ist somit dynamisch an die Rechtsprechung und die Auslegung der EMRK durch den EGMR anzupassen. Stellt der EGMR eine Verletzung der EMRK durch ein deutsches Gesetz fest, bedeutet dies jedoch nicht, dass das deutsche Gesetz damit unwirksam wäre.13 War die Bundesrepublik Deutschland Partei in dem Verfahren, in dem die Verletzung der EMRK festgestellt wurde, ist Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich verpflichtet, die festgestellte Konventionsverletzung abzustellen (Art. 46 Abs. 1 EMRK).14 Diese völkerrechtliche Verpflichtung erstreckt sich auf alle Träger hoheitlicher Gewalt und damit auch auf den Gesetzgeber.15 Daraus folgt nach dem Bundesverfassungsgericht aber „nur“, dass der Gesetzgeber die Regeln der EMRK und die Entscheidungen des EGMR zur Kenntnis nehmen und in seine Willensbildung einfließen lassen muss.16 Er ist nicht dazu verpflichtet , konventionswidrige Gesetze aufzuheben bzw. zu korrigieren.17 Das Bundesverfassungsgericht spricht insoweit ausdrücklich nur von der „Möglichkeit“ des Gesetzgebers, die mit der Konvention unvereinbare deutsche Vorschrift zu ändern.18 Ende der Bearbeitung 10 Im Ergebnis ähnlich: Payandeh, Grenzen der Völkerrechtsfreundlichkeit - Der Treaty Override-Beschluss des BVerfG, NJW 2016, 1279, 1282. 11 Siehe dazu ebenfalls den Beschluss vom 15. Dezember 2015 – Treaty Override, NJW 2016, 1295, 1299. 12 BVerfGE 111, 307, 324 – Görgülü. 13 Frau, Der Gesetzgeber zwischen Verfassungsrecht und völkerrechtlichem Vertrag, 2015, S. 59 f.; zur Frage, inwieweit die deutschen Gerichte die Entscheidung des EGMR berücksichtigen müssen vgl. BVerfGE 111, 307, 323 ff. – Görgülü. 14 Esser, Sicherungsverwahrung, JA 2011, 727, 731 m.w.N. 15 BVerfGE 111, 307, 323 – Görgülü. 16 BVerfGE 111, 307, 324 – Görgülü. 17 Vgl. Frau, Der Gesetzgeber zwischen Verfassungsrecht und völkerrechtlichem Vertrag, 2015, S. 59 f. 18 BVerfGE 111, 307, 325 – Görgülü.