© 2016 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 161/16 Überprüfbarkeit von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 161/16 Seite 2 Überprüfbarkeit von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 161/16 Abschluss der Arbeit: 17. Juni 2016 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 161/16 Seite 3 1. Fragestellung Gefragt wurde, inwieweit die Möglichkeit besteht, die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts – insbesondere auf europäischer Ebene – einer gerichtlichen Überprüfung unterziehen zu lassen. 2. Keine Überprüfung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts durch das Gericht selbst Nach allgemeiner Auffassung können die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht mittels eines Rechtsbehelfs vor dem Bundesverfassungsgericht selbst angegriffen werden. Andernfalls würden nicht endende Rechtsschutzverfahren drohen und es könnte kein Rechtsfrieden geschaffen werden.1 Darüber hinaus wird auch angeführt, dass es der Autorität des Bundesverfassungsgerichts – die zwingende Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit ist – schaden könnte, wenn auch seine Entscheidungen auf nationaler Ebene angegriffen, überprüft und aufgehoben werden könnten.2 Etwas anderes soll nur für die sog. Kammerbeschlüsse des Bundesverfassungsgerichts gelten. Dabei handelt es sich um Entscheidungen von kleineren Spruchkörpern des Gerichts, deren Aufgabe darin besteht, die Vorgaben der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in der alltäglichen Falllösung umzusetzen.3 Bei den Kammerbeschlüssen soll in Fällen groben prozessualen Unrechts eine Gegenvorstellung statthaft sein.4 3. Überprüfung auf europäischer Ebene Auf europäischer Ebene kommt für eine Überprüfung von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts insbesondere die Erhebung einer Individualbeschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Betracht, mit der eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) geltend gemacht werden kann.5 Die EMRK gewährleistet neben den klassischen Menschenrechten auch justizielle Grundrechte sowie ein Diskriminierungsverbot. Durch mehrere Zusatzprotokolle wurde der Kreis der geschützten Rechte im Laufe der Zeit erweitert. Gegenstand einer Individualbeschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kann jede staatliche Maßnahme oder Unterlassung eines Konventionsstaates sein, also auch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Mit anderen Worten kann grundsätzlich derjenige, 1 Vgl. Voßkuhle, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 6. Aufl. 2010, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a Rn. 175. 2 Hillgruber/Goss, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, § 3 Rn. 159; siehe auch BVerfGE 1, 89. 3 Siehe Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, § 6 Rn. 157 ff. 4 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Kommentar, Stand: 48. EL – Februar 2016 (Kommentierung: 42. EL – Oktober 2013), § 90 Rn. 243. 5 Siehe zum Folgenden Kleine-Cosack, Verfassungsbeschwerden und Menschenrechtsbeschwerde, 3. Aufl. 2013, passim. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 161/16 Seite 4 der mit seiner Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht unterlegen ist, Individualbeschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erheben und eine Verletzung der EMRK geltend machen. Zu betonen ist aber, dass ein Bürger, der sich gegen ein Handeln der Verwaltung wenden möchte, das auf einer bestimmten Rechtsauslegung des Bundesverfassungsgerichts basiert, nicht unmittelbar beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vorgehen kann. Der Betroffene muss vielmehr Rechtsschutz gegen das konkrete Verwaltungshandeln suchen und dabei gemäß des Subsidiaritätsprinzips die nationalen Rechtsschutzmöglichkeiten ausschöpfen. Im Unterschied zu Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts haben die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte lediglich feststellende, und keine kassatorische Wirkung.6 Das bedeutet, dass sofern der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein Urteil für unvereinbar mit der EMRK ansieht, er das Urteil selbst nicht aufheben, sondern lediglich die Unvereinbarkeit mit der EMRK feststellen kann. Die Bundesrepublik Deutschland ist aber verpflichtet , die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung zu berücksichtigen.7 Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass auch auf der Ebene des Rechts der Europäischen Union ein Grundrechtsschutz besteht, der sich im Kern aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, den Grundfreiheiten aus dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union sowie den richterrechtlich vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Unionsgrundrechten zusammensetzt .8 Allerdings stehen keine mit der Verfassungsbeschwerde oder der Individualbeschwerde vergleichbaren Rechtsbehelfe zur Verfügung, mittels derer der Betroffene die Möglichkeit hätte, sich unmittelbar an den Europäischen Gerichtshof zu wenden.9 4. Anpassung der Rechtslage durch den Gesetzgeber Ist die Auslegung des einfachen Rechts durch das Bundesverfassungsgericht Grund für den Wunsch nach einer weiteren gerichtlichen Überprüfung einer Entscheidung des Gerichts, so kann die Rechtslage nicht nur im Rahmen einer weiteren gerichtlichen Überprüfung, sondern auch durch ein entsprechendes Tätigwerden des Gesetzgebers angepasst werden. Dies gilt auch für Änderungen des Grundgesetzes, soweit der Gesetzgeber diese in den Grenzen der sog. Ewigkeitsgarantie aus Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz vornehmen kann. Ende der Bearbeitung 6 Kleine-Cosack, Verfassungsbeschwerden und Menschenrechtsbeschwerde, 3. Aufl. 2013, S. 373. 7 Siehe BVerfGE 111, 307 ff. 8 Siehe zur Frage der parallelen Anwendbarkeit des unionalen und des grundgesetzlichen Grundrechtsschutzes Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 10. Aufl. 2015, S. 276 ff. 9 Siehe Kleine-Cosack, Verfassungsbeschwerden und Menschenrechtsbeschwerde, 3. Aufl. 2013, S. 14.