© 2017 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 157/17 Fragen zum Wahlrecht von Geburt an Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Argumentation gegen die Vereinbarkeit mit Art. 79 Abs. 3 GG 9 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 157/17 Seite 4 1. Einleitung Die vorliegende Ausarbeitung gibt einen Überblick über die Diskussion bezüglich der Möglichkeit einer verfassungskonformen Ausgestaltung eines Wahlrechts ab Geburt. Dabei soll auch auf die Frage eingegangen werden, ob bei bestimmten Modellen des Wahlrechts ab Geburt den Wahlrechtsgrundsätzen umfassender Rechnung getragen wird, als bei anderen. 2. Überblick über die Modelle eines Wahlrechts ab Geburt Im Wesentlichen werden in der schon über vierzig Jahre andauernden Diskussion über die Möglichkeiten eines Wahlrechts ab Geburt drei Modelle genannt, wobei die Terminologie nicht einheitlich ist1: – Das Modell des originären Kinderwahlrechts sieht eine Streichung jeglicher unterer Altersgrenze vor. Jeder soll ab Rechtsfähigkeit wahlberechtigt sein. – Beim Modell des originären Elternwahlrechts erhalten die Eltern für jedes Kind zusätzliche Stimmen, die die Eltern als „Elternstimme“ nutzen. – Nach dem Modell des stellvertretenden Elternwahlrechts besitzt das Kind ein Wahlrecht, dieses wird aber bis zu einem bestimmten Zeitpunkt von den Eltern als Stellvertreter im Interesse und im Sinne des Kindes ausgeübt. 3. In der Fachliteratur nicht weiter diskutierte Modelle eines Wahlrechts ab Geburt Das Modell des originären Kinderwahlrechts mit Abschaffung jeglicher Altersgrenze für die Ausübung des Wahlrechts wird soweit ersichtlich in der rechtswissenschaftlichen Fachliteratur nicht ernsthaft diskutiert. Hintergrund hierfür dürften erhebliche praktische und rechtliche Bedenken sein. In praktischer Hinsicht wird gegen das Modell eingewandt, dass die Stimmen der wahlberechtigten Kinder weitgehend verloren seien, da sie rein faktisch oftmals nicht in der Lage seien, die Stimme abzugeben.2 In rechtlicher Hinsicht wird die völlige Abschaffung der Altersgrenze als nicht mit dem Grundgesetz vereinbar angesehen.3 Das Demokratieprinzip aus Art. 20 GG verlange als Voraussetzung für das Wahlrecht das Vorliegen einer gewissen Reife und Einsichtsfähigkeit . Dies sei aber bei einem Kinderwahlrecht ohne Altersgrenze nicht gewährleistet. 1 Siehe beispielsweise den Überblick bei Adrian, Grundsatzfragen zu Staat und Gesellschaft am Beispiel des Kinder -/Stellvertreterwahlrechts, 2016, S. 40 ff. 2 Siehe etwa Goerres/Tiemann, Kinder an die Macht? – Die politischen Konsequenzen des stellvertretenden Elternwahlrechts , PVS 2009, 50 (53); Adrian, Grundsatzfragen zu Staat und Gesellschaft am Beispiel des Kinder- /Stellvertreterwahlrechts, 2016, S. 42. 3 Rupprecht, Das Wahlrecht für Kinder, 2012, S. 154; siehe hierzu auch Wernsmann, Das demokratische Prinzip und der demographische Wandel, Der Staat 44 (2005), 43 (46 ff.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 157/17 Seite 5 Auch das Modell des originären Elternwahlrechts wird offenbar in der rechtswissenschaftlichen Literatur nicht weiter verfolgt.4 Zwar hat dieses Modell gegenüber dem Modell des stellvertretenden Elternwahlrechts den Vorteil, dass die Eltern nicht einen realen oder fiktiven Kindeswillen zu berücksichtigen haben und frei über die zusätzliche Stimme verfügen können. Dies vermeidet etwa Konfliktsituationen, wenn das Kind einerseits und die Eltern andererseits Anhänger von Parteien sind, die jeweils am anderen Ende der Parteienlandschaft zu verorten sind. Allerdings sehen selbst Anhänger der Idee eines Kinderwahlrechts das Modell des originären Elternwahlrechts als nicht vereinbar mit dem Wahlrechtsgrundsatz der Gleichheit der Wahl aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG an.5 Dieser Grundsatz fordere nicht nur, dass jede Stimme die gleiche rechtliche Erfolgschance für die Zusammensetzung des Parlaments haben müsse, sondern auch, dass jeder Wähler gleich viele Stimmen habe und dass jede abgegebene Stimme nur als eine Stimme zähle (Zählwertgleichheit).6 Das Bundesverfassungsgericht habe schon früh klargestellt, „daß es angesichts der in der demokratischen Grundordnung verankerten unbedingten Gleichheit aller Staatsbürger bei der Teilnahme an der Staatswillensbildung gar keine Wertungen geben kann, die es zulassen würden, beim Zählwert der Stimmen zu differenzieren“.7 Es bestehe damit in der Frage der Zählwertgleichheit für den Gesetzgeber ein absolutes Differenzierungsverbot.8 Nach geltender Verfassungsrechtslage könne also das Modell des originären Elternwahlrechts nicht eingeführt werden. Auch eine entsprechende Einschränkung der Wahlrechtsgleichheit im Wege der Grundgesetzänderung zur Ermöglichung eines originären Elternwahlrechts wird als unzulässig angesehen.9 Der hier betroffene Grundsatz der Gleichheit der Wahl sei nicht nur durch Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG abgesichert , sondern auch zum Demokratieprinzip aus Art. 20 Abs. 1 und 2 GG zu zählen. Es gehöre zum identitätsstiftenden Kern der grundgesetzlichen Demokratie, die Stimmen der Bürger bei der Stimmabgabe gleich zu gewichten. Damit gehöre die Zählwertgleichheit zum unabänderlichen Kern des Grundgesetzes nach Art. 79 Abs. 3 GG. Aufgrund der unstrittigen Unvereinbarkeit der Modelle des originären Kinder- bzw. Elternwahlrechts mit dem Demokratieprinzip sind diese beiden Modelle für die Frage, ob bei bestimmten 4 Schroeder, Familienwahlrecht und Grundgesetz, JZ 2003, 917 (918); Schreiber, Wahlrecht von Geburt an – Ende der Diskussion?, DVBl 2004, 1341 (1343). 5 Siehe etwa Rupprecht, Das Wahlrecht für Kinder, 2012, S. 168; Quintern, Das Familienwahlrecht, 2009, S. 197; Knödler, Wahlrecht für Minderjährige – eine gute Wahl?, ZParl 1996, 553 (569 f.). Siehe im Übrigen die Vielzahl an entsprechender Nachweise bei Müller-Franken, Familienwahlrecht und Verfassung, 2013, S. 47, sowie Achterberg /Schulte, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 6. Aufl. 2010, Art. 38 Abs. 2 Rn. 155. 6 Klein, in: Maunz/Dürig (Begr.), Grundgesetz, Kommentar, Stand der Kommentierung: 60. EL (Oktober 2010), Art. 38 Rn. 115 ff. 7 BVerfGE 1, 208 (247). 8 Mager/Uerpmann, Überhangmandate und Gleichheit der Wahl, DVBl 1995, 273 (276). 9 Siehe nur Wernsmann, Das demokratische Prinzip und der demographische Wandel, Der Staat 44 (2005), 43 (50 f.), und Müller-Franken, Familienwahlrecht und Verfassung, 2013, S. 50 ff., m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 157/17 Seite 6 Modellen des Wahlrechts ab Geburt den Wahlrechtsgrundsätzen umfassender Rechnung getragen wird, als bei anderen, nicht mehr zu berücksichtigen. Damit stellt sich diese Frage jedoch auch insgesamt nicht, da allein das Modell des stellvertretenden Elternwahlrechts als einzige Variante verbleibt, die für die Realisierung eines Wahlrechts ab Geburt ernsthaft diskutiert wird. 4. Verfassungsmäßigkeit eines stellvertretenden Elternwahlrechts Zu der Frage nach der Möglichkeit einer verfassungskonformen Ausgestaltung eines stellvertretenden Elternwahlrechts existiert eine umfassende rechtswissenschaftliche Literatur, deren Erkenntnisse im Folgenden überblicksartig zusammengefasst werden sollen.10 4.1. Erfordernis einer Grundgesetzänderung Im ersten Schritt ist zu klären, ob für die Einführung eines stellvertretenden Elternwahlrechts eine Änderung des Grundgesetzes erforderlich ist. Erörtert wird diese Frage in erster Linie in Bezug auf die Regelung zum Wahlalter in Art. 38 Abs. 2 GG, nach der wahlberechtigt ist, wer das 18. Lebensjahr vollendet hat. Bezieht man die Altersgrenze allein auf die Berechtigung zur Ausübung des Wahlrechts, so steht diese der Einführung eines stellvertretenden Elternwahlrechts nicht entgegen.11 Die ganz herrschende Meinung bezieht die Altersgrenze hingegen bereits auf die Innehabung des Wahlrechts und verweist dabei auf den Wortlaut des Art. 38 Abs. 2 GG, der auf die Wahlberechtigung abstelle und damit keinen Zweifel lasse, dass hier die Wahlrechtsträgerschaft und nicht die Wahlrechtsausübungsbefugnis gemeint sei.12 Festzuhalten ist, dass für die Einführung eines stellvertretenden Elternwahlrechts die Altersgrenze für die Innehabung des Wahlrechts auf Null gesetzt wird. Wegen der ausdrücklichen Festlegung des Wahlalters auf 18 Jahre in Art. 38 Abs. 2 GG wäre eine entsprechende Grundgesetzänderung erforderlich. 10 Zur Literatur bis 2002 siehe den Überblick bei Schreiber, Handbuch des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag, 7. Aufl. 2002, § 12 Rn. 10a – Fn. 30. Zur neueren Literatur siehe etwa die Nachweise bei Adrian, Grundsatzfragen zu Staat und Gesellschaft am Beispiel des Kinder-/Stellvertreterwahlrechts, 2016, S. 40 ff. 11 So Knödler, Wahlrecht für Minderjährige – eine gute Wahl?, ZParl 1996, 553 (563 f.), im Ergebnis wohl auch Richter, Familienwahlrecht, in: Althammer (Hrsg.), Familienpolitik und soziale Sicherung, FS Lampert, 2005, S. 101 (104). 12 Klein, Generationenkonflikt am Beispiel des Kinderwahlrechts, in: Pitschas/Uhle (Hrsg.), Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik, FS Scholz, 2007, S. 277 (282); Schroeder, Familienwahlrecht und Grundgesetz, JZ 2003, 917 (919); Rupprecht, Das Wahlrecht für Kinder, 2012, S. 57; Quintern, Das Familienwahlrecht, 2009, S. 123 ff.; Oebbecke, Das Wahlrecht von Geburt an, JZ 2004, 987 (988); Rolfsen, Eine Stimme für die Zukunft?, DÖV 2009, 348 (350); Müller-Franken, Familienwahlrecht und Verfassung, 2013, S. 55 f.; Wernsmann, Das demokratische Prinzip und der demographische Wandel, Der Staat 44 (2005), 43 (51); Butzer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, Stand: 33. Edition (Juni 2017), Art. 38 Rn. 82; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 3. Aufl. 2015, Art. 38 Rn. 129; Strohmeier, Familienwahlrecht reloaded: Ein nicht mehr ganz neuer Vorschlag erneut auf der Agenda – und dem Prüfstand, ZPol 2016, 3 (11 f.); Schreiber, Reformbedarf im Bundestagswahlrecht?, DVBl 1999, 345 (349). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 157/17 Seite 7 4.2. Streitstand zur Vereinbarkeit einer entsprechenden Grundgesetzänderung mit Art. 79 Abs. 3 GG In materieller Hinsicht sind verfassungsändernde Gesetze an der Schranke des Art. 79 Abs. 3 GG zu messen. Die sog. Ewigkeitsgarantie schließt die Änderung bestimmter Grundsätze des Grundgesetzes dauerhaft aus. Den geschützten Verfassungskern bilden die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung und die in den Artikeln 1 und 20 des Grundgesetzes niedergelegten Grundsätze. Zu den Grundsätzen des Art. 20 GG zählen insbesondere das Demokratieprinzip, das Rechtsstaatsprinzip und das Bundesstaatsprinzip. Gemäß Art. 79 Abs. 3 GG dürfen die genannten Grundsätze nicht „berührt“ werden.13 Eine solche „Berührung“ wird lediglich bei prinzipieller Preisgabe angenommen.14 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts werden die Grundsätze als solche von vornherein nicht berührt, wenn ihnen im Allgemeinen Rechnung getragen wird und sie nur für eine Sonderlage entsprechend deren Eigenart aus sachgerechten Gründen modifiziert werden.15 Im Hinblick auf den Ausnahmecharakter dieser Vorschrift und die durch sie hervorgerufene Beschränkung der Volkssouveränität wird allgemein eine enge Auslegung gefordert.16 Die Frage, ob eine verfassungsrechtliche Regelung eines stellvertretenden Elternwahlrechts mit der materiellen Schranke des Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar ist, wird in der rechtswissenschaftlichen Literatur streitig diskutiert. Dabei stellt sich insbesondere die Frage, inwieweit die Schaffung eines solchen Wahlrechts Grundsätze berührt, die über Art. 20 GG zum änderungsfesten Kern des Grundgesetzes gehören. Anknüpfungspunkt ist dabei das Demokratieprinzip aus Art. 20 Abs. 2 GG.17 4.2.1. Argumentation für die Vereinbarkeit mit Art. 79 Abs. 3 GG Einleitend ist festzustellen, dass die Literaturstimmen, die sich für ein stellvertretendes Elternwahlrecht aussprechen, sich zwar häufig ausführlich mit der Frage der Vereinbarkeit eines solchen Wahlrechts mit den Wahlrechtsgrundsätzen aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG befassen, die Frage der Vereinbarkeit mit Art. 79 Abs. 3 GG jedoch nicht oder häufig nur am Rande ansprechen.18 Die Vertreter eines stellvertretenden Elternwahlrechts argumentieren in erster Linie damit, dass schon kein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl gegeben sei, da die Eltern 13 Vertiefend hierzu Strohmeier, Familienwahlrecht reloaded: Ein nicht mehr ganz neuer Vorschlag erneut auf der Agenda – und dem Prüfstand, ZPol 2016, 3 (6 ff.). 14 Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Kommentar, 14. Aufl. 2016, Art. 79 Rn. 10. 15 BVerfGE 30, 1 (24). 16 Bryde, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 6. Aufl. 2012, Art. 79 Rn. 29. 17 Siehe nur Quintern, Das Familienwahlrecht, 2009, S. 186 ff. 18 Siehe etwa Peschel-Gutzeit, Für ein Wahlrecht von Geburt an, vorgänge 2004, 74 (77); Richter, Das Grundgesetz – Eine gute Verfassung für Familie, Kultur und Bildung?, 2009, S. 137 ff.; Adrian, Grundsatzfragen zu Staat und Gesellschaft am Beispiel des Kinder-/Stellvertreterwahlrechts, 2016, S. 48 ff., 106 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 157/17 Seite 8 keine zusätzlichen eigenen Stimmen pro Kind erhielten, sondern lediglich die Stimmen der Kinder treuhänderisch ausübten.19 Das stellvertretende Elternwahlrecht müsse nur so ausgestaltet sein, dass die Wahlentscheidung für das Kind von der eigenen Wahlentscheidung der Eltern unterschieden werde. Insoweit wird auch auf das besondere Verhältnis zwischen Eltern und Kind sowie die besondere Elternverantwortung aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG verwiesen.20 Wegen der treuhänderischen Ausübung durch die Eltern führe ein stellvertretendes Elternwahlrecht auch nicht zu einer unzulässigen Disposition des Wahlrechts.21 Mit der Übertragung der Wahlentscheidung der Kinder auf die Eltern würde außerdem das Erfordernis der Entscheidungsfähigkeit als unabdingbares Element des Demokratieverständnisses hinreichend gewahrt.22 Teilweise wird eine Beschränkung des Gleichheitsgrundsatzes durch ein stellvertretendes Elternwahlrecht eingeräumt.23 Im Ergebnis folge hieraus jedoch kein Verstoß gegen die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG. Zum einen wird argumentiert, dass diese Beschränkung nicht schwerer wiege als die Beschränkungen, die nach geltendem Recht mit der Altersgrenze aus Art. 38 Abs. 2 GG verbunden seien. Insoweit sei zu berücksichtigen, dass die Einbeziehung weiterer Bürger bei Wahlen doch gerade der Verwirklichung der Allgemeinheit der Wahl und damit dem Demokratieprinzip diene.24 Zum anderen wird insoweit angeführt, dass trotz der mit dem stellvertretenden Elternwahlrecht verbundenen Beschränkungen dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl im Allgemeinen Rechnung getragen würde und er lediglich in einer Einzelfrage modifiziert würde.25 In Bezug auf einen Grundsatz der Höchstpersönlichkeit der Wahl wird argumentiert, dass ein stellvertretendes Elternwahlrecht zwar möglicherweise einen solchen Grundsatz durchbreche, da die Einheit von Wahlrechtsinhaberschaft und Wahlrechtsausübung beseitigt werde. Jedoch sei ein Grundsatz der Höchstpersönlichkeit kein Element des Demokratieprinzips aus Art. 20 GG, so 19 Reimer, Nachhaltigkeit durch Wahlrecht? – Verfassungsrechtliche Möglichkeiten und Grenzen eines „Wahlrechts von Geburt an“, ZParl 2004, 322 (330 ff.); Nopper, Minderjährigenwahlrecht – Hirngespinst oder verfassungsrechtliches Gebot in einer grundlegend gewandelten Gesellschaft?, 1999, S. 162; Quintern, Das Familienwahlrecht , 2009, S. 217 ff. 20 Rolfsen, Eine Stimme für die Zukunft?, DÖV 2009, 348 (353 f.); Reimer, Nachhaltigkeit durch Wahlrecht? – Verfassungsrechtliche Möglichkeiten und Grenzen eines „Wahlrechts von Geburt an“, ZParl 2004, 322 (330 ff.); Quintern, Das Familienwahlrecht, 2009, S. 217 ff. 21 Quintern, Das Familienwahlrecht, 2009, S. 225. 22 Quintern, Das Familienwahlrecht, 2009, S. 216. 23 Adrian, Grundsatzfragen zu Staat und Gesellschaft am Beispiel des Kinder-/Stellvertreterwahlrechts, 2016, S. 121; Wernsmann, Das demokratische Prinzip und der demographische Wandel, Der Staat 44 (2005), 43 (54 ff.). 24 Siehe auch Knödler, Wahlrecht für Minderjährige – eine gute Wahl?, ZParl 1996, 553 (568 f.). 25 Wernsmann, Das demokratische Prinzip und der demographische Wandel, Der Staat 44 (2005), 43 (57). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 157/17 Seite 9 dass die Sperrklausel des Art. 79 Abs. 3 GG insoweit nicht greife.26 Andere leiten aus der Höchstpersönlichkeit kein Vertretungsverbot bei der Wahl ab bzw. sehen selbst bei Annahme eines solchen Vertretungsverbots insoweit ein Überwiegen der besseren Verwirklichung des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl durch Einbeziehung der Kinder.27 4.2.2. Argumentation gegen die Vereinbarkeit mit Art. 79 Abs. 3 GG Bereits die Grundlage des stellvertretenden Elternwahlrechts, die Einräumung eines Wahlrechts von Geburt an, stößt auf Kritik. Das Demokratieprinzip fordere ein bestimmtes Legitimationsniveau , das jedoch nicht gegeben sei, wenn Menschen wahlberechtigt seien, die sich gar nicht am politischen Prozess beteiligen könnten, ob sie wollten oder nicht.28 In erster Linie monieren die Stimmen aus der rechtswissenschaftlichen Literatur, die ein stellvertretendes Elternwahlrecht als unvereinbar mit Art. 79 Abs. 3 GG ansehen, jedoch einen mit diesem Wahlrechtsmodell verbundenen Verstoß gegen den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit. Durch die Vertretungsbefugnis würden den Eltern faktisch mehrere Stimmen an die Hand gegeben , so dass es sich beim stellvertretenden Elternwahlrecht um ein verkapptes Pluralwahlrecht handele.29 Die Vorstellung, dass das stellvertretende Elternwahlrecht so ausgestaltet werden könne, dass die Eltern die Wahlentscheidung für das unterstellte Kind von der eigenen Wahlentscheidung unterscheiden, das heißt prozedural und inhaltlich abschichten müssten, sei blauäugig und realitätsfremd.30 Das gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass das Recht der Eltern für ihre Kinder zu handeln, nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG stets dem Wächteramt des Staates unterliege , was hier jedoch wegen des Wahlgeheimnisses ausscheide.31 Folglich sei die Ausübung des 26 Rupprecht, Das Wahlrecht für Kinder, 2012, S. 186; Reimer, Nachhaltigkeit durch Wahlrecht? – Verfassungsrechtliche Möglichkeiten und Grenzen eines „Wahlrechts von Geburt an“, ZParl 2004, 322 (330 ff.). In diese Richtung auch Obbecke, Das Wahlrecht von Geburt an, JZ 2004, 987 (989), und Rolfsen, Eine Stimme für die Zukunft?, DÖV 2009, 348 (353). 27 Adrian, Grundsatzfragen zu Staat und Gesellschaft am Beispiel des Kinder-/Stellvertreterwahlrechts, 2016, S. 120. 28 Schroeder, Familienwahlrecht und Grundgesetz, JZ 2003, 917 (920 ff.); siehe auch Strohmeier, Familienwahlrecht reloaded: Ein nicht mehr ganz neuer Vorschlag erneut auf der Agenda – und dem Prüfstand, ZPol 2016, 3 (14). 29 Zypries, Wahlrecht für Kinder?, ZRP 2008, 271 (271); Badura, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand der Kommentierung: 161. EL (Mai 2013), Anh. z. Art. 38 Rn. 37; Sacksofsky, Wer darf eigentlich wählen?, in: Bäuerle/Dann/Wallrabenstein (Hrsg.), Demokratie – Perspektiven, FS Bryde, 2013, 313 (327 f.); Holste, Wahlrecht von Geburt an: Demokratie auf Abwegen?, DÖV 2005, 110 (111). Im Ergebnis auch Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 13. Aufl. 2014, Art. 38 Rn. 32, und Grzeszick, in: Maunz/Dürig (Begr.), Grundgesetz, Kommentar, Stand der Kommentierung: 57. EL (Januar 2010), Art. 20 Rn. 37. 30 Strohmeier, Familienwahlrecht reloaded: Ein nicht mehr ganz neuer Vorschlag erneut auf der Agenda – und dem Prüfstand, ZPol 2016, 3 (12 f.); Schreiber, Wahlrecht von Geburt an – Ende der Diskussion?, DVBl 2004, 1341 (1346 f.); ders. Bundeswahlgesetz, Kommentar, 9. Aufl. 2013, § 12 Rn. 10. 31 Klein, Generationenkonflikt am Beispiel des Kinderwahlrechts, in: Pitschas/Uhle (Hrsg.), Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik, FS Scholz, 2007, S. 277 (284 ff.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 157/17 Seite 10 Wahlrechts der Kinder durch die Eltern unkontrolliert und unkontrollierbar. Auch ließen sich im vorliegenden Fall Einschränkungen der Wahlrechtsgleichheit nicht durch eine verbesserte Verwirklichung der Allgemeinheit der Wahl rechtfertigen.32 Faktisch erhöhe sich nur die Zahl der abgegebenen Stimmen, nicht aber die Zahl der Wahlberechtigten. Das Modell des stellvertretenden Elternwahlrechts beruhe gerade auf der Vorstellung, dass die Kinder noch nicht die hinreichende Reife besitzen würden, um eine eigene Stimme abzugeben. Die Eltern handelten also nicht als Boten, sondern als Vertreter ihrer Kinder. Betroffen sei insoweit der Kern des Grundsatzes der Wahlrechtsgleichheit, der Bestandteil des Demokratieprinzips sei, das wiederum dem Schutz der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG unterliege. Insoweit wird auch auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verwiesen, nach der es keine Wertungen geben könne, die es zulassen würden, beim Zählwert der Stimmen zu differenzieren.33 Daneben wird ein stellvertretendes Elternwahlrecht auch als nicht vereinbar mit der Unmittelbarkeit bzw. der Höchstpersönlichkeit der Wahl angesehen.34 Dem Einwand, dass jedenfalls der Grundsatz der Unmittelbarkeit nicht unantastbar nach Art. 79 Abs. 3 GG sei, wird dabei entgegengehalten , dass die Höchstpersönlichkeit des Wahlrechts gleichwohl unabdingbar sei.35 Das Wahlrecht sei ein höchstpersönliches, nur von seinem Inhaber auszuübendes Recht, weil es ihn und nur ihn mit der Befugnis ausstatte, als selbst- und gerade nicht fremdbestimmtes Individuum an der staatlichen Willensbildung verantwortlich teilzuhaben. Die vergleichende Argumentation mit der geltenden Rechtslage – konkret mit der Briefwahl oder der Inanspruchnahme von Hilfspersonen bei der Wahl – wird nicht zugelassen, da in diesen Fällen Wahlberechtigten geholfen werden solle, ihre Wahlentscheidung abzugeben, und nicht jemand anderes an der Stelle der Betroffenen die Stimme abgebe.36 Auch scheide eine analoge Anwendung von zivilrechtlichen Stellvertretungsregeln aus, da anders als im Zivilrecht hier keine Überschreitung der Vertretungsmacht hingenommen werden könne.37 32 Müller-Franken, Familienwahlrecht und Verfassung, 2013, S. 89 f.; Strohmeier, Familienwahlrecht reloaded: Ein nicht mehr ganz neuer Vorschlag erneut auf der Agenda – und dem Prüfstand, ZPol 2016, 3 (14); siehe auch Westle, „Wahlrecht von Geburt an“ – Rettung der Demokratie oder Irrweg?, ZParl 2006, 96 (114). 33 Siehe den Verweis auf BVerfGE 1, 208 (247), bei Schreiber, Wahlrecht von Geburt an – Ende der Diskussion?, DVBl 2004, 1341 (1346 f.); ders. Bundeswahlgesetz, Kommentar, 9. Aufl. 2013, § 12 Rn. 10. 34 Siehe nur Zivier, Mehrfaches Wahlrecht für Kinderreiche – Kein Ende der Debatte?, RuP 2004, 26 (28), und Zypries, Wahlrecht für Kinder?, ZRP 2008, 271 (271). 35 Klein, in: Maunz/Dürig (Begr.), Grundgesetz, Kommentar, Stand der Kommentierung: 68. EL (Januar 2013), Art. 38 Rn. 137 f.; siehe auch Strohmeier, Familienwahlrecht reloaded: Ein nicht mehr ganz neuer Vorschlag erneut auf der Agenda – und dem Prüfstand, ZPol 2016, 3 (16 f.), und Lampert, Die wahlrechtlichen Gleichheitssätze , JuS 2011, 884 (888 – Fn 67). 36 Strohmeier, Familienwahlrecht reloaded: Ein nicht mehr ganz neuer Vorschlag erneut auf der Agenda – und dem Prüfstand, ZPol 2016, 3 (16 f.); siehe auch Holste, Wahlrecht von Geburt an: Demokratie auf Abwegen?, DÖV 2005, 110 (111 f.). 37 Achterberg/Schulte, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 6. Aufl. 2010, Art. 38 Abs. 1 Rn. 155. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 157/17 Seite 11 Schließlich gibt es auch Stimmen, die an der Vereinbarkeit eines stellvertretenden Elternwahlrechts mit den vom Bundesverfassungsgericht zu Art. 79 Abs. 3 GG entwickelten Maßstäben zweifeln.38 So seien nach der Rechtsprechung die Grundsätze des Art. 79 Abs. 3 GG nicht berührt , wenn sie nur für eine Sonderlage entsprechend deren Eigenart aus sachgerechten Gründen modifiziert werden (siehe oben, 4.2.). Man könne sich fragen, ob es sich bei einem solchen Familienrecht um eine „sachgerechte“ Regelung in diesem Sinne handele – dies hänge aber letztlich insbesondere auch von politischen Wertungen ab. *** 38 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band IV/2, 2011, S. 193 f.