© 2017Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 153/17 Polizeilicher Einsatz von Tränengas Dokumentation Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 153/17 Seite 2 Polizeilicher Einsatz von Tränengas Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 153/17 Abschluss der Arbeit: 2. August 2017 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 153/17 Seite 3 1. Einleitung Gegenstand der Dokumentation ist der Einsatz von sogenanntem Tränengas durch die Polizei, insbesondere gegen Demonstranten. Die Rechtslage wird für den Bund und exemplarisch für einige Bundesländer anhand gesetzlicher und untergesetzlicher Normen dargestellt. Neben der deutschen Rechtsprechung wertet die Dokumentation auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus. Schließlich wird auf polizeirechtliche Literatur und eine bereits vorhandene Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste hingewiesen. 2. Gesetzliche und untergesetzliche Normen 2.1. Bundesrecht Nach § 2 Abs. 4 des Gesetzes über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes (UZwG) zählen dienstlich zugelassene „Reizstoffe“ zu den Waffen im Sinne des Gesetzes. Die Allgemeine Verwaltungsvorschrift des Bundesministers des Innern zum Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes nennt unter Ziff. IV Abs. 5 als Reizstoff das Tränengas und enthält Bestimmungen, die die Verhältnismäßigkeit des Gebrauchs von Tränengas sicherstellen sollen. Danach darf es nur subsidiär gegenüber körperlicher Gewalt oder ihren Hilfsmitteln eingesetzt werden. Der Einsatz in geschlossenen Räumen wird beschränkt. Anlage 1 2.2. Landesrecht Lediglich exemplarisch wird im Folgenden auf das Polizeirecht der Länder Bayern, Bremen und Rheinland-Pfalz hingewiesen. Verwaltungsvorschriften wurden berücksichtigt, soweit sie über juristische Datenbanken zugänglich sind. In Bayern ist die Anwendung unmittelbaren Zwangs im Polizeiaufgabengesetz geregelt. Nach dessen Art. 61 Abs. 3 zählen „Reiz- und Betäubungsstoffe“ nicht zu den Waffen, sondern zu den Hilfsmitteln der körperlichen Gewalt. Die Vollzugbekanntmachung zum Polizeiaufgabengesetz geht auf das Verhältnis zwischen Waffen und Hilfsmitteln unter den Ziff. 61.1, 61.3.1 und 61.3.2 ein. Die Ausführungen zum subsidiären Einsatz von Reizstoffen unter Ziff. 61.9 entsprechen im Wesentlichen dem Bundesrecht. Anlage 2 Das Bremische Polizeigesetz ordnet „Reizstoffe“ dagegen – wie das UZwG des Bundes – den Waffen zu, § 41 Abs. 4. Die Polizeiwaffenverordnung nennt die zulässigen Wirkstoffe: Neben Pfefferreizstoffen sind Chloracetophenon (CN) und Chlorbenzylidenmalondinitril (CS) zugelassen ; CS und Pfefferreizstoffe dürfen nicht in Wasserwerfern eingesetzt werden. Die Polizeiwaffenverordnung zählt neben dem Wasserwerfer unterschiedliche Ausbringungswege auf (werfen, versprühen, verschießen) und weist zur Verhältnismäßigkeit darauf hin, dass durch die Verwendung von Reizstoffen der Einsatz stärker wirkender Waffen vermieden werden solle. Anlage 3 Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 153/17 Seite 4 In Rheinland-Pfalz ordnet § 58 Abs. 3 des Polizei- und Ordnungsbehördengesetzes die „Reiz- und Betäubungsstoffe“ wiederum den Hilfsmitteln der körperlichen Gewalt zu.1 Anlage 4 3. Rechtsprechung 3.1. Bayerischer VGH, Urteil vom 16. Mai 1988, Az. 21 B 87.02889, NVwZ 1988, 1055 Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs betrifft einen Polizeieinsatz bei der atomaren Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf im Jahr 1986. Die Polizei hatte gewalttätige und friedliche Demonstranten, unter letzteren den Kläger, wiederholt aufgefordert, sich vom Zaun der Anlage zu entfernen. Nach wiederholter Androhung setzte die Polizei CN und CS als Beimischung in Wasserwerfern und in Form von Wurfkörpern gegen die Demonstranten ein. Der Kläger wurde von mehreren Wasserstößen getroffen. Akut traten bei ihm brennende Schmerzen in den Augen und auf der Haut auf; er trägt außerdem vor, seitdem an einer Anstrengungsallergie zu leiden. Der VGH weist die auf Feststellung der Rechtswidrigkeit gerichtete Klage ab. Er qualifiziert die Proteste nicht als Versammlung, sondern als bloße Ansammlung. Gegen die Anwesenden seien Platzverweise ausgesprochen worden. Den Einsatz der Reizstoffe CN und CS hält der VGH für verhältnismäßig. Das Bayerische Polizeiaufgabengesetz erlaube den Einsatz von Reiz- und Betäubungsmitteln als Hilfsmittel der körperlichen Gewalt. Die Polizei habe gehandelt, um „bürgerkriegsähnlichen Angriffen“ zu begegnen und schwere Straftaten zu verhindern. „Es ist zwar nicht auszuschließen, daß sowohl die gesundheitlichen Kurz- wie Langzeitfolgen des kombinierten Einsatzes beider Stoffe durch Wechselwirkungen von CN und CS, namentlich wenn beides sowohl mit Wasserwerfern als auch mit Wurfkörpern eingesetzt wird, verstärkt werden.“2 Auf ein toxikologisches Gutachten könne jedoch verzichtet werden, weil bei dem konkreten Einsatz die unmittelbaren gesundheitlichen Folgen nicht schwerwiegend gewesen seien und über langfristige Schäden nichts bekannt geworden sei. Alternative Polizeitaktiken wären nach Auffassung des Gerichts nicht gleich geeignet gewesen, um die Angriffe abzuwehren, oder hätten sogar die Gefahr eines Schusswaffeneinsatzes geborgen. Der Reizstoffeinsatz habe auch kein höherrangiges Recht verletzt. Er habe nicht gegen die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes verstoßen. Auch schränke das Völkerrecht, namentlich das Protokoll über das Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln im Krieg vom 17. Juni 1925, die Verwendung von Reizstoffen nicht ein. Anlage 5 3.2. BVerwG, Beschluss vom 22. September 1988, Az. 1 B 108/88, NVwZ 1989, 872 Mit dem Beschluss bestätigt das Bundesverwaltungsgericht das vorgenannte Urteil des Bayerischen VGH: Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision wird zurückgewiesen. Das Protokoll über das Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen sowie 1 Vgl. auch die Kommentierung zu § 58 POG unter 4.2/Anlage 9. 2 Hervorhebungen vom Verfasser. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 153/17 Seite 5 von bakteriologischen Mitteln im Krieg vom 17. Juni 1925 gelte nicht für die innerstaatliche Gefahrenabwehr. Auch habe der VGH seiner Aufklärungspflicht im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit des Tränengaseinsatzes genügt. Dabei komme es auf die materielle Rechtsauffassung des ermittelnden Gerichts an, das hier allein die gesundheitlichen Folgen im konkreten Fall für maßgeblich gehalten habe. Da diese nur gering gewesen seien, sei eine weitere Beweiserhebung nicht erforderlich gewesen. Anlage 6 3.3. EGMR, Urteil vom 10. April 2012, Ali Günes ./. Türkei, Az. 9829/07, NVwZ 2013, 1599 (inoffizielle deutsche Übersetzung) Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte betrifft den Einsatz von Tränengas durch die türkische Polizei im Jahr 2004. Der Beschwerdeführer wurde während einer Demonstration in Istanbul festgenommen. Ein Polizist sprühte ihm – wohl noch nach der Festnahme – Tränengas aus nächster Nähe ins Gesicht. Der Beschwerdeführer erlitt unter anderem eine Hyperämie auf beiden Augen. Der Gerichtshof hält die zulässige Beschwerde für begründet und bejaht einen Verstoß gegen Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der neben Folter auch jede unmenschliche oder erniedrigende Behandlung verbietet. Das Besprühen mit Tränengas habe unter den gegeben Umständen intensive körperliche Schmerzen und seelisches Leid verursacht, insbesondere Gefühle der Angst, der Beklemmung und der Unterlegenheit, und sei geeignet gewesen, den Beschwerdeführer zu demütigen und zu erniedrigen. In dem Urteil äußert sich der Gerichtshof auch allgemein zu den Wirkungen von Tränengas und Pfefferspray. Er habe bereits festgestellt, „dass deren Einsatz zu Atemproblemen führen kann, zu Brechreiz, zum Erbrechen, zu Reizungen der Atemwege, der Tränendrüsen und Augen, zu Krämpfen, Brustschmerzen, Hautentzündungen und Allergien. Stark dosiert, kann es eine Nekrose des Gewebes in der Hals- und Speiseröhre bewirken, Lungenödeme und innere Blutungen (Blutung der Nebenniere)“. Tränengas sei zwar keine chemische Waffe im Sinne der Chemiewaffenkonvention und sein Einsatz bei behördlichen Zwangsmaßnahmen sei erlaubt. Der Gerichtshof schließt sich aber kritischen Ausführungen des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) zu Pfefferspray an und bezieht diese auch auf Tränengas. Anlage 7 4. Literatur 4.1. Rachor, Das Polizeihandeln, in: Denninger/Rachor (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl., München 2012, Rn. E 837 Im Handbuch des Polizeirechts werden CN- und CS-Gas als mögliche Beimischungen beim Einsatz von Wasserwerfern genannt. Neben ihrer „belästigenden“ Wirkung werden Haut- und Schleimhaut-, insbesondere Augenreizung sowie Übelkeit und Erbrechen genannt. Anlage 8 Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 3 - 3000 - 153/17 Seite 6 4.2. Beckmann/Schröder/Kuhn, Praxis der Kommunalverwaltung, Band K 30 – Rheinland-Pfalz, Polizei- und Ordnungsbehördengesetz, Stand: November 2013 Der Kommentar zu § 58 Abs. 3 Polizei- und Ordnungsbehördengesetz Rheinland-Pfalz3 ordnet Reizund Betäubungsstoffe im Anschluss an die Gesetzessystematik den Hilfsmitteln der körperlichen Gewalt zu. Er weist darauf hin, dass sie nur gebraucht werden dürften, wenn der Einsatz einfacher körperlicher Gewalt oder anderer Hilfsmittel nicht erfolgversprechend sei oder wenn so der Einsatz von Waffen vermieden werden könne. Gegen eine Menschenmenge dürften solche Stoffe nur eingesetzt werden, wenn von ihr Gewalttaten ausgingen oder wenn Gewalttaten unmittelbar bevorstünden. Anlage 9 4.3. Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Rechtliche Fragen zum Einsatz von Wasserwerfern bei Demonstrationen, Ausarbeitung, 30. August 2011, Az. WD 3 - 3000 - 256/11 Die Ausarbeitung stellt den Einsatz von Wasserwerfern durch die Bundespolizei und durch die Polizeien der Länder dar. Nach allgemeinen Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit nennt sie insbesondere die einschlägigen Ermächtigungsgrundlagen den Bundes und der Länder und beschreibt die jeweils vorhandene Technik. Dabei geht sie auch auf die Möglichkeit der Beimischung von Tränengas ein. Anlage 10 *** 3 Vgl. zur Rechtslage in Rheinland-Pfalz oben 2.2/Anlage 4.