© 2019 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 152/19 Kriterien der Wesentlichkeitslehre des Bundesverfassungsgerichts Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Inhalt der Wesentlichkeitslehre1 Nach der vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entwickelten und in ständiger Rechtsprechung ausgeprägten Wesentlichkeitslehre muss der Gesetzgeber staatliches Handeln in grundlegenden Bereichen durch ein förmliches Gesetz legitimieren und alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen.2 Im Ergebnis folgen daraus ein Verbot der Delegation wesentlicher Entscheidungen an die Exekutive und eine Pflicht des parlamentarischen Gesetzgebers, solche Entscheidungen selbst vorzunehmen. Die Wesentlichkeitslehre wird als Ausprägung des Grundsatzes des Vorbehalts des Gesetzes gesehen.3 Nach diesem Grundsatz darf die Verwaltung nur tätig werden, wenn sie dazu durch ein formelles Gesetz ermächtigt wurde.4 Anhand des Kriteriums der Wesentlichkeit versucht das BVerfG zum einen die Erforderlichkeit eines Gesetzes und zum anderen dessen erforderliche Regelungsdichte zu bestimmen.5 2. Kriterien zur Bestimmung der Wesentlichkeit Eindeutige Abgrenzungskriterien zu der Frage, welche Entscheidungen wesentlich und damit durch formelles Gesetz zu regeln sind, existieren nicht. Die Bestimmung der Wesentlichkeit erfolgt vielmehr nach einer Art Gleitformel.6 Je wesentlicher sich eine Angelegenheit für die Allgemeinheit darstellt, desto stärker ist der parlamentarische Gesetzgeber gefordert und desto detaillierter und bestimmter muss die gesetzliche Regelung ausgestaltet sein.7 Die Wesentlichkeit einer Angelegenheit wird daher weniger statisch als vielmehr flexibel verstanden und unter Zuhilfenahme zusätzlicher Kriterien aus allgemeinen verfassungsrechtlichen Regelungen, insbesondere aus den Grundrechten und dem Demokratiegebot, bestimmt.8 Dabei müssen die Gründe für eine Zuordnung zum parlamentarischen Gesetzgeber mit den Gründen für die Zuordnung zu den anderen Staatsgewalten abgewogen werden.9 Nach dem BVerfG lässt sich im Rahmen der Abwägung nur mit Blick auf den jeweiligen Sachbereich und auf die Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstands ermitteln, in welchen Bereichen staatliches Handeln einer parlamentarischen Rechtsgrundlage bedarf und wie weit die erforderliche 1 Die folgenden Ausführungen entstammen in weiten Teilen der Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Reichweite der Wesentlichkeitslehre – Grenzfälle der Wesentlichkeit, WD 3 - 3000 - 043/15. 2 St. Rspr., vgl. nur BVerfGE 40, 237 (249); 49, 89 (126); 83, 130 (142, 151 f.); 95, 267 (307). 3 Vgl. Maurer/Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 19. Auflage 2017, § 6 Rn. 11 f. 4 Ehlers, in: Ehlers/Pünder (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Auflage 2016, § 2 Rn. 40. 5 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 20 VI Rn. 106. 6 Maurer/Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 19. Auflage 2017, § 6 Rn. 14; Ehlers, in: Ehlers/Pünder (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Auflage 2016, § 2 Rn. 45. 7 Maurer/Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 19. Auflage 2017, § 6 Rn. 14. 8 Hölscheidt, Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, JA 2001, 409 (412). 9 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 20 VI Rn. 109. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 152/19 Seite 4 Regelungsdichte geht.10 Entscheidend für die Annahme der Wesentlichkeit ist für das BVerfG insbesondere die Grundrechtsrelevanz einer Maßnahme. Die Wesentlichkeit bestimmt sich demnach vor allem danach, inwieweit eine Maßnahme in Grundrechte des Einzelnen eingreift oder für die Verwirklichung von Grundrechten bedeutsam ist.11 Daneben werden für die Beurteilung der Wesentlichkeit einer Angelegenheit unter anderem herangezogen: der Umfang des Adressatenkreises, die Langzeitwirkung einer Regelung, gravierende finanzielle Auswirkungen, erhebliche Auswirkungen auf das Staatsgefüge, Konkretisierung offenen Verfassungsrechts, die Auswirkungen auf das Gemeinwesen sowie die Unmittelbarkeit und Finalität einer gesetzlichen Regelung.12 Ob und in welcher Intensität politischer Streit über die zu regelnde Angelegenheit besteht, hält das BVerfG hingegen nicht für maßgebend.13 Beispiele, in denen das BVerfG die Wesentlichkeit einer Angelegenheit bejaht hat, waren etwa die Einführung des Sexualkundeunterrichts,14 Regelungen zur Zulässigkeit des Tragens eines Kopftuchs durch Lehrerinnen,15 sowie die grundlegenden Kriterien für die Anwendung von Zulassungsbeschränkungen an Universitäten.16 Gegen die Wesentlichkeit einer Angelegenheit können unter anderem das Erfordernis flexibler Regelungen, das Vorliegen entwicklungsoffener Sachverhalte, das Bedürfnis nach dezentraler Regelung und bundesstaatlicher Koordinierung, das Einräumen von Beteiligungsrechten für die von der Regelung Betroffenen sowie die Grenzen des Sachverstands des Parlaments sprechen.17 Beispiele, in denen die Wesentlichkeit verneint wurde, waren etwa die Rechtschreibreform,18 die Einführung der Fünf-Tage-Woche in Schulen19. In der jüngeren Rechtsprechung ist das BVerfG mit der Bejahung der Wesentlichkeit eher restriktiv vorgegangen.20 *** 10 BVerfGE 49, 89 (126); 111, 191 (217). 11 Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 113 m.w.N. 12 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 20 VI Rn. 107. 13 BVerfGE 98, 218, (251 f.); a.A.: Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL 2019, Art. 20 VI. Rn. 107; Hölscheidt, Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, JA 2001, 409 (412). 14 BVerfGE 47, 46 (78 ff.). 15 BVerfGE 108, 282 (312). 16 BVerfGE 33, 303 (345 f.). 17 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 20 VI Rn. 107; siehe vertiefend dazu die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Reichweite der Wesentlichkeitslehre – Grenzfälle der Wesentlichkeit, WD 3 - 3000 - 043/15, S. 8 f. 18 BVerfGE 98, 218 (250 ff.). 19 BVerwG NJW 1975, 1182. 20 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, 86. EL Januar 2019, Art. 20 VI Rn. 105 m.w.N.