© 2015 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 150/15 Aufenthaltsgewährung für syrische Waisenkinder nach § 23 Aufenthaltsgesetz Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 150/15 Seite 2 Aufenthaltsgewährung für syrische Waisenkinder nach § 23 Aufenthaltsgesetz Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 150/15 Abschluss der Arbeit: 24. Juni 2015 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: + Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 150/15 Seite 3 1. Fragestellung Gefragt wird nach den rechtlichen Möglichkeiten, syrische Waisenkinder im Rahmen sogenannter Kontingente des Bundes oder der Länder in Deutschland aufzunehmen. Angesichts der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit vermittelt diese Ausarbeitung – wunschgemäß – lediglich einen ersten Überblick über die aufenthaltsrechtlichen Rahmenbedingungen sowie Beispiele der bisherigen Handhabung. Gegenstand der Ausarbeitung ist das deutsche Aufenthaltsrecht. Sie erstreckt sich nicht auf Fragen des syrischen Rechts, die für die Verbringung syrischer Waisenkinder nach Deutschland neben den aufenthaltsrechtlichen Fragen von Bedeutung sein mögen (etwa Fragen des syrischen Straf- oder Familienrechts). 2. Aufenthaltsgewährung nach § 23 Aufenthaltsgesetz1 2.1. Anwendungsbereich Das Aufenthaltsgesetz (AufenthG) regelt in den §§ 22 ff. AufenthG den Aufenthalt aus völkerrechtlichen , humanitären oder politischen Gründen. Während § 22 AufenthG die Aufnahme von Einzelpersonen aus dem Ausland regelt, betrifft § 23 AufenthG die Aufnahme bestimmter Gruppen von Ausländern.2 Die Vorschrift des § 23 AufenthG gilt nicht nur für die Aufnahme aus dem Ausland, sondern auch für Ausländer, die sich bereits in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten .3 2.2. § 23 Abs. 1 AufenthG 2.2.1. Materielle Voraussetzungen § 23 Abs. 1 AufenthG vermittelt der obersten Landesbehörde die Befugnis, für bestimmte Gruppen von Ausländern aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland eine Aufenthaltserlaubnis anzuordnen.4 Der Zweck des § 23 Abs. 1 AufenthG besteht darin, die Aufenthaltsgewährung an Personengruppen zu ermöglichen, denen nicht bereits nach anderen Vorschriften des Ausländerrechts Aufenthalt gewährt werden kann.5 1 Die Ausführungen unter Ziffer 2 basieren auf , Möglichkeiten der Erteilung eines Aufenthaltstitels aus humanitären Gründen, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (WD 3 - 3000 - 063/14), 2014. 2 Maaßen, in: Kluth/Hund/Maaßen, Zuwanderungsrecht, 1. Auflage 2008, Rn. 455. 3 Hailbronner, Ausländerrecht, 89. Aktualisierung 2015, § 23 AufenthG, Rn. 3. 4 Dienelt, in: Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Auflage 2013, § 23 AufenthG, 23.0. 5 Hailbronner, Ausländerrecht, 89. Aktualisierung 2015, § 23 AufenthG, Rn. 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 150/15 Seite 4 Die Anordnung nach § 23 Abs. 1 AufenthG kann aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bunderepublik Deutschland ergehen. Völkerrechtliche Gründe sind gegeben, wenn entsprechende völkerrechtliche Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aufgrund bi- oder multilateraler Verträge bestehen.6 Das Tatbestandsmerkmal der „humanitären Gründe“ betrifft Fälle, in denen zwar keine völkerrechtliche Verpflichtung besteht, Deutschland aber aufgrund besonderer Umstände eine moralische Verpflichtung trifft.7 Bei der Ausfüllung des Tatbestandsmerkmals der „Wahrung der politischen Interessen “ ist den obersten Landesbehörden ein weiter politischer Beurteilungsspielraum eingeräumt.8 Aufgrund der Weite der Tatbestandsmerkmale ist eine inhaltliche Überprüfung ihres Vorliegens im Rahmen gerichtlicher Kontrolle weitgehend ausgeschlossen; es handelt sich vielmehr um eine „politische Leitentscheidung“ der obersten Landesbehörde.9 2.2.2. Anordnung Auf die Anordnung nach § 23 Abs. 1 AufenthG selbst besteht nach dem Wortlaut der Vorschrift („kann“) kein Rechtsanspruch. Ihr Erlass steht bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen im weiten politischen Ermessen der zuständigen obersten Landesbehörden.10 Auch bezüglich des Inhalts der Anordnung steht der obersten Landesbehörde ein politisches Gestaltungsermessen zu.11 Die Behörde ist befugt, den Kreis der begünstigten Ausländer nach bestimmten objektiven oder subjektiven Merkmalen abzugrenzen sowie Ausnahmetatbestände zu definieren.12 Ferner sind räumliche und zeitliche Beschränkungen der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zulässig .13 Dieses weite Gestaltungsermessen ist einfachgesetzlich nur insofern inhaltlich eingeschränkt , als die Anordnung nicht für einzelne Personen, sondern nur für bestimmte Personengruppen ergehen kann.14 Im Übrigen wird das Ermessen der obersten Landesbehörden bei der in- 6 Göbel-Zimmermann, in: Huber, Aufenthaltsgesetz, 1. Auflage 2010, § 23, Rn. 6. 7 Maaßen, in: Kluth/Hund/Maaßen, Zuwanderungsrecht, 1. Auflage 2008, Rn. 443. 8 Vgl. Maaßen, in: Kluth/Hund/Maaßen, Zuwanderungsrecht, 1. Auflage 2008, Rn. 459; Hailbronner, Ausländerrecht , 89. Aktualisierung 2015, § 23 AufenthG, Rn. 6. 9 Hailbronner, Ausländerrecht, 89. Aktualisierung 2015, § 23 AufenthG, Rn. 6. 10 Stiegeler, in: Hofmann/Hoffmann, Ausländerrecht, 1. Auflage 2008, § 23 AufenthG, Rn. 6. 11 Maaßen, in: Kluth/Hund/Maaßen, Zuwanderungsrecht, 1. Auflage 2008, Rn. 461. 12 Hailbronner, Ausländerrecht, 89. Aktualisierung 2015, § 23 AufenthG, Rn. 15. 13 Hailbronner, Ausländerrecht, 89. Aktualisierung 2015, § 23 AufenthG, Rn. 15. 14 Maaßen, in: Kluth/Hund/Maaßen, Zuwanderungsrecht, 1. Auflage 2008, Rn. 460. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 150/15 Seite 5 haltlichen Ausgestaltung der Anordnung nur durch das verfassungsrechtlich verankerte Willkürverbot begrenzt, dessen Grenzen erreicht sind, wenn die Nichtberücksichtigung bestimmter Personen nicht mehr verständlich ist und deshalb willkürlich erscheint.15 Zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit bedarf die Anordnung nach § 23 Abs. 1 S. 3 AufenthG des Einvernehmens mit dem Bundesministerium des Innern. 2.3. § 23 Abs. 2 AufenthG § 23 Abs. 2 AufenthG eröffnet dem Bundesministerium des Innern die Möglichkeit, in Eigeninitiative tätig werden: Nach dieser Vorschrift kann das Bundesministerium des Innern zur Wahrung besonders gelagerter politscher Interessen der Bundesrepublik Deutschland im Benehmen mit der obersten Landesbehörde anordnen, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Ausländern aus bestimmten Staaten oder in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen eine Aufnahmezusage erteilt. Die Anordnung steht im Ermessen des Bundesministeriums des Innern („kann“). Es handelt sich wie im Fall des Absatzes 1 um eine politische Leitentscheidung mit einem weiten inhaltlichen Gestaltungsermessen (s.o.). Die abgegebene Aufnahmezusage hat zur Folge, dass gegenüber den Ausländerbehörden der Länder ein Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis besteht.16 3. Exemplarische Anwendungsfälle des § 23 AufenthG Deutschland beteiligt sich seit 2011 an der Aufnahme und Neuansiedlung besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge in Zusammenarbeit mit dem UNHCR (sog. Resettlement). Im Rahmen dieser Vereinbarung empfahl die Innenministerkonferenz, in den Jahren 2012 bis 2014 jeweils 30017 und im Jahr 2015 50018 Flüchtlinge unterschiedlicher Staatsangehörigkeit oder Staatenlose aufzunehmen . Daneben sind vor dem Hintergrund des syrischen Bürgerkrieges besondere Maßnahmen zur humanitären Aufnahme von Flüchtlingen aus Syrien nach § 23 Abs. 2 AufenthG getroffen worden. 15 Hailbronner, Ausländerrecht, 89. Aktualisierung 2015, § 23 AufenthG, Rn. 12 m.w.N.; Stiegeler, in: Hofmann /Hoffmann, Ausländerrecht, 1. Auflage 2008, § 23 AufenthG, Rn. 6. 16 Maaßen, in: Kluth/Hund/Maaßen, Zuwanderungsrecht, 1. Auflage 2008, Rn. 489. 17 Anordnung des Bundesministeriums des Innern gemäß § 23 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz zur Aufnahme bestimmter Flüchtlinge unterschiedlicher Staatsangehörigkeit oder Staatenlose aus Syrien, Indonesien oder hilfsweise aus der Türkei vom 7. Juli 2014, abrufbar unter: http://www.kfi.nrw.de/zuwanderung/Resettlement_und_andere _Humanit__re_Sonderverfahren1/140707_AO-2014.pdf (zuletzt abgerufen am 24. Juni 2015). 18 Sammlung der zur Veröffentlichung freigegebenen Beschlüsse der 200. Sitzung der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder, S. 36, abrufbar unter http://www.innenministerkonferenz .de/IMK/DE/termine/to-beschluesse/14-12-11_12/beschluesse.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (zuletzt abgerufen am 24. Juni 2015). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 150/15 Seite 6 Dies erfolgte in bisher drei Aufnahmeanordnungen, in deren Zuge insgesamt 20.000 syrische Flüchtlinge aufgenommen werden sollten.19 Die Kriterien, nach denen Personen bevorzugt aufgenommen werden, die Höhe des Kontingents sowie der Ablauf des Verfahrens werden dabei durch politische Entscheidungen des Bundesministeriums des Innern und der zuständigen obersten Landesbehörden festgelegt. Insbesondere die Schutzbedürftigkeit der Flüchtlinge sowie ein Bezug zur Bundesrepublik Deutschland, etwa durch in Deutschland lebende Verwandte, Sprachkenntnisse oder Voraufenthalte, waren relevante Kriterien der genannten Aufnahmeanordnungen.20 4. Rechtliche Schlussfolgerungen und faktische Hindernisse einer Aufnahme syrischer Waisenkinder nach § 23 AufenthG In ähnlicher Weise könnte auch zugunsten syrischer Waisenkinder eine Aufnahmeanordnung nach § 23 Abs. 2 AufenthG erfolgen. Aus aufenthaltsrechtlicher Sicht wäre dies unproblematisch, wenn die genannten politischen Leitentscheidungen getroffen werden. Im Rahmen des politischen Gestaltungsermessens wären in diesem Fall insbesondere auch Fragen der Unterbringung und Betreuung der Waisenkinder in Deutschland zu berücksichtigen und in der Anordnung zu regeln. Die Anordnung müsste auch die begünstigte Gruppe nach objektiven oder subjektiven Merkmalen eingrenzen (s.o.). Vorschläge für konkret auszuwählende Personen könnten durch den UNHCR vor Ort erfolgen. Die Aufnahmeanordnung könnte auch zeitliche Beschränkungen der Aufenthaltserlaubnis vorsehen (s.o.). Im Fall der oben genannten Aufnahmeanordnung zugunsten Schutzbedürftiger aus Syrien und Anrainerstaaten vom 18. Juli 2014 wurde unter Ziffer 7 vorgesehen, dass den ausgewählten Personen zunächst eine befristete Aufenthaltserlaubnis für zwei Jahre erteilt wird, die nach Maßgabe des § 8 AufenthG verlängert werden kann. Während eine Aufnahme syrischer Waisenkinder insoweit nach deutschem Aufenthaltsrecht möglich erscheint, dürfte eine solche nach Auffassung des Bundesministeriums des Innern an faktischen Hindernissen sowie an der syrischen Rechtslage scheitern: So ließen es die Familienstrukturen in Syrien nicht zu, ein Waisenkind alleine außer Landes zu bringen. Es müsse vor Ort zunächst geklärt werden, wer nach syrischem Recht das Sorgerecht für das Kind innehat. Könne 19 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Aufnahmeverfahren syrischer Flüchtlinge, abrufbar unter: http://www.bamf.de/DE/Migration/AufnahmeSyrien/aufnahmeverfahren-syrien.html (zuletzt abgerufen am 24. Juni 2015). Im Gegensatz zu dem nach derzeitiger Gesetzeslage ebenfalls auf § 23 Abs. 2 AufenthG gestützten Resettlement handelt es sich hierbei um eine vorübergehende Aufnahme von Flüchtlingen „für die Dauer des Konflikts und dessen für die Flüchtlinge relevanten Folgen“, vgl. Anordnung des Bundesministeriums des Innern vom 18. Juli 2014, S.1, abrufbar unter: http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/NEWS/2014/2014-07- 20_BMI_Anordnung_HAP_10.000-3_Syrien_mit_Anlagen.pdf (zuletzt abgerufen am 24. Juni 2015). 20 Vgl. sowohl die Anordnung des Bundesministeriums des Innern vom 18. Juli 2014, S.1, abrufbar unter: http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/NEWS/2014/2014-07-20_BMI_Anordnung_HAP_10.000-3_Syrien _mit_Anlagen.pdf (zuletzt abgerufen am 24. Juni 2015) als auch die Anordnung des Bundesministeriums des Innern gemäß § 23 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz zur Aufnahme bestimmter Flüchtlinge unterschiedlicher Staatsangehörigkeit oder Staatenlose aus Syrien, Indonesien oder hilfsweise aus der Türkei vom 7. Juli 2014, abrufbar unter: http://www.kfi.nrw.de/zuwanderung/Resettlement_und_andere_Humanit__re_Sonderverfahren 1/140707_AO-2014.pdf (zuletzt abgerufen am 24. Juni 2015). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 150/15 Seite 7 die Person ausfindig gemacht werden, müsse sie der Reise des Kindes nach Deutschland zustimmen . Eine solche Zustimmung werde jedoch aufgrund des – regelmäßig auch in Bezug auf Waisen fortbestehenden – engen Familienverbundes in der Regel nicht erteilt. ( ) ( )