© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 149/20 Verfassungsrechtliche Vorgaben für das sogenannte Omnibusverfahren Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 149/20 Seite 2 Verfassungsrechtliche Vorgaben für das sogenannte Omnibusverfahren Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 149/20 Abschluss der Arbeit: 17. Juni 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 149/20 Seite 3 1. Einleitung und Fragestellung In der gesetzgeberischen Praxis ist zu beobachten, dass Gesetze bzw. Gesetzesänderungen teilweise in sogenannten Omnibusverfahren beschlossen werden. Allgemein wird unter einem Omnibusgesetz ein Gesetz verstanden, das mehrere Änderungsanliegen mit gemeinsamen Ziel – Passagieren gleich – einsammelt und zur Abstimmung bringt.1 Zum Teil wird bei einem Omnibusverfahren auch einer ursprünglichen Gesetzesvorlage im bereits laufenden Gesetzgebungsverfahren durch Änderungsantrag eine Gesetzesänderung beigefügt. In diesen Fällen entfällt dann bezüglich der angehängten Änderung die bei einem Gesetzgebungsverfahren übliche 1. Lesung. Oft findet auch keine Anhörung zur angehängten Gesetzesänderung statt; eine breite Diskussion in der Öffentlichkeit wird so verhindert. Bei den Oppositionsfraktionen im Bundestag stößt dieses Verfahren daher regelmäßig auf Kritik.2 Auch in der Literatur werden Änderungsanträge, die einen über den bisherigen Inhalt hinausgehenden neuen Sachverhalt regeln und bei denen der Zusammenhang mit der eigentlichen Materie des ursprünglichen Gesetzentwurfs nicht gegeben ist, kritisiert.3 Gefragt wird danach, unter welchen Voraussetzungen ein sogenanntes Omnibusverfahren verfassungsrechtlich zulässig ist und ob die Frage der Eilbedürftigkeit ein entscheidendes Kriterium für die Zulässigkeit des Verfahrens darstellt. 2. Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Beratung und Änderung von Gesetzesvorlagen Das Grundgesetz selbst enthält keine ausdrücklichen Bestimmungen bezüglich eines sogenannten Omnibusverfahrens im Rahmen der Gesetzgebung. Die Vorschriften zum Gesetzgebungsverfahren der Art. 76 ff. Grundgesetz (GG) lassen vielmehr für das Verfahren vieles offen.4 Der knappe Wortlaut des Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG, wonach der Bundestag Bundesgesetze beschließt, lässt kaum Rückschlüsse auf die inhaltlichen Anforderungen der Gesetzgebungsarbeit im Parlament zu. Etwas konkreter ist insoweit Art. 76 Abs. 3 S. 6 GG, wonach der Bundestag über Gesetzesvorlagen in angemessener Frist zu beraten und Beschluss zu fassen hat. Diese Vorgabe gilt nach allgemeiner Ansicht für alle Gesetzesvorlagen und nicht nur für solche des Bundesrates.5 Konkretere Vorgaben für die Ausgestaltung des Beratungsprozesses im Bundestag sieht das Grundgesetz nicht vor, sondern überlässt dies im Wesentlichen der Satzungsautonomie des Bundestages.6 1 Weyland, umwelt aktuell 2018, 4. 2 Siehe dazu bspw. den Beitrag „Opposition kritisiert den Omnibus“, in: Das Parlament vom 6. Juni 2017, abrufbar unter: https://www.das-parlament.de/2017/23_25/innenpolitik/509550-509550 (letzter Abruf 17. Juni 2019). 3 Masing/Risse, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 77 Rn. 33; Bryde, JZ 1998, 115 ff.; Kabel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, § 31 Rn. 68. 4 Masing/Risse, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 77 Rn. 3. 5 Siehe nur Kersten, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 90. EL 2020, Art. 76 Rn. 11. 6 Masing/Risse, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 77 Rn. 3. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 149/20 Seite 4 Der prinzipiellen Satzungsgewalt des Parlaments sind gleichwohl verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt: Nach allgemeiner Auffassung setzt das Gesetzgebungsrecht des Bundestages eine Beratungspflicht voraus: Aufgrund des Demokratiegebots (Art. 20 Abs. 1 bis 3 GG), des Repräsentationsprinzips (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) sowie des Öffentlichkeitsgrundsatzes (Art. 42 Abs. 1 S. 1 GG) könne der Bundestag nur dann ein Gesetz verabschieden, wenn er sich zuvor in einer Beratung darüber eine Meinung gebildet habe.7 So gilt es, den Anspruch der Initianten auf sachgemäße Behandlung der Gesetzesvorlage aus Art. 76 Abs. 3 S. 6 GG zu gewährleisten. Als Minimum wird ein ernsthaftes Eingehen auf den unterbreiteten Vorschlag gefordert; dies setze voraus, dass die Vorlage allen Abgeordneten zugänglich gemacht und innerhalb angemessener Zeit auf die Tagesordnung einer Plenarsitzung gesetzt wird.8 Aus dem Demokratieprinzip folgt zudem, dass ein Mindestmaß an Beteiligung der verschiedenen im Parlament vertretenen Kräfte zu fordern ist.9 Verlangt wird, dass die Opposition Gelegenheit haben müsse, ihre Kontrollfunktion im Gesetzgebungsverfahren inklusive der Möglichkeit gestaltender Mitwirkung ausüben zu können.10 Ferner ist aus dem Grundsatz der Öffentlichkeit des parlamentarischen Diskurses zu folgern, dass ein Mindestmaß an Öffentlichkeit im Beratungs- und Beschlussverfahren zu gewährleisten ist.11 Dies setze voraus, „dass die Gesetzesvorlage im Plenum durch Rede und Gegenrede beraten wird“12. Wie die Beratungspflicht wahrgenommen werde, entscheidet der Bundestag selbst im Rahmen seiner Geschäftsautonomie.13 Die gemäß §§ 78 ff. der Geschäftsordnung des Bundestages (GO-BT) vorgesehenen drei Lesungen eines Gesetzes gewährleisten eine intensive Behandlung der Vorlage, sind aus verfassungsrechtlicher Sicht aber nicht zwingend geboten.14 Zudem besteht nach Ansicht der Literatur keine Pflicht, ausnahmslos jede Vorlage zur mündlichen Debatte zu stellen; durch die den Fraktionen zustehende Möglichkeit gemäß § 79, § 81 Abs. 1, § 84 GO-BT eine Debatte zu verlangen, werde sichergestellt, dass alle Vorlagen, die für eine Fraktion von Bedeutung sind, einer Debatte im Plenum zugeführt werden.15 Auch die Frage, ob eine Anhörung von Sachverständigen sowie Verbands- und Interessensvertretungen vorgesehen wird, unterfalle dem parlamentarischen Gestaltungsermessen.16 7 Statt vieler: Kersten, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 90. EL 2020, Art. 77 Rn. 12. 8 Masing/Risse, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 76 Rn. 86. 9 Masing/Risse, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 77 Rn. 21. 10 Bryde, JZ 1998, 115 (118). 11 Masing/Risse, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 77 Rn. 21. 12 Kersten, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 90. EL 2020, Art. 77 Rn. 13. 13 Masing/Risse, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 77 Rn. 21. 14 BVerfGE 29, 221 (234); 1, 144 (151). 15 Masing/Risse, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 76 Rn. 87. 16 Kersten, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 90. EL 2020, Art. 77 Rn. 14; BVerfGE 36, 321 (330). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 149/20 Seite 5 Umstritten ist, in welchem Maße der Bundestag und insbesondere seine Ausschüsse zur Änderung der Gesetzesvorlage berechtigt sind. Zum Teil wird in der Literatur vertreten, dass sich aus dem in Art. 76 GG geregelten Initiativrecht ein verfassungsrechtliches Denaturierungsverbot ergebe. Änderungen dürften nicht auf eine eigenständige Gesetzesinitiative hinauslaufen, da den Ausschüssen des Bundestages kein eigenes Initiativrecht zukomme bzw. das Initiativrecht aus Art. 76 GG andernfalls entwertet werde.17 Insofern müsse bei Änderungen ein Zusammenhang mit dem Gesetzgebungsziel und dem Gesetzgebungsgrund des ursprünglichen Gesetzentwurfs fortbestehen.18 Gegen ein Denaturierungsverbot wird eingewandt, angesichts des Initiativrechts aus Art. 76 Abs. 1 GG, wonach eine Gesetzesvorlage aus der Mitte des Bundestages eingebracht werden könne, erscheine es als „unnötige Förmelei (...), dem Bundestag und seinen Ausschüssen bei der Umgestaltung von Gesetzesvorlagen Grenzen zu setzen und eine erneute Einbringung eines weitreichend geänderten Gesetzentwurfs durch die Mitte des Bundestages zu verlangen.“19 Ein solches gelte nur für die umfassende Umgestaltung von Gesetzesvorlagen durch den Vermittlungsausschuss.20 Es wird darauf hingewiesen, dass den Abgeordneten in der zweiten und dritten Lesung die Möglichkeit bleibe, den umgestalteten Gesetzentwurf im Plenum öffentlich zu diskutieren und auf weitere Änderungen hinzuwirken; insofern würden die Mitwirkungsrechte der Abgeordneten, das Repräsentationsprinzip sowie der Grundsatz der parlamentarischen Öffentlichkeit gewahrt.21 Auch die Befürworter eines Denaturierungsverbots betonen die Schwierigkeit, dass im Einzelfall schwer zu entscheiden sei, wann der notwendige Sachzusammenhang noch gegeben sei und wann nicht. Als nicht ausreichend wird es zum Teil erachtet, wenn „lediglich die gleiche Gesetzgebungsmaterie oder nur der Zuständigkeitsbereich eines Ausschusses und des von ihm zu kontrollierenden Ministeriums berührt wäre“22. Das Bundesverfassungsgericht war im Interesse der Rechtssicherheit bei Verfahrensverstößen bisher zurückhaltend, die Verfassungswidrigkeit und mithin Nichtigkeit eines Gesetzes festzustellen.23 Mängel im Gesetzgebungsverfahren sollen nur dann zur Nichtigkeit eines Gesetzes führen, wenn 17 Bryde, JZ 1998, 115 (117 f.); Masing/Risse, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 77 Rn. 33; Kabel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, § 31 Rn. 68. 18 Masing/Risse, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 77 Rn. 33. 19 Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2015, Art. 77 Rn. 20; im Ergebnis so auch Kersten, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 90. EL 2020, Art. 77 Rn. 19. 20 BVerfGE 101, 297 (307 f.); 120, 56 (74 f.). 21 Kersten, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 90. EL 2020, Art. 77 Rn. 19. 22 Vgl. bspw. Kabel, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, § 31 Rn. 68. 23 Siehe dazu Masing/Risse, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 77 Rn. 24. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 149/20 Seite 6 sie evident sind.24 Insgesamt ist daher von einem großen Spielraum auszugehen, den das Grundgesetz dem Bundestag belässt und den er im Hinblick auf das Omnibusverfahren nutzen kann. 3. Zur Eilbedürftigkeit als Kriterium für ein Omnibusverfahren Das Omnibusverfahren ist unter Beachtung der zuvor herausgearbeiteten Grenzen verfassungsrechtlich zulässig. Eine besondere Eilbedürftigkeit wird soweit ersichtlich weder in der Literatur noch von der Rechtsprechung als zusätzliche Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit des Omnibusverfahrens gefordert. Darüber hinaus steht eine Eilbedürftigkeit des Gesetzesvorhabens dem Beschluss auch eines komplexeren Gesetzentwurfes innerhalb eines kurzen Zeitraumes nicht entgegen. So hat das Bundesverfassungsgericht vielmehr betont, es stehe jedem Gesetzgebungsorgan frei, eine Gesetzesvorlage abzulehnen, wenn es sich durch den Zeitdruck in der sachgemäßen Behandlung gehindert fühlte.25 Nach Ansicht des Gerichts unterfällt es dem Gestaltungsspielraum der Mehrheit des Bundestages, ausreichend Zeit für die Befassung mit einem Gesetzentwurf vorzusehen.26 *** 24 Ebenda. 25 BVerfGE 29, 221 (233). 26 Masing/Risse, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Kommentar, 7. Auflage 2018, Art. 77 Rn. 24.