© 2021 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 148/21 Verfassungsrechtliche Bewertung des Ausschlusses Ungeimpfter von Veranstaltungen und in der Gastronomie Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 148/21 Seite 2 Verfassungsrechtliche Bewertung des Ausschlusses Ungeimpfter von Veranstaltungen und in der Gastronomie Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 148/21 Abschluss der Arbeit: 17. August 2021 (zugleich letzter Abruf der Internetquellen) Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 148/21 Seite 3 1. Einleitung und Fragestellung Seit einiger Zeit lassen es die Ressourcen zu, dass jedem Bürger ein umfassendes Impfangebot zum Schutz vor einer Erkrankung infolge einer Ansteckung mit dem SARS-CoV-2-Virus gemacht werden konnte. Im Rahmen der Ministerpräsidentenkonferenz vom 10. August 2021 haben der Bund und die Länder unter anderem beschlossen, dass spätestens ab dem 23. August 2021 nur noch geimpften, genesenen oder getesteten Personen Zutritt in bestimmte Innenräume (von z. B. Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, Gaststätten, Kultureinrichtungen) gewährt werden darf (sogenannte 3G-Regel). Bereits einige Tage zuvor hatte der Gesundheitsminister sich dahingehend geäußert, dass im Herbst und Winter 2021 erneut weitergehende Einschränkungen notwendig werden könnten und es für nicht geimpfte Personen zum Ausschluss von der Teilhabe an Veranstaltungen und in der Gastronomie kommen könne (sogenannte 2G-Regel).1 Gefragt wird, ob (zukünftige) Regelungen über den Ausschluss von freiwillig Ungeimpften mit dem Grundgesetz vereinbar wären. Zudem soll geprüft werden, ob die Beschränkungen auch in Bezug auf ungeimpfte Personen, für die keine Impfempfehlung vorliegt, zulässig sind. Anzumerken ist, dass es sich bei COVID-19 um eine neue Krankheit handelt, welche einer ständigen Weiterentwicklung unterliegt. Insgesamt und insbesondere bezogen auf die in Deutschland vorherrschende Delta-Variante sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht abschließend und vieles noch unsicher. Mangels einer konkreten Regelung können hier nur einige grundsätzliche Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit erfolgen, die aufgrund der knappen Bearbeitungsfrist auch nur einen summarischen Überblick liefern können. 2. Beschränkungen gegenüber freiwillig Ungeimpften Die Zutrittsbeschränkung zu Innenbereichen für ungeimpfte Personen, für die eine Impfempfehlung vorliegt, stellt einen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz) dar, die auch die Teilnahme am kulturellen und sozialen Leben schütz. Zugleich ist häufig auch die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz) der Betreiber (wie z. B. der Gastronomen) betroffen, da diese nicht allen potentiellen Gästen einen Restaurantbesuch bzw. die Teilnahme an einer Veranstaltung ermöglichen können. Alle Grundrechtseingriffe, also auch die zum Infektionsschutz ergriffenen Maßnahmen, bedürfen einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Jeder Eingriff in Freiheitsrechte kann nur gerechtfertigt sein, wenn er verhältnismäßig ist.2 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist gewahrt, wenn der Eingriff einen legitimen Zweck in geeigneter, erforderlicher und angemessener Weise verfolgt.3 1 Strategiepapier des Bundesgesundheitsministeriums, Sicher durch Herbst und Winter – jetzt die Vorbereitungen treffen vom 2. August 2021, S. 4, abrufbar unter: https://www.welt.de/bin/BMG_bn-232935997.pdf. 2 Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 1 Rn. 277 ff. 3 Grzeszick, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 94. EL Januar 2021, Art. 20 Rn. 110. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 148/21 Seite 4 2.1. Legitimer Zweck Die Zutrittsbeschränkungen stellen sich als infektionsschutzrechtliche Maßnahme dar. Sie verfolgen einen legitimen Zweck, indem sie die Eindämmung der fortschreitenden Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 und der hierdurch verursachten Krankheit COVID-19 bezwecken und damit den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung sicherstellen und insbesondere die Überlastung des Gesundheitssystems verhindern sollen. 2.2. Geeignetheit Die infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen müssten zudem geeignet sein. Dies ist der Fall, wenn sich der legitime Zweck durch die Maßnahme erreichen lässt oder dieser durch die Maßnahme zumindest gefördert wird.4 Der Ausschluss von Ungeimpften müsste somit dem Schutz der Gesundheit der Bevölkerung sowie dem Schutz des Gesundheitssystems vor Überlastung zumindest förderlich sein. Ungeimpfte Personen können sich mit dem Virus anstecken und das Virus übertragen . Die derzeit vorherrschende Delta-Variante weist in Bezug auf die anderen Varianten eine höhere Übertragbarkeit auf. Gerade in Innenräumen kommt es zu einer Anreicherung von Aerosolen , durch die das Virus übertragen wird,5 sodass die Ansteckungswahrscheinlichkeit hoch ist. Durch den Ausschluss von Ungeimpften von Veranstaltungen und in der Gastronomie wird die Ansteckungswahrscheinlichkeit gesenkt, sodass der Gesundheitsschutz der Bevölkerung und der Schutz des Gesundheitssystems zumindest gefördert werden. 2.3. Erforderlichkeit Der Ausschluss ungeimpfter Personen von der Teilnahme an Veranstaltungen und in der Gastronomie müsste zudem erforderlich sein. Nach dem Gebot der Erforderlichkeit hat der Staat „aus den zur Erreichung des Zweckes gleich gut geeigneten Mitteln das mildeste, also die geschützte Rechtsposition am wenigsten beeinträchtigende Mittel“6 zu wählen. Als mildere Mittel könnten spezifische Anforderungen an Schutz- und Hygienekonzepte in Betracht kommen. Diese könnten unter anderem eine Testpflicht, das Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung, einzuhaltende Abstände, eine Obergrenze für Besucher sowie den Einsatz von Luftfiltern umfassen. Insbesondere das Vorschreiben von negativen PCR-Tests als Zugangsvoraussetzung könnte ein milderes, gleich geeignetes Mittel darstellen, da sie nach bisherigem wissenschaftlichen Stand ein besonders verlässliches Instrument zur Erkennung einer COVID-19-Infektion sind.7 Die für einen PCR-Test aufzubringenden höheren Kosten und der notwendige zeitliche Vorlauf sind zusätzlich 4 Sachs, in: ders., Grundgesetz, Kommentar, 9. Auflage 2021, Art. 20 Rn. 150. 5 RKI, Infektionsschutzmaßnahmen, Welche Rolle spielen Aerosole bei der Übertragung von SARS-CoV-2?, Stand; 4. August 2021, abrufbar unter: https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/FAQ_Liste_Infektionsschutz .html. 6 Grzeszick, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 92. EL August 2020, Art. 20 Rn. 113. 7 Information der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung vom 16. April 2021, abrufbar unter: https://www.infektionsschutz.de/coronavirus/tests-auf-sars-cov-2/pcr-test.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 148/21 Seite 5 zu berücksichtigen. Demgegenüber dürften Antigen-Schnelltests aufgrund ihrer nicht unerheblichen Fehleranfälligkeit8 nicht gleichermaßen geeignet sein, zuverlässig Infektionen zu erkennen. Allerdings stellen beide Testformen immer nur eine Momentaufnahme dar. Im Unterschied zu Geimpften und Genesenen spielen Ungeimpfte bei der Epidemiologie der Erkrankung weiterhin eine wesentliche Rolle, da sie meist potentiell erkranken und das Virus weitergeben können. Von Ungeimpften geht somit weiterhin eine Gefahr für sich und andere aus. Zwar vermittelt auch die Impfung keine hundertprozentige Sicherheit gegen Ansteckungen und die Weitergabe des Virus. Das Robert Koch-Institut kommt aber derzeit zu der Einschätzung, dass bei Geimpften das Risiko einer Virusübertragung so stark vermindert ist, dass diesen bei der Epidemiologie der Erkrankung keine wesentliche Rolle mehr zukommt.9 Aufgrund dieser Einschätzung erscheint eine generelle Testpflicht für Geimpfte gerade nicht mehr verhältnismäßig. Sollten aber ungetestete Geimpfte, bei denen es unerkannt zu einem sogenannten Impfdurchbruch gekommen ist und bei denen eine hohe Viruslast besteht, mit negativ getesteten Ungeimpften in Innenräumen zusammenkommen, besteht die Gefahr einer Ansteckung der negativ getesteten Ungeimpften, die wiederum dann schwer erkranken oder das Virus weitergeben können. Insofern stellt das Vorschreiben von negativen PCR- Tests für Ungeimpfte auch keinen kompletten Schutz dieser dar. Allerdings könnte dieses Risiko dadurch minimiert werden, dass Veranstalter und Gastronomen gesonderte Räume schaffen, zu denen nur negativ getestete Personen Zugang haben. Ob diese anderen Maßnahmen gleich geeignet sind, den Gesundheitsschutz sicherzustellen und das Gesundheitssystem vor Überlastung zu schützen, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Ein wesentlicher Faktor ist die (regionale) epidemische Lage zum Zeitpunkt des Erlasses der Maßnahme. Zur Bestimmung der epidemischen Lage kommen die 7-Tages-Inzidenz10, der Anteil der bisherigen oder neu dazukommenden Virusvarianten und die Wahrscheinlichkeit einer flächendeckenden Ausbreitung in Betracht. Vorliegend gilt es zu beachten, dass in geschlossenen Räumen aufgrund der Anreicherung von Aerosolen eine besonders hohe Gefahr der Infizierung besteht. Diese wird dadurch gesteigert, dass die derzeit vorherrschende Delta-Variante leichter übertragbar ist. Mit Blick auf die 7-Tages-Inzidenz als Indikator ist zu berücksichtigen, dass das Infektionsgeschehen nicht nur regional gleichmäßig verteilt sein kann, sondern auch lokalisiert und klar einkreisbar verlaufen kann. In einem solchen Fall dürfte es nicht mehr verhältnismäßig sein, allen Ungeimpften die Teilnahme an Veranstaltungen und den Besuch in geschlossenen Räumen allein aufgrund des Inzidenzwertes generell zu untersagen. Es müssten vielmehr gezielte 8 Information der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung vom 1. Juli 2021, abrufbar unter: https://www.infektionsschutz.de/coronavirus/tests-auf-sars-cov-2/antigen-schnelltest.html#c14951. 9 Siehe die Information des RKI, Stand 14. Juli 2021, abrufbar unter: RKI - Navigation - Können Personen, die vollständig geimpft sind, das Virus weiterhin übertragen?. 10 Siehe hierzu den Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste, „Zum Inzidenzwert als Grundlage für Maßnahmen zur Abwehr der Corona-Pandemie“, WD 3 - 3000 - 046/21 vom 19. März 2021, abrufbar unter: https://www.bundestag .de/resource/blob/834082/d575985d6480571bdda1c2d4ba86a3f2/WD-3-046-21-pdf-data.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 148/21 Seite 6 und räumlich beschränkte Maßnahmen ergriffen werden.11 Zudem mehren sich die Gerichtsentscheidungen , die angesichts des fortschreitenden Impfprogrammes ein alleiniges Abstellen auf das Kriterium der 7-Tages-Inzidenz für nicht mehr ausreichend erachten.12 Insofern müssen auch die weiteren Faktoren Krankheitsschwere, Auslastung der Intensivstationen, COVID-19-Hospitalisierungsrate sowie die Impfquoten in der Abwägung Berücksichtigung finden. In seiner aktuellen Risikobewertung stellt das Robert Koch-Institut fest, dass es sich nach wie vor um eine ernst zu nehmende Situation handele. Die Gefährdung für die Gesundheit der nicht oder nur einmal geimpften Bevölkerung in Deutschland wird insgesamt weiterhin als hoch eingeschätzt; für vollständig Geimpfte sei die Gefährdung dagegen moderat.13 Die Wahrscheinlichkeit für schwere und tödliche Krankheitsverläufe steigt dabei mit zunehmendem Alter und bei bestehenden Vorerkrankungen . Zudem kann COVID-19 auch gesundheitliche Langzeitfolgen hervorrufen (oft als „Long COVID“ bezeichnet). Es ist aktuell noch nicht möglich, sicher abzuschätzen, wie lange längerfristige Auswirkungen von COVID-19 andauern können, wie gut sie therapierbar sind und wie groß der Anteil der Betroffenen ist, der bleibende Auswirkungen mit sich tragen wird. Besonders über die gesundheitlichen Langzeitfolgen bei Kindern und Jugendlichen ist noch wenig bekannt.14 Die Impfquote in der jeweils von der Maßnahme betroffenen Region ist ein weiterer relevanter Faktor für die Bewertung, da davon auszugehen ist, dass sich bei Fortschreiten des Impfprogramms das Infektions- und Erkrankungsrisiko für Ungeimpfte mit zunehmender Anzahl geimpfter Personen verringert. Außerdem ist zu erwarten, dass die Gefahr eines Kollapses des Gesundheitssystems dadurch gemindert wird, dass insbesondere solche Gruppen von Personen Impfschutz erhalten haben, bei denen eine erhöhte Wahrscheinlichkeit besteht, intensivmedizinischer Versorgung zu bedürfen.15 Das Bundesgesundheitsministerium geht davon aus, dass die Gefahr einer hohen Welle und einer schnellen Ausbreitung des Virus immer kleiner werde, je höher die Impfquote bei den zwölf bis 59-Jährigen ist.16 Das Verhältnis von Neuinfektionen zu schweren Fällen werde immer 11 Vgl. dazu auch die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, „Verfassungsrechtliche Bewertung der neuen Infektionsschutzgesetzgebung“, WD 3 - 3000 - 083/21, vom 15. April 2021, S. 5., abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/835178/823674061cb1fcc753675daf5feb93ba/WD-3-083- 21-pdf-data.pdf. 12 Ausführlich hierzu den Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste, „Zum Inzidenzwert als Grundlage für Maßnahmen zur Abwehr der Corona-Pandemie“, WD 3 - 3000 - 046/21 vom 19. März 2021 (Fn. 10); siehe auch OVG Lüneburg, Beschluss vom 3. August 2021 – 13 MN 352/21 –, juris. 13 RKI, Risikobewertung zu COVID-19, Stand: 2. August 2021, abrufbar: https://www.rki.de/DE/Content/Inf AZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html;jsessionid=D85DE42A4845C959D9BD6E98D14B6A49.internet 072?nn=13490888. 14 RKI, Gesundheitliche Langzeitfolgen, Wie gut gesichert ist das aktuelle Wissen über die gesundheitlichen Langzeitfolgen von COVID-19?, Stand: 23. Juli 2021, abrufbar unter: https://www.rki.de/Shared- Docs/FAQ/NCOV2019/FAQ_Liste_Gesundheitliche_Langzeitfolgen.html. 15 Zum Ganzen vgl. Deutscher Ethikrat, Besondere Regelungen für Geimpfte? Ad-hoc-Empfehlung vom 4. Februar 2021, 3, abrufbar unter: https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/adhoc -empfehlung-besondere-regeln-fuer-geimpfte.pdf. 16 Strategiepapier des Bundesgesundheitsministeriums, Sicher durch Herbst und Winter – jetzt die Vorbereitungen treffen vom 2. August 2021, S. 4, abrufbar unter: https://www.welt.de/bin/BMG_bn-232935997.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 148/21 Seite 7 günstiger, je höher die Impfquote bei den Über-60-Jährigen ist.17 Nach dem Impfquotenmonitoring des Robert Koch-Instituts sind zurzeit 63,2 % der Gesamtbevölkerung mindestens einmal und 57,2 % vollständig geimpft. In der Gruppe der 18 bis 59-Jährigen sind 64 % mindestens einmal und 59,9 % vollständig geimpft. In der Gruppe der Über-60-Jährigen sind bereits 85,8 % mindestens einmal und 82,3 % vollständig geimpft (Stand: 16. August 2021).18 Eine Beurteilung, ob das Vorschreiben von Schutz- und Hygienemaßnahmen zur Erreichung des verfolgten Zwecks ausreicht, kann nur unter Heranziehung der oben genannten Faktoren im Einzelfall erfolgen. Im Hinblick auf die wissenschaftlichen Unsicherheiten ist dem Gesetzgeber ein weiter Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum einzuräumen.19 2.4. Angemessenheit Der Ausschluss von ungeimpften Personen müsste schließlich auch angemessen sein. Das bedeutet, dass die staatliche Maßnahme nicht außer Verhältnis zum Zweck des Eingriffes stehen darf. Das Gebot der Angemessenheit erfordert eine Abwägung zwischen dem Nutzen der Maßnahme und den durch die Maßnahmen herbeigeführten Beeinträchtigungen.20 Im Rahmen der Abwägung sind das Gewicht der betroffenen Interessen sowie die Eingriffstiefe zu berücksichtigen.21 Dem Lebens- und Gesundheitsschutz der Bevölkerung kommt ein besonders hoher Stellenwert zu. Den Staat trifft insoweit eine Schutzpflicht, sodass er sich schützend und fördernd vor das Leben und die Gesundheit des Einzelnen stellen muss. Da das menschliche Leben einen Höchstwert darstellt , muss die Schutzverpflichtung besonders ernst genommen werden.22 Auf der anderen Seite ist insbesondere die allgemeine Handlungsfreiheit der ungeimpften Person betroffen. Der Ausschluss ungeimpfter Personen von vielen sozialen und kulturellen Aktivitäten stellt an sich einen schwerwiegenden Eingriff in ihre allgemeine Handlungsfreiheit dar. Die Eingriffsintensivität wird dadurch erhöht, je größer die Reichweite der Maßnahme ist. Sollten jegliche Veranstaltungen sowie die ganze Innengastronomie von einer sogenannten 2G-Regelung erfasst sein, wird es ungeimpften Personen in erheblichem Maße erschwert, am sozialen und kulturellen Leben teilzunehmen. Zu bedenken ist, dass im Herbst und Winter soziale Aktivitäten vermehrt in 17 Strategiepapier des Bundesgesundheitsministeriums, Sicher durch Herbst und Winter – jetzt die Vorbereitungen treffen vom 2. August 2021, S. 4, abrufbar unter: https://www.welt.de/bin/BMG_bn-232935997.pdf. 18 Impfquotenmonitoring des RKI, Tabelle mit den gemeldeten Impfungen nach Bundesländern und Impfquoten nach Altersgruppen vom 16. August 2021, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges _Coronavirus/Daten/Impfquoten-Tab.html. 19 Vgl. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 94. EL Januar 2021, Art. 20 Rn. 122. 20 Grzeszick, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 94. EL Januar 2021, Art. 20 Rn. 117. 21 Klatt/Meister, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, JuS 2014, 193 (196 f.). 22 Rixen, in: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, 9. Auflage 2021, Art. 2 Rn. 188 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 148/21 Seite 8 den Innenbereich verlegt werden und die derzeitig noch bestehende Möglichkeit der Teilnahme an Aktivitäten im Außenbereich in den kommenden Monaten sich dadurch deutlich reduziert. Auch der Eingriff in die Berufsfreiheit der Veranstalter und Gastronomen wiegt schwer, wenn diese einen großen Teil der Bevölkerung nicht teilnehmen lassen und bewirten dürfen. Hier gilt es jedoch zu berücksichtigen, dass anders als bei vergangenen Maßnahmen im Zuge einer sogenannten 2G-Regelung Veranstaltungen mit Geimpften und Genesen – also einem überwiegenden Teil der Bevölkerung – durchaus stattfinden bzw. diese bewirtet werden können und hierdurch Umsatz erzielt werden kann. Für die Bewertung der Angemessenheit wird es darauf ankommen, ob und ggfs. wie lange die Maßnahmen befristet sind. Die Rechtsprechung weist daraufhin, dass umso höhere Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit zu stellen sind, je länger die Einschränkungen andauern und je intensiver die Freiheitsrechte berührt werden.23 Für die Beurteilung der Eingriffsintensität wird darauf abzustellen sein, wie sich die Maßnahmen im Zusammenspiel mit möglichen weiteren Maßnahmen insgesamt auf die Möglichkeiten der kulturellen und sozialen Teilhabe auswirken. Wie schon bei der Erforderlichkeit ist auch bei der Abwägung der Angemessenheit zukünftiger Regelungen für den Ausschluss von Ungeimpften von Veranstaltungen und in der Gastronomie für den Einzelfall zu berücksichtigten, wie hoch die Gefahr für Leben und Gesundheit sowie für die Überlastung der öffentlichen Gesundheitsversorgung einzuschätzen ist. Die Verhältnismäßigkeit der zukünftigen Regelungen hängt damit ebenfalls maßgeblich davon ab, welche epidemische Lage zum Zeitpunkt des Erlasses gegeben ist und wie die Regelungen mit dieser Lage verknüpft werden. Der Ausschluss von Ungeimpften von Veranstaltungen und in der Gastronomie dürfte angesichts der Schwere des Eingriffs einer hohen Rechtfertigung bedürfen. Dem Gesetzgeber kommt aber nicht zuletzt angesichts der wissenschaftlichen Unsicherheiten auch hier ein Einschätzungsund Beurteilungsspielraum zu. 3. Beschränkungen gegenüber Personen, für die keine Impfempfehlung vorliegt oder die nicht geimpft werden können Von den freiwillig Ungeimpften sind diejenigen Personen zu unterscheiden, für welche die Ständige Impfkommission (STIKO) keine Impfempfehlung ausgesprochen hat, sowie diejenigen, die sich aufgrund einer Vorerkrankung nicht impfen lassen können. Eine Impfempfehlung liegt für alle Personen über zwölf Jahre vor.24 Schwangeren empfiehlt die STIKO derzeit keine Impfung. Medienberichten zufolge wird allerdings mit einer erneuten Entscheidung über eine generelle Impfempfehlung für Schwangere Ende August 2021 gerechnet.25 Hinsichtlich Personen, für die keine Impfempfehlung vorliegt oder die aus gesundheitlichen Gründen nicht geimpft werden können, erhöht sich die Intensität des Eingriffs dadurch, dass diesen 23 OVG Saarlouis vom 22. April 2020 – 2 B 130/20, Rn. 25 u. Rn. 31. 24 So die am 16. August aktualisierte Empfehlung der Ständigen Impfkommission, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/Kommissionen/STIKO/Empfehlungen/PM_2021-08-16.html. 25 Siehe https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/us-gesundheitsbehoerde-cdc-raetschwangeren -zur-corona-impfung-17481381.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 148/21 Seite 9 nicht durch eigenes Verhalten möglich ist, die Voraussetzungen für einen unbeschränkten Zutritt zu Veranstaltungen und Gastronomie in Innenräumen zu schaffen.26 Daraus folgen im Vergleich zu freiwilligen ungeimpften Personen deutlich erhöhte Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit. *** 26 Vgl. dazu auch die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, „Verfassungsmäßigkeit von Lockerungen der Maßnahmen zum Infektionsschutz für geimpfte Personen“, WD 3 - 3000 - 015/21 vom 26. Februar 2021, S. 8, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource /blob/836418/ade8a787775e027df0b7fef9e9e7a072/WD-3-015-21-pdf-data.pdf.