© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 148/20 Rechtsschutz eines Landes im Rahmen von § 23 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Gemäß § 23 Abs. 1 S. 3 AufenthG bedarf die Anordnung zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit des Einvernehmens mit dem Bundesministerium des Innern (BMI). Die Länder richten dafür eine Bitte um Zustimmung zur Anordnung an das BMI.1 Es soll der Frage nachgegangen werden, welche Rechtsschutzmöglichkeiten einem Bundesland zustehen, wenn das BMI das erforderliche Einvernehmen nicht erteilt. Ferner soll auch auf den Eilrechtsschutz eingegangen werden. 2. Rechtsschutzmöglichkeiten Rechtsprechung zu einem nicht erteilten Einvernehmen nach § 23 Abs. 1 S. 3 AufenthG existiert – soweit ersichtlich – nicht. Die Frage nach den gerichtlichen Verfahrensmöglichkeiten in dieser Situation wird in der Literatur nur sehr vereinzelt behandelt.2 In Betracht kommt grundsätzlich entweder verwaltungsgerichtlicher oder verfassungsgerichtlicher Schutz. 2.1. Verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz Voraussetzung für die Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs ist gemäß § 40 Abs. 1 S. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), dass es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nicht-verfassungsrechtlicher Art handelt. Dies dürfte gegeben sein, da die streitentscheidenden Normen (§ 23 Abs. 1 S. 1 und 3 AufenthG) dem Verwaltungsrecht zuzuordnen sind. Die Erteilung des Einvernehmens ist ein reines Verwaltungsinternum; sie ist bereits mangels Außenwirkung kein Verwaltungsakt.3 Bei einem Begehren, das auf die Erteilung des Einvernehmens zielt, ist daher die allgemeine Leistungsklage die statthafte Klageart. Diese ist auf ein schlichtes Verwaltungshandeln gerichtet, das keinen Verwaltungsakt darstellt. 1 Maaßen/Koch, in: Kluth/Hund/Maaßen, Zuwanderungsrecht, 2. Aufl. 2017, § 4 (Aufenthalt) Rn. 534. 2 Die hier einzig bekannte Veröffentlichung ist Heuser, Rechtsgutachten zur Zulässigkeit der Aufnahme von Schutzsuchenden durch die Bundesländer aus EU-Mitgliedstaaten, abrufbar unter unter: https://www.jura.unihamburg .de/lehrprojekte/law-clinics/refugee-law-clinic/forschungsprojekt-staedte-der-zuflucht/gutachten-landesaufnahme .pdf (Stand: 11. Juni 2020). 3 Heuser (Fn. 1), S. 52. Siehe entsprechend zum gemeindlichen Einvernehmen nach § 36 BauGB Scheidler, Rechtsfragen um das gemeindliche Einvernehmen nach § 36 BauGB, in: ZfBR 2019, 543 (544). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 148/20 Seite 4 Als sachlich zuständiges Gericht für eine Streitigkeit über ein nicht erteiltes Einvernehmen nach § 23 Abs. 1 S. 3 AufenthG wird in der Literatur das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) angesehen .4 Nach § 50 Abs. 1 Nr. 1 VwGO ist das BVerwG zuständig für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten nicht-verfassungsrechtlicher Art zwischen dem Bund und den Ländern. Hierunter fallen nach der Rechtsprechung des BVerwG all jene Streitigkeiten, die „sich in ihrem Gegenstand einem Vergleich mit den landläufigen Verwaltungsstreitigkeiten entzieh[en]“.5 Dies umfasst Streitigkeiten, bei denen sich Bund und Länder als Hoheitsträger oder gleichberechtigte Partner gegenüberstehen.6 Entscheidend dabei ist, dass ein Beteiligter den anderen gerade in seiner Eigenschaft als Hoheitsträger in Anspruch nimmt, nicht etwa als „schlichten Teilnehmer im Rechtsverkehr“.7 Die Zuständigkeit des BVerwG nach § 50 Abs. 1 Nr. 1 VwGO wurde etwa bejaht bei einem Streit über eine vom Bund betriebene Schießanlage, deren bauliche Änderung der landesrechtlichen Zustimmung bedurfte.8 Ein ähnliches Verhältnis zwischen zwei gegenüberstehenden Hoheitsträgern liegt auch bei einer Streitigkeit über die Erteilung des Einvernehmens nach § 23 Abs. 1 S. 3 AufenthG vor. Die Zuständigkeit des BVerwG dürfte daher gegeben sein. Hält das BVerwG allerdings die Streitigkeit für verfassungsrechtlich, so muss es gemäß § 50 Abs. 3 VwGO die Sache dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorlegen.9 Die Klage hätte allerdings nur dann Erfolg, wenn das klagende Bundesland einen Anspruch auf Erteilung des Einvernehmens hätte. Dies dürfte grundsätzlich zweifelhaft sein. Zwar verleiht § 23 Abs. 1 S. 3 AufenthG einem Bundesland einen Anspruch darauf, dass das BMI überhaupt tätig wird. Dem BMI steht allerdings ein Korrektur- und Letztentscheidungsrecht im Hinblick auf die durch das Land zu erlassende Anordnung zu.10 Der Einvernehmensvorbehalt dient der Wahrung der gesamtstaatlichen Interessen, da eine durch ein Bundesland nach § 23 Abs. 1 S. 1 AufenthG erlassene Anordnung erhebliche Auswirkungen auf andere Bundesländer haben kann.11 Es wird daher vertreten , dass ein Bundesland gegen eine Versagung des Einvernehmens nur dann vorgehen könne, wenn das BMI sich in der Begründung nicht – dem Wortlaut von § 23 Abs. 1 S. 3 AufenthG entsprechend – auf die „Wahrung der Bundeseinheitlichkeit“ beziehe.12 4 Heuser (Fn. 1), S. 52. 5 Bier, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 37. EL Juli 2019, § 50 Rn. 7 unter Verweis auf BVerwG NJW 1977, 162. 6 Redeker, in: Redeker/von Oertzen, VwGO, 16. Aufl. 2014, § 50 Rn. 2. 7 Bier, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 37. EL Juli 2019, § 50 Rn. 7 unter Verweis auf BVerwG NJW 1984, 817. 8 BVerwG NJW 1977, 163. 9 Siehe dazu unter 2.2. 10 Maaßen/Koch, in: Kluth/Hund/Maaßen, Zuwanderungsrecht, 2. Aufl. 2017, § 4 (Aufenthalt) Rn. 534. 11 Maaßen/Koch, in: Kluth/Hund/Maaßen, Zuwanderungsrecht, 2. Aufl. 2017, § 4 (Aufenthalt) Rn. 534. 12 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Aufnahmeprogramme der Länder nach § 23 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz, WD 3 - 3000 - 223/18, S. 11. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 148/20 Seite 5 2.2. Verfassungsrechtlicher Rechtsschutz Die Länder führen das AufenthG nach Art. 83 GG als eigene Angelegenheit aus. Erteilt das BMI das Einvernehmen nicht, sind die Länder allerdings am Vollzug von § 23 Abs. 1 AufenthG gehindert.13 Zum Teil wird daher vertreten, dass ein Land vor dem Bundesverfassungsgericht feststellen lassen könnte, dass der Bund im Einzelfall zur Erteilung des Einvernehmens verpflichtet war und daher durch die Ablehnung gegen die Verwaltungskompetenz des Landes verstoßen habe.14 Das einschlägige Verfahren dürfte in diesem Fall der Bund-Länder-Streit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG, § 13 Nr. 7, §§ 68 ff. Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) sein, bei dem es um Meinungsverschiedenheiten über Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder geht. 2.3. Einstweiliger Rechtsschutz Sowohl im Verwaltungsverfahren als auch im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ist grundsätzlich einstweiliger Rechtsschutz möglich. Im Verwaltungsverfahren wäre, wenn im Hauptsacheverfahren die allgemeine Leistungsklage einschlägig ist, das Begehren auf einstweiligen Rechtsschutz auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO gerichtet. Im verfassungsrechtlichen Verfahren kann nach § 32 Abs. 1 BVerfGG ebenfalls eine einstweilige Anordnung erteilt werden. Abgesehen von den sonstigen Voraussetzungen gilt für die Erteilung einer einstweiligen Anordnung allerdings grundsätzlich, dass die Hauptsache nicht endgültig vorweg genommen werden darf.15 Im Regelfall ist ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung daher unzulässig, wenn der Antragsteller nur eine eilige Entscheidung über die im Hauptsacheverfahren angegriffene Maßnahme erreichen will.16 Ist das Hauptsacheverfahren darauf gerichtet, das Einvernehmen nach § 23 Abs. 1 S. 3 AufenthG zu erlangen, würde in einem entsprechenden Eilverfahren bereits das endgültige Ergebnis erreicht werden. Von dem Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache gilt nur dann eine Ausnahme, wenn die Ablehnung einstweiligen Rechtsschutzes den Antragssteller schwer und unzumutbar oder irreparabel belasten würde.17 Dafür muss dem Antragsteller eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten drohen, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann.18 Für eine solche Ausnahme dürften in einem Verfahren, das auf die Erteilung des Einvernehmens § 23 Abs. 1 S. 3 AufenthG gerichtet ist, keine Gründe bestehen. Es ist nicht erkennbar, dass ein 13 Teilweise werden in Bezug auf § 23 Abs. 1 AufenthG daher verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf eine unzulässige Mischverwaltung zwischen Bund und Ländern erhoben, siehe Göbel-Zimmermann, in: Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Aufl. 2016, § 23 Rn. 16 m.w.N. 14 Heuser (Fn. 1), S. 53. 15 Kuhla, in: Posser/Wolff, BeckOK VwGO, 53. Edition Stand: 1. Juli 2019, § 123 Rn. 156. 16 Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 58. EL Januar 2020, § 32 Rn. 48. 17 Kuhla, in: Posser/Wolff, BeckOK VwGO, 53. Edition Stand: 1. Juli 2019, § 123 Rn. 156. 18 BVerfG NVwZ-RR 2009, 945; BVerfG NJW 2017, 545. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 148/20 Seite 6 Bundesland, das die Erteilung des Einvernehmens nach § 23 Abs. 1 S. 3 AufenthG begehrt, ohne Vorwegnahme der Hauptsache in seinen Rechten schwer und unzumutbar oder irreparabel belastet würde. Eine Belastung der Rechte von Ausländern, die sich auf eine nach § 23 Abs. 1 S. 1 AufenthG erteilte Anordnung stützen könnten, kann nicht geltend gemacht werden, da diese zum einen nicht Beteiligte des Verfahrens sind und zum anderen selbst keinen Anspruch auf Erteilung einer entsprechenden Anordnung haben19. Einstweiliger Rechtsschutz dürfte daher wegen unzulässiger Vorwegnahme der Hauptsache ausscheiden. *** 19 Vgl. Hecker, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 25. Edition Stand: 1. November 2016, § 23 Rn. 9.