© 2015 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 145/15 Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Bundesgesetze vor Inkrafttreten Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 145/15 Seite 2 Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Bundesgesetze vor Inkrafttreten Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 145/15 Abschluss der Arbeit: 22. Juni 2015 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 145/15 Seite 3 1. Fragestellung Es wurden die Fragen aufgeworfen, ob eine Klage gegen ein Bundesgesetz erst nach dessen Inkrafttreten erhoben werden könne (hierzu unter 2.) und ob es möglich sei, gegen das Inkrafttreten eines Gesetzes eine einstweilige Anordnung zu erwirken (hierzu unter 3.). 2. Mögliche Verfahrensarten in der Hauptsache 2.1. Abstrakte Normenkontrolle Bei der abstrakten Normenkontrolle prüft das Bundesverfassungsgericht auf Antrag der Bundesregierung , der Landesregierung oder eines Viertels der Mitglieder des Bundestages die Vereinbarkeit von Bundes- oder Landesrecht mit dem Grundgesetz bzw. von Landesrecht mit dem Bundesrecht, vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 Grundgesetz (GG) i.V.m. §§ 13 Nr. 6, 76 ff. Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG).1 Prüfungsgegenstand der abstrakten Normenkontrolle sind alle geltenden Rechtsnormen des Bundes- und Landesrechts mit Außenwirkung. „Geltend“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass eine Norm formellen Geltungsanspruch hat; eine materielle Gültigkeit ist nicht erforderlich.2 Das Gesetz muss mit anderen Worten lediglich rechtlich existent sein und nicht notwendig bereits rechtliche Wirkungen entfalten. Maßgeblich ist daher die Verkündung (Art. 82 Abs. 1 GG) und nicht das Inkrafttreten eines Gesetzes.3 Daher ist eine abstrakte Normenkontrolle bereits mit dem Zeitpunkt der Verkündung und vor Inkrafttreten zulässig.4 Hingegen gehören nicht verkündete, noch im Entstehen befindende Rechtsnormen grundsätzlich nicht zum Prüfungsgegenstand (Verbot der vorbeugenden Normenkontrolle). Eine Ausnahme wird lediglich bei Zustimmungsgesetzen zu ratifizierungsbedürftigen völkerrechtlichen Verträgen anerkannt, da wegen der mit der Ratifikation einhergehenden völkerrechtlichen Bindung ein nachfolgendes abstraktes Normenkontrollverfahren wirkungslos wäre.5 Daher kann in diesem Fall der Normenkontrollantrag ausnahmsweise bereits vor Verkündung, aber nach Abschluss der parlamentarischen Beratungen und Entscheidungen gestellt werden.6 1 Die nachfolgenden Ausführungen gelten entsprechend für die abstrakte Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG i.V.m. §§ 13 Nr. 6a, 76 ff. BVerfGG, in dem das Bundesverfassungsgericht auf Antrag des Bundesrats, einer Landesregierung oder der Volksvertretung eines Landes prüft, ob ein Gesetz den Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG entspricht. 2 Vgl. Lenz/Hansel, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1. Aufl. 2013, § 76 Rn. 2. 3 Vgl. Lenz/Hansel, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1. Aufl. 2013, § 76 Rn. 2. 4 BVerfGE 104, 23 (29). 5 Vgl. Lenz/Hansel, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1. Aufl. 2013, § 76 Rn. 3. 6 BVerfGE 36, 1 (15). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 145/15 Seite 4 2.2. Konkrete Normenkontrolle Im Rahmen der konkreten Normenkontrolle kann ein Gericht ein Gesetz, das es für verfassungswidrig hält und auf dessen Gültigkeit es bei seiner Entscheidung ankommt, dem Bundesverfassungsgericht vorlegen, vgl. Art. 100 Abs. 1 GG i.V.m. §§ 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG. Der Prüfungsgegenstand der konkreten Normenkontrolle sind nur formelle Gesetze. Diese müssen nicht nur verkündet, sondern auch in Kraft getreten sein, da das fragliche Gesetz anderenfalls im zu entscheidenden Ausgangsverfahren nicht entscheidungserheblich sein kann.7 Eine Präventivkontrolle kommt daher – im Gegensatz zur abstrakten Normenkontrolle – hier nicht in Betracht.8 2.3. Verfassungsbeschwerde Im Wege der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i.V.m. §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG können Grundrechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt vor dem Bundesverfassungsgericht geltend gemacht werden.9 Die Verfassungsbeschwerde kann sich unmittelbar gegen Gesetze als Akte der Legislative („öffentliche Gewalt“) richten. Dafür muss der Beschwerdeführer – neben der Erfüllung weiterer Zulässigkeitsvoraussetzungen – von der angegriffenen Norm selbst, gegenwärtig und unmittelbar in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten betroffen sein (§ 90 Abs. 1 BVerfGG). Die gegenwärtige Betroffenheit setzt grundsätzlich ein in Kraft getretenes Gesetz voraus, da der Norm erst ab diesem Zeitpunkt Rechtswirkung zukommt. Lediglich in Ausnahmefällen kann die Verfassungsbeschwerde bereits gegen verkündete, aber noch nicht in Kraft getretene Gesetze erhoben werden: Das Bundesverfassungsgericht hält eine gegenwärtige Beschwer zur Sicherstellung effektiven Grundrechtsschutzes dann bereits vor Inkrafttreten für gegeben, wenn die künftigen Rechtswirkungen bereits gegenwärtig klar abzusehen und für den Beschwerdeführer gewiss sind.10 7 Vgl. Lenz/Hansel, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1. Aufl. 2013, § 80 Rn. 52; Detterbeck in: Sachs, Grundgesetz , 7. Aufl. 2014, Art. 100, Rn. 8. 8 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rn. 775; Lenz/Hansel, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1. Aufl. 2013, § 80 Rn. 52. 9 Nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG i.V.m. §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG können auch Gemeinden und Gemeindeverbände Verfassungsbeschwerde gegen Bundesgesetze einlegen, sofern sie sich in ihrem Recht auf Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 GG) verletzt fühlen und die Norm den Beschwerdeführer selbst, gegenwärtig und unmittelbar betrifft und damit beschwert (BVerfGE 107, 1 [8]). Zur gegenwärtigen Betroffenheit ist auf die obigen Ausführungen zu verweisen, vgl. Lenz/Hansel, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1. Aufl. 2013, § 91 Rn. 26 f. 10 BVerfGE 108, 370 (385) m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 145/15 Seite 5 2.4. Zwischenergebnis Damit bleibt festzuhalten, dass es Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gibt, mittels derer bereits vor Inkrafttreten Rechtsschutz gegen Bundesgesetze begehrt werden kann. Regelmäßig ist dies der Fall bei Verfahren der abstrakten Normenkontrolle,11 unter bestimmten Voraussetzungen auch bei Verfassungsbeschwerden.12 3. Einstweilige Anordnung gegen das Inkrafttreten eines Bundesgesetzes Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Das Tatbestandsmerkmal „im Streitfall“ bringt die Akzessorietät des einstweiligen Rechtsschutzes zum Hauptsacheverfahren zum Ausdruck. Das bedeutet insbesondere, dass das Hauptsacheverfahren nicht von vornherein unzulässig sein darf. Im vorliegenden Zusammenhang kommen damit einstweilige Anordnungen gegen noch nicht in Kraft getretene Gesetzes allenfalls dann in Betracht, wenn das Hauptsacheverfahren eine abstrakte Normenkontrolle oder eine Verfassungsbeschwerde ist. Bereits verkündete, aber noch nicht in Kraft getretene Gesetze können Gegenstand eines Antrags sein, durch einstweilige Anordnung das Inkrafttreten auszusetzen.13 Darüber hinaus können in Ausnahmefällen auch noch nicht verkündete Gesetze Gegenstand eines Antrags nach § 32 BVerfGG sein. Voraussetzung14 hierfür ist, dass – der Inhalt des Gesetzes feststeht, – die Verkündung unmittelbar bevorsteht, – das Gesetzgebungsverfahren im Übrigen vollständig abgeschlossen ist, was auch die Prüfung durch den Bundespräsidenten vor der Ausfertigung nach Art. 82 Abs. 1 GG einschließt, 11 Vgl. oben unter 2.1. 12 Vgl. oben unter 2.3. 13 BVerfGE 104, 51 (55); vgl. Lenz/Hansel, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1. Aufl. 2013, § 32 Rn. 20. 14 Vertiefend zu den Voraussetzungen Lenz/Hansel, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1. Aufl. 2013, § 32 Rn. 21 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 145/15 Seite 6 – das Inkrafttreten so zeitnah nach der Verkündung zu erwarten ist, dass in der dazwischen liegenden Zeit voraussichtlich kein effektiver einstweiliger Grundrechtsschutz zu erlangen ist.15 Erleichterte Maßstäbe gelten wiederum zur Vermeidung einer völkerrechtlichen Bindung bei Vertragsgesetzen nach Art. 59 Abs. 2 GG.16 15 BVerfGE 131, 47 (53). 16 Vgl. Lenz/Hansel, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1. Aufl. 2013, § 32 Rn. 23.