© 2019 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 143/19 Beobachtung von Gewerkschaften durch Verfassungsschutzbehörden Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 143/19 Seite 2 Beobachtung von Gewerkschaften durch Verfassungsschutzbehörden Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 143/19 Abschluss der Arbeit: 18.06.2019 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 143/19 Seite 3 1. Fragestellung Die Ausarbeitung thematisiert Fragen zur inneren Verfasstheit von Gewerkschaften. Dabei wird sowohl auf die allgemeinen Folgen einer möglichen verfassungsfeindlichen gewerkschaftlichen Betätigung eingegangen als auch die Möglichkeit einer Beobachtung von Gewerkschaften durch die Verfassungsschutzbehörden dargestellt. 2. Vorbemerkung Gemäß Art. 9 Abs. 1 GG haben alle Deutschen das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden (Vereinigungsfreiheit). Der verfassungsrechtliche Begriff der Vereinigung ist deckungsgleich mit dem Vereinsbegriff in § 2 Abs. 1 Vereinsgesetz (VereinsG).1 Demnach setzt das Vorliegen einer Vereinigung ohne Rücksicht auf die Rechtsform voraus, dass sich eine Mehrheit natürlicher oder juristischer Personen für längere Zeit zu einem gemeinsamen Zweck freiwillig zusammengeschlossen und einer organisierten Willensbildung unterworfen hat. Die in Art. 9 Abs. 3 GG geregelte Koalitionsfreiheit ist ein Unterfall der allgemeinen Vereinigungsfreiheit des Art. 9 Abs. 1 GG.2 Die Koalitionsfreiheit gewährleistet das Recht, sich in Koalitionen auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite zusammenzuschließen und auf die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Einfluss zu nehmen. Unter Vereinigungen sind bei Art. 9 Abs. 3 GG daher die Berufsverbände der Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu verstehen, mithin die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände.3 3. Verfassungsfeindlichkeit von Gewerkschaften Das Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG ist ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht. Es kann im Einzelfall allein durch die Grundrechte Dritter oder andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechte eingeschränkt werden.4 Grenzen der Koalitionsfreiheit ergeben sich insbesondere aus dem Schrankenvorbehalt des Art. 9 Abs. 2 GG, der nach h.M. auch für Art. 9 Abs. 3 GG unmittelbar gilt.5 Dieser regelt, dass die Ausübung des Koalitionsrechts im Einklang mit den Strafgesetzen , der verfassungsmäßigen Ordnung und dem Gedanken der Völkerverständigung erfolgen muss. Vereinigungen, die hiergegen verstoßen, sind verboten. Mit der Anwendung der Schrankenregelung des Art. 9 Abs. 2 GG in Bezug auf Gewerkschaften hat sich die Rechtsprechung bisher noch nicht befasst.6 Folgt man der aufgezeigten h.M. in der Literatur, könnten auch Gewerkschaften, die die Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 GG erfüllen, verboten werden. 1 Cornils, in: Epping/Hillgruber, 40. Edt. Stand: 15.11.2017, Art. 9 GG Rn. 5. 2 Scholz, in: Maunz/Düring, Stand: 86. EL Januar 2019, Art. 9 GG Rn. 1. 3 Scholz, in: Maunz/Düring, Stand: 86. EL Januar 2019, Art. 9 GG Rn. 3. 4 BVerfGE 84, 212 (228) m.w.N. 5 Scholz, in: Maunz/Düring, Stand: 86. EL Januar 2019, Art. 9 GG Rn. 337. 6 Vgl. Cornils, in: Epping/Hillgruber, 40. Edt. Stand: 15.11.2017, Art. 9 GG Rn. 84. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 143/19 Seite 4 4. Beobachtung von Gewerkschaften durch die Verfassungsschutzbehörden Inwieweit auch Gewerkschaften durch die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder beobachtet werden dürfen, richtet sich nach den gesetzlichen Grundlagen. Hierzu müssten Gewerkschaften zunächst überhaupt als Beobachtungsobjekte in Betracht kommen und darüber hinaus auch die materiellrechtlichen Anforderungen für eine entsprechende Beobachtung erfüllen. Die nachfolgenden Ausführungen zeigen hierfür den allgemeinen Rahmen auf, ohne den Anspruch der Vollständigkeit zu erheben. Die Beobachtung einer Gewerkschaft durch die Verfassungsschutzbehörden stellt einen komplexen Vorgang dar, der im Einzelfall mit zahlreichen tatsächlichen und rechtlichen Problemen einhergeht. 4.1. Gewerkschaften als Beobachtungsobjekte Aufgabe der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und Länder ist es insbesondere gem. § 3 Abs. 1 Nr. 1 des Bundesverfassungsschutzgesetzes (BVerfSchG) Informationen über Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind, zu sammeln und auszuwerten. Unter Bestrebungen sind nach der gesetzlichen Definition gem. § 4 Abs. 1 BVerfSchG Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluss zu verstehen. Ein Personenzusammenschluss nach § 4 Abs. 1 BVerfSchG ist in Abgrenzung zur Einzelperson jede Personenmehrheit, unabhängig von ihrer Rechtsform, in der eine Mehrheit von Personen einen gemeinsamen Zweck verfolgt.7 Vereinigungen gemäß Art. 9 Abs. 1 GG sind stets Personenzusammenschlüsse . Denn auch sie setzen eine Personenmehrheit voraus, die für längere Zeit einen gemeinsamen Zweck verfolgt. Der Begriff der Personenmehrheit ist überdies umfassender als der der Vereinigung, denn er setzt keine organisierte Willensbildung voraus. Im Ergebnis sind daher auch Gewerkschaften Personenzusammenschlüsse i.S.d. § 4 Abs. 1 BVerfSchG. Die Tätigkeit einer Gewerkschaft kann damit theoretisch auch Gegenstand einer Sammlung und Auswertung von Informationen durch die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder sein. 4.2. Voraussetzungen einer Beobachtung Rechtsgrundlage für die Beobachtung von Personenzusammenschlüssen – und somit auch von Gewerkschaften – durch das Bundesamt für Verfassungsschutz sind § 8 BVerfSchG als Generalbefugnis sowie die Spezialermächtigungen der §§ 8a ff. BVerfSchG und § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Artikel 10-Gesetzes (G 10). Die Ermächtigungen knüpfen an den in § 3 BVerfSchG definierten Aufgabenbereich der Verfassungsschutzbehörden an. Die Befugnisse des Verfassungsschutzes dienen wie bereits aufgeführt dazu, Informationen über bestimmte Bestrebungen zu sammeln und auszuwerten. Die genannten Bestrebungen müssen dabei in oder für einen Personenzusammenschluss erfolgen. Voraussetzung ist zunächst, dass der Personenzusammenschluss darauf gerichtet ist, das jeweilige Schutzgut zu beseitigen, zu beeinträchtigen oder außer Geltung zu setzen.8 Ein Personenzusammenschluss richtet sich dann gegen die jeweiligen Schutzgüter, wenn es sein Ziel ist, eines 7 Roth, in: Schenke/Graulich/Ruthig (Hrsg.), Sicherheitsrecht des Bundes, 2. Aufl. 2019, § 4 BVerfSchG Rn. 7. 8 BVerwG NVwZ 2011, 161 (170 f.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 143/19 Seite 5 der geschützten Rechtsgüter zu beeinträchtigen und die Beseitigung oder Beeinträchtigung ein maßgeblicher Zweck des Personenzusammenschlusses ist. Es kommt nicht darauf an, welche politischen oder sonstigen Ziele er darüber hinaus verfolgt.9 Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist es erforderlich, dass – neben der Durchsetzung des Hauptziels – die Rechtsgutsbeeinträchtigung ein maßgeblicher Zweck der Bestrebung des Personenzusammenschlusses ist. Nicht ausreichend sind demgegenüber die bloße Inkaufnahme einer entsprechenden Gefährdung sowie die bloße Übereinstimmung oder Sympathie mit den Zielen einer verfassungsfeindlichen Organisation und die wissenschaftliche Beschäftigung mit einer extremistischen Theorie. Die Mitglieder des Zusammenschlusses müssen vielmehr auf den Erfolg der Rechtsgüterbeeinträchtigung hinarbeiten.10 Neben dem verfolgten Zweck der Rechtsgutsbeeinträchtigung, kann sich die Ausrichtung gegen ein Schutzgut auch aus der objektiv verfassungsfeindlichen Betätigung des Personenzusammenschlusses ergeben. Hierbei kommt es nicht auf die subjektive Ansicht der Mitglieder und Funktionäre des Zusammenschlusses an, wenn der Personenzusammenschluss die Schutzgüter tatsächlich beeinträchtigt oder gefährdet.11 Mithin kann eine Gewerkschaft im Ganzen nur dann von den Verfassungsschutzbehörden beobachtet werden, wenn sie sich verfassungsfeindlich betätigt oder eine entsprechende Zielrichtung verfolgt. Dafür müssen Anhaltspunkte von hinreichendem Gewicht und in ausreichender Zahl bestehen. Vereinzelte verfassungsfeindliche Entgleisungen lediglich einzelner Mitglieder oder Gruppierungen reichen hierfür nicht aus.12 *** 9 Roth, in: Schenke/Graulich/Ruthig (Hrsg.), Sicherheitsrecht des Bundes, 2. Aufl. 2019, § 4 BVerfSchG Rn. 12. 10 BVerwG NVwZ 2011, 161 (169). 11 Roth, in: Schenke/Graulich/Ruthig (Hrsg.), Sicherheitsrecht des Bundes, 2. Aufl. 2019, § 4 BVerfSchG Rn. 13. 12 BVerwG, Urteil vom 18. Mai 2001 – 2 WD 42/00 –, juris Rn. 14; Roth, in: Schenke/Graulich/Ruthig (Hrsg.), Sicherheitsrecht des Bundes, 2. Aufl. 2019, § 3, 4 BVerfSchG Rn. 102.