Deutscher Bundestag Sind Finanzhilfen der EU an Griechenland durch deutsche Zustimmungsakte zu den Europäischen Verträgen gedeckt und könnte dies vom Bundesverfassungsgericht überprüft werden? Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste © 2010 Deutscher Bundestag WD 3 – 3000 – 143/10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 143/10 Seite 2 Sind Finanzhilfen der EU an Griechenland durch deutsche Zustimmungsakte zu den Europäischen Verträgen gedeckt und könnte dies vom Bundesverfassungsgericht überprüft werden? Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 – 3000 – 143/10 Abschluss der Arbeit: 4. Mai 2010 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 143/10 Seite 3 Inhalt 1. Zusammenfassung............................................................................. 4 2. Diskussion über Hilfen für Griechenland ....................................... 5 3. Deutscher Zustimmungsakt zu Beistandsmaßnahmen................... 8 3.1. No-bail-out-Klausel ........................................................................... 9 3.2. Beistandsgewährung........................................................................ 11 3.3. Zwischenergebnis............................................................................ 12 4. Überprüfung von Beistandsmaßnahmen durch das Bundesverfassungsgericht .............................................................. 12 4.1. Gerichtliche Kompetenz zur Prüfung von Maßnahmen der Europäischen Union........................................................................ 12 4.1.1. Europäischer Gerichtshof................................................................ 12 4.1.2. Ultra-vires- und Identitätskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht............................................................... 13 4.1.2.1. Geltendmachung einer Verletzung von Artikel 38 Abs. 1 GG....... 14 4.1.2.2. Geltendmachung einer Verletzung von Artikel 14 GG .................. 18 4.2. Gerichtliche Kompetenz zur Prüfung nationaler (freiwilliger) Beistandsmaßnahmen ..................................................................... 19 4.2.1. Rüge eines Verstoßes gegen Europäische Verträge ........................ 19 4.2.2. Rüge eines Verstoßes gegen das Grundgesetz ................................ 19 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 143/10 Seite 4 1. Zusammenfassung Eine freiwillige bilaterale Hilfsmaßnahme zur Abwendung der Zahlungsunfähigkeit Griechenlands durch die Bundesrepublik Deutschland ist von keinem deutschen Zustimmungsakt zu den Europäischen Verträgen abhängig. Ob Hilfsmaßnahmen durch die Europäische Union oder die Mitgliedstaaten gegen die Europäischen Verträge verstießen, ist streitig. Solcherlei Maßnahmen dürfen jedenfalls keinen Anreiz zu einem Abweichen von stabilitätsorientierter Fiskalpolitik schaffen. Dies könnte dadurch gewährleistet werden, dass Maßnahmen nicht automatisch und nur unter strikten Bedingungen erfolgen. Soweit ein Beistand der Europäischen Union mit den Europäischen Verträgen vereinbar ist, ist er durch das deutsche Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon gedeckt. Für eine rechtliche Überprüfung von Akten der Europäischen Union ist ausschließlich der Europäische Gerichtshof zuständig. Das Bundesverfassungsgericht behält sich jedoch vor zu prüfen, ob sich Rechtsakte der Organe der Union in den Grenzen der ihnen durch deutschen Zustimmungsakt eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen „ausbrechen “. „Ausbrechende Rechtsakte“ sind in Deutschland unanwendbar. Die Konzeption der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft war Gegenstand des deutschen Zustimmungsgesetzes . Ohne deutsche Zustimmung darf die Stabilitätsgemeinschaft nicht „aufgeweicht “ werden. Dem steht jedoch eine Fortentwicklung der europäischen Integration zur Besitzstandswahrung und „wirksamen Kompetenzauslegung“ nicht entgegen. Eine darüber hinausgehende Auslegung der Kompetenzen der Union bedarf der zusätzlichen innerstaatlichen Legitimation durch ein Gesetz nach Artikel 23 Abs. 1 GG. Grundsätzlich können „ausbrechende Rechtsakte“ im Wege der Verfassungsbeschwerde angefochten werden. Der Beschwerdeführer müsste jedoch geltend machen, unmittelbar und gegenwärtig in seinen Rechten verletzt zu sein. Die Befürchtungen, durch Beistandsmaßnahmen entwickle sich die Währungsunion zu einer „Inflationsgemeinschaft“, sind hingegen potentiell und mittelbar. Wegen möglicher Verstöße gegen Europäisches Recht durch nationale Beistandsmaßnahmen kann das Bundesverfassungsgericht nicht angerufen werden. Innerstaatlich richtet sich die Zulässigkeit von Beistandsmaßnahmen nach Artikel 110 und 115 Abs. 1 GG. Ausgaben dürfen nur geleistet werden, wenn sie durch das Haushaltsgesetz bewilligt worden sind. Gewährleistungen bedürfen einer Ermächtigung durch Bundesgesetz. Verstöße hiergegen sind nicht ersichtlich. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 143/10 Seite 5 2. Diskussion über Hilfen für Griechenland Im Februar 2009 eröffnete die Kommission gegen einige Mitgliedstaaten der Europäischen Union, unter anderem gegen Griechenland, ein Defizitverfahren, weil wegen der kostspieligen Bankenrettung und der einbrechenden Konjunktur die nach den Europäischen Verträgen zulässige Neuverschuldungsgrenze von 3 % drohte, überschritten zu werden.1 Nach dem Regierungswechsel in Griechenland im Oktober 2009 stellte sich heraus, dass das griechische Staatsdefizit mit 12,7 % doppelt so hoch ausfallen würde, wie bislang geschätzt.2 Im November 2009 wurde Griechenland von den EU- Finanzministern wegen „Problemen mit den griechischen Finanzstatistiken“ gerügt.3 Am 2. Dezember 2009 hat der Rat festgestellt, dass die bisher von der griechischen Regierung eingeleiteten Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung nicht ausreichen.4 Gleichzeitig kamen Gerüchte auf, Griechenland drohe der Staatsbankrott. Von den Ratingagenturen wurde die Bonität Griechenlands deutlich herabgestuft. Seither muss Griechenland an den Finanzmärkten ungewöhnlich hohe Zinsen für Anleihen bezahlen.5 Seit Januar 2010 wird darüber diskutiert, ob die anderen Euro-Mitgliedstaaten Griechenland helfen sollten , um die Ausbreitung der Krise auf andere Länder abzuwehren.6 Diskutiert worden sind direkte und indirekte Finanzhilfen der Europäischen Union, der Europäischen Zentralbank und der Europäischen Investitionsbank. Laut Presseberichten hielt die deutsche Bundesregierung Nothilfen der Europäischen Union gegenüber Griechenland für mit den Europäischen Verträgen nicht vereinbar. Befürchtet würden Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht.7 Angedeutet hat dies die deutsche Bundeskanzlerin in ihrer Rede vor dem Deutschen Bundestag vom 17. März 1) Report from the Commission vom 18. 2. 2009, http://ec.europa.eu/economy_finance/sgp/pdf/30_edps/104-03/2009-02-18_el_104-3_en.pdf; zu den Verfahren gegen Frankreich, Lettland, Irland und Spanien, siehe: http://ec.europa.eu/economy_finance/sgp/deficit/countries/index_en.htm. 2) Frankfurter Allgemeine vom 3. 12. 2009, „Hausaufgaben für Griechenland“. 3) Pressemitteilung Nr. 15572/09 des Rates der Europäischen Union vom 10. 11. 2009; http://epp.eurostat.ec.europa.eu/cache/ITY_PUBLIC/COM_2010_REPORT_GREEK/DE/COM_2010_R EPORT_GREEK-DE.PDF. 4) ECOFIN 777, Ratsdokument Nr. 15766/109; http://ec.europa.eu/economy_finance/sgp/pdf/30_edps/104-08_council/2009-12-02_el_126- 8_council_con_en.pdf. 5) Frankfurter Allgemeine vom 3. 12. 2009, „Schuldner im Blick: Griechenland“. Frankfurter Allgemeine vom 9. 12. 2009, „Testfall für den Euro“. 6) Financial Times Deutschland vom 29. 1. 2010, „Berlin soll Griechenland helfen“. 7) Süddeutsche Zeitung vom 24. 3. 2010, „Knapp am Eklat vorbei“; Süddeutsche Zeitung vom 27./28. 3. 2010, „Wenn Gesandte geschickt sind“; Financial Times Deutschland vom 29. 3. 2010, „Zickzackkurz zur Integration“; vgl. auch: die tageszeitung vom 25. 3. 2010, „Mehr reinreden“; Handelsblatt vom 15. 4. 2010, „Schäuble lässt Griechen-Hilfen vom Bundestag absegnen“; Süddeutsche Zeitung vom 21. 4. 2010, „Eine Stütze für den Euro“; Frankfurter Allgemeine vom 29. 4. 2010, „Unter Aufsicht – Nicht nur im Fall Griechenland: Die deutsche Europapolitik achtet auf Karlsruhe“. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 143/10 Seite 6 2010 als sie sagte, „dass nichts gemacht werden kann, was gegen nationales Recht verstößt .“8 Inzwischen hat sich Deutschland auf EU-Ebene zu bilateralen Hilfen – mindestens politisch – verpflichtet, sollte Griechenland seine Schulden anderweitig nicht mehr bedienen können. Die Staats- und Regierungschefs der Euro-Mitgliedstaaten erklärten am 25. März 2010, sie seien bereit, „im Rahmen eines Pakets, das eine erhebliche Finanzierung durch den Internationalen Währungsfonds und einen Mehrheitsanteil aus europäischen Finanzmitteln umfasst, zu koordinierten bilateralen Darlehen beizutragen.“ Jede Auszahlung aus den bilateralen Darlehen müsse von den Mitgliedstaaten einstimmig beschlossen werden und sei an strenge Bedingungen zu knüpfen. Die Finanzmittel seien nicht zu durchschnittlichen Zinssätzen des Euro-Währungsgebiets bereitzustellen, sondern zu „nichtkonzessionären“ Zinssätzen, die kein Subventionselement enthielten.9 Um die Finanzstabilität in der Euro-Zone sicherzustellen, beschlossen die Finanzminister der Euro -Zone, die Europäische Zentralbank und die Europäische Kommission am 11. April 2010 ein dreijähriges Notfallprogramm und sicherten bilaterale Kredite von bis zu 30 Mrd. € in 2010 zu einem Zinssatz von ca. 5 % zu.10 Erfolgen sollen die Hilfen von deutscher Seite durch Kredite der Kreditanstalt für Wiederaufbau , die ihrerseits durch Gewährleistungen des Bundes abgesichert werden.11 Diese Gewährleistungen sollen nicht – wie üblich – per Nachtragshaushalt ins Haushaltsgesetz aufgenommen werden.12 Zunächst war erwogen worden, die Gewährleistung an das bereits im Gesetzgebungsverfahren befindliche Gesetz zu Abschaffung des Finanzplanungsrates anzuhängen.13 Inzwischen ist vorgesehen, in einem isolierten Gesetzgebungsverfahren einen eigenständigen Gesetzentwurf in den Bundestag einzubringen.14 Der Gesetzentwurf „zum Erhalt der Stabilität der Währungsunion“ ist am 3. Mai 2010 vom Bun- 8) PlenProt 17/30, S. 2719 (B). Ebenso in der Regierungserklärung vom 25. März 2010, PlenProt 17/34, S. 3097 (A). 9) Erklärung der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets vom 25. März 2010, http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/de/ec/113566.pdf. 10) Statement on the support to Greece by Euro area Member States, MEMO/10/123, vom 11. 4. 2010, http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=MEMO/10/123&format=HTML&aged=0&la nguage=EN&guiLanguage=en; reuters, Eurogroup statement on terms of Greek loans, 11. 4. 2010; Handelsblatt vom 15. 4. 2010, „Griechische Tragödie in drei Akten“; Handelsblatt vom 15. 4. 2010, „Schäuble lässt Griechen-Hilfen vom Bundestag absegnen“; Handelsblatt vom 20. 4. 2010, „Berlin will Athen mit Krediten helfen“ 11) Kampeter, Antwort der Bundesregierung, PlenProt 17/36, S. 3422 (A); Financial Times Deutschland vom 27. 4. 2010, „KfW kann Griechen-Hilfe stemmen“. 12) Kampeter, Antwort der Bundesregierung, PlenProt 17/36, S. 3422 (B), S. 3425 (B). 13) Kampeter, Antwort der Bundesregierung, PlenProt 17/36, S. 3422 (C); Handelsblatt vom 22. 4. 2010, „CDU/CSU: Unmut über Schäubles Griechenland-Strategie“; Der Tagesspiegel vom 22. 4. 2010, „Athen -Hilfen: Bundestag will mitreden“. 14) Kampeter, Antwort der Bundesregierung, PlenProt 17/36, S. 3422 (C), S. 3423 (A); Financial Times Deutschland vom 22. 4. 2010, „Union demontiert Schäuble“. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 143/10 Seite 7 deskabinett beschlossen worden und soll am 5. Mai in den Bundestag eingebracht werden .15 Soweit aus der Presse bekannt, wird von mehreren Einzelpersonen16 erwogen, im Falle der Gewährung von Finanzhilfen an Griechenland hiergegen beim Bundesverfassungsgericht zu klagen. Finanzhilfen an Griechenland stellten einen Verstoß gegen das in den Europäischen Verträgen festgeschriebene „Bail-out-Verbot“ dar.17 In seinem „Maastricht- Urteil“ habe das Bundesverfassungsgericht vorgetragene Bedenken nicht ernst genommenen , die durch die aktuelle Lage nunmehr bestätigt seien.18 Das Bundesverfassungsgericht habe die vertragliche Konstruktion über die Währungsunion nur als Stabilitätsgemeinschaft mit dem zentralen Element der No-bail-out-Klausel für zulässig erklärt. Diese sei nunmehr gefährdet.19 Die Griechenland-Hilfe verletzte das Grundrecht auf Eigentum, weil sie die Stabilität des Euro und damit Ersparnisse, Renten- und Pensionsansprüche gefährde.20 Andere sehen in der Hilfe eine „mögliche Veruntreuung von Steuergeldern und damit einen Fall für den Staatsanwalt“.21 Vor allem in Deutschland22 wird aus Artikel 125 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)23 ein striktes Beistandsverbot herausgelesen.24 Das Freiburger Centrum für Europäische Politik (CEP) hält „ein Bail-out durch bilaterale Kredite Deutschlands oder eines anderen Mitgliedstaates“ für „EU-rechtswidrig“. Kredite dürften nach Artikel 124 AEUV an Griechenland nur zu marktüblichen Konditionen vergeben werden. „Kredite zu einem politisch festgelegten Zinssatz, der unter den Marktkonditionen liegt, sind eine rechtswidrige Subvention“.25 Dem wird entgegengehalten, der Euro sei von Anfang an „ein politisches Projekt“ gewesen ; dies verbiete, sich auf die no-bail-out-Klausel zu konzentrieren.26 Der Präsident der 15) Videobotschaft der Bundeskanzlerin, http://www.bundesregierung.de/Content/DE/AudioVideo/2010/Video/2010-05-03-Streaming- Gesetzentwurf-Stabilitaet/2010-05-03-streaming-gesetzentwurf-stabilitaet.html. 16) Karl Albrecht Schachtschneider, Wilhelm Nölling, Joachim Starbatty und Wilhelm Hankel. 17) Handelsblatt vom 23. 2. 2010, „Vier Kläger fordern eine Revanche vor dem höchsten Gericht“. 18) Handelsblatt vom 23. 2. 2010, „Wir ziehen wieder nach Karlsruhe“. Starbatty, in: Frankfurter Allgemeine vom 22. 4. 2010, „Aus der Währungsunion wird eine Inflationsunion“. 19) Starbatty, in: Frankfurter Allgemeine vom 22. 4. 2010, „Aus der Währungsunion wird eine Inflationsunion “. 20) Schachtschneider, zitiert in: FOCUS vom 18. 4. 2010, „Staatsrechtler kündigt Verfassungsbeschwerde gegen Griechenlandhilfe an“. 21) Murswiek, zitiert in: FOCUS vom 18. 4. 2010, „Staatsrechtler kündigt Verfassungsbeschwerde gegen Griechenlandhilfe an“. 22) Barroso: „Specific German sensitivity in those matters“, in: Financial Times vom 23. 3. 2010, http://www.ft.com/cms/s/0/36484548-35c4-11df-963f-00144feabdc0.html. 23) ABl. 2009 C 115/99. 24) Frankfurter Allgemeine vom 26. 2. 2010, „Wer den Euro rettet“. 25) Jeck/Van Roosebeke, Centrum für Europäische Politik, Rechtsbruch durch Bail-out-Darlehen, Zu den Beschlüssen der Finanzminister der Euro-Staaten vom 11. April und vom 16. April 2010, S. 1. 26) Guérot, in: Süddeutsche Zeitung vom 21. 4. 2010. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 143/10 Seite 8 Europäischen Kommission sieht in der Gewährung bilateraler Darlehen keinen Verstoß gegen Artikel 125 AEUV. Das Verbot der Schuldübernahme bedeute nicht ein Verbot zu helfen („No bail out does not mean no help“). Wichtig sei aber, dass solche Hilfen unter strikten Bedingungen und keinesfalls automatisch erfolgten; dies beuge einem moral hazard vor.27 Nach Ansicht eines Direktors bei der Europäischen Zentralbank seien zwar Fiskaltransfers zwischen Ländern innerhalb der Euro-Zone verboten, temporäre Hilfen seien aber keine Verletzung des Vertrages.28 Der deutsche Bundesfinanzminister geht davon aus, dass kein Mitgliedstaat zu Zahlungen an andere verpflichtet werden dürfe; freiwillige Hilfen hingegen seien erlaubt.29 Durch bilaterale Hilfen werde die Beistandsklausel nicht umgangen.30 Für den Bundesbankpräsidenten dürfe es jedenfalls keinen Automatismus bei der Hilfe geben.31 Für den früheren Bundesfinanzminister Waigel besagt die no-bail-out-Klausel, dass es keine Pflicht zum Beistand gebe.32 Weder die Union als Ganzes noch einzelne Mitglieder hafteten für die öffentlichen Schulden anderer Länder. Durch diese Klausel werde ein haushaltspolitisches Wirtschaften zu Lasten anderer Länder unmöglich gemacht.33 Hilfe zur Selbsthilfe sei hingegen nicht ausgeschlossen; es wäre paradox, wenn Europa Griechenland nach dem Austritt aus dem Euro-Währungsgebiet helfen müsste, vorher aber Hilfe zur Selbsthilfe versagte.34 3. Deutscher Zustimmungsakt zu Beistandsmaßnahmen Das Handeln der Europäischen Union mit hoheitlicher Wirkung für Deutschland bedarf eines deutschen Zustimmungsaktes. Außerhalb des Zustimmungsaktes liegende Rechtsakte der Europäischen Union finden nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Deutschland keine Anwendung.35 Demgegenüber bedürfen (bilaterale) Maßnahmen der Bundesrepublik Deutschland, wie sie inzwischen beabsichtigt sind, keines gesonderten Zustimmungsaktes. Wird die Bundesrepublik Deutschland jedoch durch ein Organ der Europäischen Union zu bestimmten Maßnahmen verpflichtet, muss sich diese Verpflichtung für ihre rechtliche Wirksamkeit im Rahmen der erfolgten Zustimmungsakte halten. Die Zulässigkeit von Maßnahmen der Europäischen Union oder ihrer Mitglieder zum Beistand gegenüber Griechenland richtet sich nach den Vorschriften der Europäischen 27) Barroso: „Specific German sensitivity in those matters“, in: Financial Times vom 23. 3. 2010, http://www.ft.com/cms/s/0/36484548-35c4-11df-963f-00144feabdc0.html.. 28) Bini Smaghi, in: Die Zeit vom 25. 3. 2010, „Der Vertrag wird nicht verletzt“. 29) Schäuble, in: Der Spiegel vom 19. 4. 2010. 30) Schäuble, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. 3. 2010, „Erst die Strafe, dann der Fonds“. 31) Weber, in: Handelsblatt vom 21. 4. 2010, „IWF begrenzt Hilfen für Griechenland“. 32) Waigel, in: Handelsblatt vom 29. 4. 2010, „Nüchterne Analyse statt Hysterie über Griechenland“. 33) Waigel, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. 3. 2010, „Der Euro hält Europa zusammen“. 34) Waigel, in: Handelsblatt vom 29. 4. 2010, „Nüchterne Analyse statt Hysterie über Griechenland“. 35) BVerfGE 89, 155 [188, 195]; 123, 267 [354, 381 ff.]. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 143/10 Seite 9 Verträge über die Wirtschafts- und Währungspolitik, insbesondere nach den Artikel 122 bis 125 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Diese Vorschriften entsprechen inhaltlich weitgehend den Artikeln 101 bis 103 des bis zum Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon geltenden Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV)36. Dem AEUV hat Deutschland mit der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde zum Vertrag von Lissabon bei der Regierung der Italienischen Republik am 25. September 200937 zugestimmt. Der Zustimmung lag ein Bundesgesetz gemäß Artikel 23 GG zugrunde.38 Das Zustimmungsgesetz ist vom Bundesverfassungsgericht geprüft worden. Durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken hatte das Bundesverfassungsgericht nicht.39 Die Beistandsmaßnahmen der Europäischen Union wären von dem deutschen Zustimmungsakt nur dann nicht gedeckt, wenn sie den Bestimmungen des AEUV widersprächen . Ob und unter welchen Voraussetzungen die Europäische Union oder die Mitgliedstaaten einem in Schwierigkeiten geratenen Mitgliedsstaat Finanzhilfen gewähren können , ist umstritten.40 3.1. No-bail-out-Klausel Nach Artikel 125 AEUV haftet die Union nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein. Das gleiche gilt für die Mitgliedstaaten untereinander. Der Rat kann die Definitionen und das Verbot in dieser Vorschrift näher bestimmen. Die Vorschrift steht im Zusammenhang mit den Bestimmungen der Artikel 123 und 124 AEUV. Artikel 123 AEUV verbietet den Zentralbanken, den Mitgliedstaaten Kredite zu gewähren. Nach Artikel 124 AEUV sind Maßnahmen, die einen bevorrechtigten Zugang der Zentralregierungen zu den Finanzinstituten schaffen, verboten. Den Bestimmungen in den Artikeln 123 bis 125 AEUV gemein ist, dass die Mitgliedstaaten zu Haushaltsdisziplin angehalten werden sollen, indem sie auf die Bedingungen und Spielregeln des Finanzmarktes verwiesen werden. Zweck des Haftungsausschlusses in Artikel 125 Abs. 1 AEUV ist es, die Mitgliedstaaten dadurch zur Disziplin in der Finanzpolitik anzuhalten, dass sie nicht mit einer Schuldübernahme oder Haftung durch die Gemeinschaft oder einen anderen Mitgliedstaat rech- 36) Konsolidierte Fassung siehe: ABl. 2006 C 321 E/83 ff. 37) Bekanntmachung vom 13. November 2009 über das Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon vom 13. Dezember 2007 (BGBl. II S. 1223). 38) Gesetz vom 8. Oktober 2008 (BGBl. II S. 1038). 39) BVerfGE 123, 267 [339]. 40) , Finanzielle Hilfen für Mitgliedstaaten insbesondere nach Artikel 122 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, WD 11 – 3000 – 30/10, S. 6 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 143/10 Seite 10 nen können.41 Da so die Möglichkeit eines Staatsbankrotts von den Teilnehmern der Finanzmärkte ins Kalkül zu ziehen sei, wird angenommen, dass ein Staat angesichts einer drohenden Verschlechterung der Finanzierungsbedingungen rechtzeitig ein Haushaltsanpassungsprogramm herbeiführt.42 Die Aussicht höherer Zinsen übe Druck auf die Mitgliedstaaten aus, eine solide Wirtschafts- und Haushaltspolitik zu betreiben.43 Manche Finanzwissenschaftler dringen daher auf eine strenge Auslegung dieser Bestimmung.44 Aus der Entstehungsgeschichte der Vertragsbestimmung wird geschlossen, dass nicht nur die Haftung ausgeschlossen wird, sondern es schlichtweg verboten sei, einem anderen Mitgliedstaat zur Hilfe zu kommen.45 Anders als der Vertragsentwurf verbiete der endgültige Vertragstext die freiwillige Übernahme von Verbindlichkeiten anderer Mitgliedstaaten .46 Dem wird die Vertragssystematik und der Wortlaut entgegen gehalten. Während die Vorschriften in Artikel 123 und 124 AEUV ausdrückliche Verbote enthielten, werde nach Artikel 125 Abs. 1 AEUV nichts „verboten“.47 Gegen diese Wortlautinterpretation spricht allerdings, dass in Abs. 2 der Vorschrift von einem Verbot die Rede ist, das sich auch auf Abs. 1 bezieht. Ein Mitglied der deutschen Delegation bei der Maastrichter Konferenz im Jahr 1991 hält die Europäische Union sogar durch die Flexibilitätsklausel des Artikel 352 AEUV für befugt , einem Mitgliedstaat, der von einem Bankrott bedroht wird, finanzielle Unterstützung zu gewähren; die Inanspruchnahme dieser Klausel dürfe allerdings nicht zu einer „absoluten Aushöhlung“ der no-bail-out-Klausel führen, weil dies auf eine Vertragsänderung hinausliefe. Daher dürfte die Hilfe der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten dann ausgeschlossen sein, wenn es an sichtbar wirksamen und nachhaltigen eigenen Anstrengungen zur Abwendung des Staatsbankrotts des in Not geratenen Mitgliedstaates fehle.48 Nach ihrem Wortlaut bezieht sich Artikel 125 Abs. 1 AEUV auf das Haften oder Eintreten für „Verbindlichkeiten“ (im Englischen: commitments; im Französischen: engagements). Hiervon nicht umfasst sein dürfte das konditionierte Gewähren von Krediten oder Bürgschaften , denn hierfür sehen die Artikel 123 und 124 AEUV Sonderregelungen vor. 41) Bandilla, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 2009, Art. 103 EGV, Rn. 1; Pernice, in: Frankfurter Allgemeine vom 25. 3. 2010, „Rettung statt Rausschmiss“. 42) Gnan, in: Groeben/Schwarze, Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 2003, EG Art. 103, Rn. 2 f. 43) Häde, Haushaltsdisziplin und Solidarität im Zeichen der Finanzkrise, EuZW2009, S. 399 [402]. 44) Kerber, Währungsunion mit Finanzausgleich, Europolis vom 29. 4. 2010. 45) Gnan, in: Groeben/Schwarze, Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 2003, EG Art. 103, Rn. 23. 46) Gnan, in: Groeben/Schwarze, Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 2003, EG Art. 103, Rn. 14. 47) Pernice, in: Frankfurter Allgemeine vom 25. 3. 2010, „Rettung statt Rausschmiss“. 48) Seidel, Der Euro – Schutzschild oder Falle?, ZEI Working Papers, B 01 2010. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 143/10 Seite 11 3.2. Beistandsgewährung Abweichend von der no-bail-out-Klausel kann der Rat nach Artikel 122 Abs. 2 AEUV einem Mitgliedstaat, der aufgrund von außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht ist, finanziellen Beistand der Union gewähren. Mit der Beschränkung der Hilfemöglichkeit auf Ereignisse, die sich der Kontrolle des in Schwierigkeiten geratenen Mitgliedstaates entziehen, soll verhindert werden, dass falsche Anreize (moral hazard) gesetzt werden.49 Umstritten ist, ob zu den außergewöhnlichen Ereignissen auch der drohende Staatsbankrott zählt. Für diese Ansicht wird vorgebracht, der Wortlaut der Vorschrift verlange nicht, dass die Schwierigkeiten unverschuldet sein müssen.50 Ob die Probleme selbst verursacht sind oder nicht, spiele also für die Möglichkeit des Beistands keine Rolle.51 In Betracht kämen auch Schwierigkeiten, die sich auf eine verfehlte Wirtschaftspolitik zurückführen lassen.52 Auch eine selbst verschuldete Schuldenkrise könne zu einem Beistand führen.53 Normalerweise könne ein zu hohes Haushaltsdefizit nicht als außergewöhnliches Ereignis eingestuft werden. Drohe aber wegen einer akuten Finanz- und Wirtschaftskrise die Insolvenz, schließe auch eine vorangegangene unvernünftige Schuldenpolitik nicht aus, dass das außergewöhnliche Ereignis der Finanz- und Wirtschaftskrise für die Insolvenz ursächlich ist.54 Die Gegenauffassung hält wegen der Machtbefugnis eines jeden Staates zur Besteuerung und zur Ausgabenkürung die eigene Haushaltslage für stets kontrollierbar. Auch Wirtschaftskrisen seien ein Ereignis, dem eine verantwortliche Staatsführung gewachsen sein müsse.55 Die Form des Beistands ist nicht näher bestimmt.56 Als möglicher Beistand könnten somit auch Kredite zu Vorzugsbedingungen, Bürgschaften, Zuschüsse, Beihilfen sowie jede andere Art von finanziellen Transfers in Betracht kommen.57 Dem wird entgegen gehalten , bei der Vorschrift sei an die Mitfinanzierung bestimmter öffentlicher Dienstleistungen wie der Krankenversorgung und ähnlicher unerlässlicher öffentlicher Leistungsangebote gedacht worden.58 49) Gnan, in: Groeben/Schwarze, Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 2003, EG Art. 103, Rn. 28. 50) Bandilla, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 2009, Art. 100 EGV, Rn. 10; Häde, in: Calliess/Ruffert, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, 2007, EGV Art. 103, Rn. 7. 51) Häde, in: Calliess/Ruffert, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, 2007, EGV Art. 100, Rn. 5. 52) Häde, in: Calliess/Ruffert, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, 2007, EGV Art. 100, Rn. 8. 53) Häde, in: Calliess/Ruffert, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, 2007, EGV Art. 103, Rn. 7. 54) Häde, Haushaltsdisziplin und Solidarität im Zeichen der Finanzkrise, EuZW2009, S. 399 [401] m.w.Nw. 55) Seidel, Der Euro – Schutzschild oder Falle?, ZEI Working Papers, B 01 2010. 56) Häde, in: Calliess/Ruffert, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, 2007, EGV Art. 100, Rn. 5. 57) Bandilla, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 2009, Art. 100 EGV, Rn. 11. 58) Seidel, Der Euro – Schutzschild oder Falle?, ZEI Working Papers, B 01 2010. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 143/10 Seite 12 Artikel 122 Abs. 2 AEUV erlaubt nach seinem Wortlaut nur der Union, Beistand zu leisten . Hilfsmaßnahmen der anderen Mitgliedstaaten sollen daher nicht möglich sein.59 Dieser Schluss ist nicht zwingend. Artikel 122 Abs. 2 AEUV ist eine Befugnisnorm, ohne die ein Tätigwerden der Union nicht zulässig wäre. Ein Tätigwerden der Mitgliedstaaten hingegen bedarf keiner europäischen Befugnisnorm. Eine solche wäre in den Europäischen Verträgen systemwidrig. Befugnisnormen für das Tätigwerden der Mitgliedstaaten finden sich in ihren jeweiligen Verfassungen. 3.3. Zwischenergebnis Eine freiwillige bilaterale Hilfsmaßnahme durch die Bundesrepublik Deutschland ist von keinem Zustimmungsakt Deutschlands zu den Europäischen Verträgen abhängig. Ob Hilfsmaßnahmen zur Abwendung der Zahlungsunfähigkeit Griechenlands durch die Europäische Union oder die Mitgliedstaaten gegen die Europäischen Verträge verstießen, ist streitig. Solche Maßnahmen dürfen jedenfalls keinen Anreiz zu einem Abweichen von strikter Haushaltsdisziplin schaffen. Dies könnte dadurch gewährleistet sein, dass die Maßnahmen nicht automatisch und nur unter strikten Bedingungen erfolgen. Soweit ein Beistand der Europäischen Union mit den Europäischen Verträgen vereinbar ist, ist er durch das deutsche Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon gedeckt. 4. Überprüfung von Beistandsmaßnahmen durch das Bundesverfassungsgericht Zu unterscheiden ist zwischen Handlungen der Europäischen Union und bilateralen Handlungen der Mitgliedstaaten. 4.1. Gerichtliche Kompetenz zur Prüfung von Maßnahmen der Europäischen Union 4.1.1. Europäischer Gerichtshof Für die rechtliche Überprüfung von Akten der Europäischen Union ist gemäß Artikel 19 EUV und Artikel 344 AEUV allein der Europäische Gerichtshof zuständig.60 Nationale Gerichte sind nicht befugt, Handlungen der Gemeinschaftsorgane für ungültig zu erklären .61 Ein nationales Gericht, dessen Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, ist in einer Frage über die Gültigkeit der 59) Häde, in: Calliess/Ruffert, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union, 2007, EGV Art. 100, Rn. 6. 60) EUGH, 22. 10. 1987 – Rs 314/85, NJW 1988, S. 1451; so auch: Sauer, Kompetenz- und Identitätskontrolle von Europarecht nach dem Lissabon-Urteil, ZRP 2009, S. 195 [196]; Lenz, Brauchen wir ein neues Kontrollverfahren für das Recht der Europäischen Union vor dem BVerfG?, ZRP 2010, S. 22 [23]. 61) EUGH, 22. 10. 1987 – Rs 314/85, NJW 1988, S. 1451. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 143/10 Seite 13 Handlungen der Unionsorgane und die Auslegung der Verträge nach Artikel 267 Satz 3 AEUV verpflichtet, diese Frage dem Gerichtshof der Europäischen Union vorzulegen . Damit hat der Europäische Gerichtshof im Verhältnis zu den Gerichten der Mitgliedsstaaten die abschließende Entscheidungsbefugnis über die Auslegung des Vertrages sowie über die Gültigkeit und die Auslegung der dort genannten abgeleiteten unionsrechtlichen Akte. Die Verpflichtung deutscher Gerichte zur Anrufung des Europäischen Gerichtshofs ist durch das deutsche Verfassungsrecht sanktioniert. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der Europäische Gerichtshof gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.62 Das Bundesverfassungsgericht stellt sicher, dass Fachgerichte ihrer Pflicht nachkommen, dem Gerichthof der Europäischen Union Streitigkeiten vorzulegen , um dem Unionsrecht Vorrang vor entgegenstehendem nationalen Recht einzuräumen .63 4.1.2. Ultra-vires- und Identitätskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht Das Bundesverfassungsgericht hält sich für befugt zu prüfen, ob sich Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen „ausbrechen“ (ultra-vires-Kontrolle).64 Dazu gehöre auch eine Auslegung des Unions-Vertrages, die einer Vertragserweiterung gleichkomme. Eine solche Auslegung von Befugnisnormen würde für Deutschland keine Bindungswirkung entfalten.65 Darüber hinaus prüft das Bundesverfassungsgericht, ob der unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes gewahrt ist.66 Nach seinem Verständnis übt das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht in Deutschland in einem „Kooperationsverhältnis “ zum Europäischen Gerichtshof aus.67 Von den Kritikern eines Beistands der Europäischen Union oder ihrer Mitglieder wird an die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in den Entscheidungen über das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Maastricht68 und zur Einführung des Euro69 erinnert. Die vom Bundesverfassungsgericht aufgezählten Sicherungen für die Stabilität der Währungsunion könnten ein Beleg für das Überschreiten der Zustimmungsakte der Bundesrepublik Deutschland zur den Verträgen sein. 62) BVerfGE 73, 339 [366 ff.]; 75, 223 [233 f.]; 82, 159 [192]. 63) Voßkuhle, in: Frankfurter Allgemeine v. 22. 4. 2010, „Fruchtbares Zusammenspiel“. 64) BVerfGE 89, 155 [188, 195]; 123, 267 [354, 381 ff., 399 f.] 65) BVerfGE 89, 155, 6. Leitsatz; BVerfGE 123, 267 [400]. 66) BVerfGE 123, 267 [344], 4. Leitsatz. 67) BVerfGE 89, 155, 7. Leitsatz. 68) Urteil des Zweiten Senats vom 12. 10. 1993 – 2 BvR 2134, 2159/92 –, BVerfGE 89, 155. 69) Beschluss des Zweiten Senats vom 31. 3. 1998 – 2 BvR 1877/97, 50/98 –, BVerfGE 97, 350. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 143/10 Seite 14 In seiner Entscheidung vom 12. Oktober 1993 zum Vertrag von Maastricht hat das Bundesverfassungsgericht ausführlich auf die Vorschriften des Vertrages zur Sicherstellung der Stabilität der Währung hingewiesen. Die Währungsunion sei als Stabilitätsgemeinschaft konzipiert, welche vorrangig Preisstabilität zu gewährleisten habe.70 Die Europäische Zentralbank sei auf das vorrangige Ziel der Sicherung der Preisstabilität verpflichtet .71 Der Eintritt in die Wirtschafts- und Währungsunion setzte dauerhafte Konvergenz der Mitgliedstaaten voraus. Die Konvergenzkriterien stünden nicht zur Disposition des Rates72 und könnten nicht ohne Mitwirkung des Deutschen Bundestages aufgeweicht werden.73 Die Befürchtung eines Fehlschlags der Stabilitätsbemühungen, der sodann weitere finanzpolitische Zugeständnisse der Mitgliedstaaten zur Folge haben könnte, sei jedoch „zu wenig greifbar, als dass sich daraus die rechtliche Unbestimmtheit des Vertrages ergäbe.“74 Beim Scheitern der Stabilitätsgemeinschaft stünden die Verträge „auch einer Lösung aus der Gemeinschaft nicht entgegen“.75 Diese Konzeption der Währungsunion sei Gegenstand des deutschen Zustimmungsgesetzes; handle die Währungsunion nicht in diesem Sinne, verlasse sie die vertragliche Konzeption.76 Ohne deutsche Zustimmung – und ohne maßgebliche Mitwirkung des Deutschen Bundestages – könnten die Konvergenzkriterien nicht aufgeweicht werden.77 Das Bundesverfassungsgericht setzte sich mit der Frage auseinander, ob durch die Einführung des Euro Artikel 38 Abs. 1 GG verletzt wird, der das durch Verfassungsbeschwerde einklagbare Recht gewährleiste, „durch die Wahl an der Legitimation von Staatsgewalt teilzunehmen und auf deren Ausübung Einfluss zu gewinnen“.78 Es hatte zu entscheiden, ob die für den Fall der Euro-Einführung angenommene Inflationsgefahr die Eigentumsgarantie verletzt.79 Beiden Entscheidungen lagen Verfassungsbeschwerden zugrunde.80 4.1.2.1. Geltendmachung einer Verletzung von Artikel 38 Abs. 1 GG In der Maastricht-Entscheidung sah das Bundesverfassungsgericht vom Beschwerdeführer hinreichend dargelegt, dass sein Recht aus Artikel 38 Abs. 1 GG durch die Übertragung von Hoheitsrechten verletzt sein könnte. Der Sachbereich, auf den der demokratische Gehalt des Artikel 38 GG sich beziehe, sei berührt, wenn der Deutsche Bundestag Aufgaben und Befugnisse, insbesondere zur Gesetzgebung und zur Wahl und Kontrolle 70) BVerfGE 89, 155, [200]. 71) BVerfGE 89, 155, [201]. 72) BVerfGE 89, 155, [202]. 73) BVerfGE 89, 155, [203]. 74) BVerfGE 89, 155, [204]. 75) BVerfGE 89, 155, [204]. 76) BVerfGE 89, 155, [205]. 77) BVerfGE 89, 155, [203]. 78) BVerfGE 89, 155 [171, 182]; 97, 350 [368]. 79) so die Beschwerdeführer: BVerfGE 97, 350 [364]. 80) BVerfGE 89, 155 [157]; 97, 350 [351]. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 143/10 Seite 15 anderer Träger von Staatsgewalt, aufgebe.81 Der Unions-Vertrag erweitere nach dem Vorbringen des Beschwerdeführers die Kompetenzen des Rates und nehme dem Deutschen Bundestag Entscheidungskompetenzen, insbesondere im Rahmen der Währungsunion. Der Vertrag begründe für eine Reihe von Kompetenzen das Mehrheitsprinzip im Rat und lasse damit eine exekutive Rechtsetzung für Deutschland auch gegen den Willen der beteiligten deutschen Organe zu. Daher sei die Verfassungsbeschwerde zulässig.82 In seiner Euro-Entscheidung ließ es das Bundesverfassungsgericht offen, ob die Verfassungsbeschwerde zulässig sei. Sie sei jedenfalls offensichtlich unbegründet.83 Die Euro- Einführung gründe auf dem mit Deutschland geschlossenen Vertrag von Maastricht, der in dem Zustimmungsgesetz gemäß Artikel 23 Abs. 1 GG eine hinreichende verfassungsrechtliche Grundlage habe. Durch die Beteiligungsrechte des Bundestages aus Artikel 23 Abs. 2 und 3 GG sei der Eintritt in die Währungsunion und ihre konkrete Gestalt hinreichend demokratisch legitimiert.84 Die Wahrnehmung der bereits durch den Maastricht- Vertrag übertragenen Hoheitsrechte nehme dem Bundestag keine weiteren Kompetenzen und Befugnisse; eine Verletzung des Artikel 38 Abs. 1 GG komme daher nicht in Betracht .85 Aus diesen Erwägungen lässt sich eine Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts für die Prüfung von Beistandsmaßnahmen der Europäischen Union nicht begründen. Neue Hoheitsrechte werden mit den Beistandsmaßnahmen nicht begründet. Dem Deutschen Bundestag werden keine Kompetenzen oder Befugnisse genommen. Ohne eine deutsche Mitwirkung – dass zeigen die vergangenen Beratungen auf europäischer Ebene – sind Beistandsmaßnahmen weder möglich noch beabsichtigt. Es könnte jedoch eingewandt werden, durch Beistandsmaßnahmen, die bei Eintritt in die dritte Stufe der Währungsunion ausgeschlossen worden seien, verändere sich der Charakter des Vertrages über die Wirtschafts- und Währungsunion in einer Weise, wie sie nur durch eine Vertragsänderung möglich wäre.86 Dann könnte es an der demokratischen Legitimation einer solchen Maßnahme fehlen, weil diese durch den deutschen Zustimmungsakt bei Vertragsschluss nicht hinreichend bestimmbar und vorhersehbar gewesen sein könnte. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zum Vertrag von Lissabon vom 30. Juni 2009 jedoch grundsätzlich anerkannt, dass das Integrationsprogramm der Europäischen Union für eine Fortentwicklung offen sei. Über den endgültigen Charakter der 81) BVerfGE 89, 155 [172]; bestätigt in der Entscheidung zum Vertrag von Lissabon vom 30. 6. 2009: BVerfGE 123, 267 [340 f.]. 82) BVerfGE 89, 155 [173]. 83) BVerfGE 97, 350 [368]. 84) BVerfGE 97, 350 [369]. 85) BVerfGE 97, 350 [370]. 86) so wohl: Jeck/Roosebeke, Rechtsbruch durch Bail-out-Darlehen, Zu den Beschlüssen der Finanzminister der Euro-Staaten vom 11. April und vom 16. April 2010, cep-Analyse vom 19. 4. 2010, S. 8. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 143/10 Seite 16 politischen Verfasstheit Europas sage weder Artikel 23 Abs. 1 GG noch die Präambel des Grundgesetzes etwas.87 Trotz des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigungen könne ein Zustimmungsgesetz – zu den Europäischen Verträgen – immer nur ein Integrationsprogramm „umreißen, in dessen Grenzen dann eine politische Entwicklung stattfindet, die nicht in jedem Punkt vorherbestimmt sein kann.“ Hinzunehmen sei daher eine Tendenz zur Besitzstandswahrung (acquis communautaire)und zur wirksamen Kompetenzauslegung (effet utile). Dies sei „Teil des vom Grundgesetz gewollten Integrationsauftrags “.88 Allerdings dürfe sich Deutschland, wenn die Kompetenzen der Europäischen Union über jene Möglichkeiten hinaus fortentwickelt würden, die eine Auslegung nach dem Prinzip des effet utile oder eine implizite Abrundung der übertragenen Zuständigkeiten böten, nur daran beteiligen, wenn innerstaatlich sichergestellt sei, dass die verfassungsrechtlichen Anforderungen eingehalten werden.89 Konkretisiert hat dies das Gericht in Bezug auf die sogenannte Flexibilitätsklausel in Artikel 352 AEUV, die das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung dadurch lockere, dass die bestehenden Zuständigkeiten der Europäischen Union zielgebunden abgerundet werden könnten.90 Nach dieser Klausel werde der Europäischen Union ein Tätigwerden auch dann ermöglicht, wenn eine konkrete Zuständigkeit nicht vorhanden sei, ein Tätigwerden aber erforderlich sei, um die Ziele der Verträge zu erreichen.91 Diese Vorschrift stoße im Hinblick auf das Verbot zur Übertragung von Blankettermächtigungen oder zur Übertragung der Kompetenz- Kompetenz auf verfassungsrechtliche Bedenken. Daher setze die Inanspruchnahme dieser Flexibilitätsklausel die Ratifikation durch den Deutschen Bundestag und den Bundesrat auf der Grundlage von Artikel 23 Abs. 1 Satz 2 und 3 GG voraus. Vorher dürfe ein deutscher Vertreter im Rat die förmliche Zustimmung zu einem entsprechenden Rechtssetzungsakt nicht erklären.92 Der Gebrauch der Flexibilitätsklausel in Artikel 352 AEUV erfordere daher ein Gesetz im Sinne von Artikel 23 Abs. 1 Satz 2 GG.93 Sollte eine Beistandsmaßnahme der Europäischen Union als von den Verträgen vorgesehene Maßnahme angesehen werden, wäre sie bereits durch den Zustimmungsakt der Bundesrepublik Deutschland zu dem Vertrag von Lissabon bzw. bereits zu dem Vertrag von Maastricht gedeckt. Eine Verletzung des Artikel 38 Abs. 1 GG schiede daher von vornherein aus. Das gleiche gilt, wenn sich die Maßnahme noch im Bereich der Besitzstandswahrung oder des effet utile bewegte. Andernfalls erforderte die Maßnahme aus Sicht des deutschen Verfassungsrechts die gleiche demokratische Legitimation wie die 87) BVerfGE 123, 267 [347]; zur weiteren Entwicklung der Europäischen Union vg. bereits im Maastricht -Urteil: BVerfGE 89, 155 [213]. 88) BVerfGE 123, 267 [351 f.]. 89) BVerfGE 123, 267 [355]. 90) BVerfGE 123, 267 [393 f.]. 91) BVerfGE 123, 267 [394]. 92) BVerfGE 123, 267 [395]. 93) BVerfGE 123, 267 [436]. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 143/10 Seite 17 Inanspruchnahme der Flexibilitätsklausel nach Artikel 352 AEUV, also nach § 8 des Integrationsverantwortungsgesetzes (IntVG)94 ein Gesetz nach Artikel 23 Abs. 1 GG. Soll eine solche Beistandsmaßnahme im Wege der Verfassungsbeschwerde angefochten werden, müsste der Beschwerdeführer geltend machen, durch die angegriffene Handlung in seinem Recht aus Artikel 38 Abs. 1 GG unmittelbar und gegenwärtig verletzt zu sein. Eine Verletzung des Rechts aus Artikel 38 Abs. 1 Satz 1 GG ist gemäß Artikel 93 Abs. 1 Nr. 4a GG mit der Verfassungsbeschwerde grundsätzlich rügefähig. Es muss jedoch dargelegt werden, dass die Verletzung aus Artikel 38 Abs. 1 GG, also die Verletzung des Demokratieprinzips, ein Verlust der Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland oder eine Verletzung des Sozialstaatsprinzips möglich erscheint.95 Die Verfassungsbeschwerde könnte gegen das Zustimmungsgesetz zu dem Vertrag, mit dem die Hoheitsgewalt übertragen worden ist, gerichtet werden.96 Das wäre hier das Zustimmungsgesetz zur Währungsunion 97, was allerdings daran scheitern dürfte, dass dieses Gesetz bereits vom Bundesverfassungsgericht bestätigt wurde. In Betracht kommt auch, Mitwirkungsakte nationaler Verfassungsorgane an Entscheidungen der Europäischen Union, etwa des Vertreters der Bundesregierung im Rat, anzugreifen.98 Ob der Beschwerdeführer jedoch geltend machen kann, hierdurch in seinen staatsbürgerlichen Rechten aus Artikel 38 Abs. 1 GG unmittelbar und gegenwärtig verletzt zu sein, ist äußerst zweifelhaft. Die von den Kritikern von Beistandsmaßnahmen geäußerten Befürchtungen, durch Beistandsmaßnahmen würden den Mitgliedstaaten falsche Anreize gesetzt, wodurch sich die Währungsunion von einer Stabilitätsgemeinschaft hin zu einer Inflationsgemeinschaft entwickeln könnte, sind allenfalls potentiell und mittelbar. Neben der Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde kommt eine Befassung des Bundesverfassungsgerichts mit der „Kompetenz- und Identitätskontrolle“ europäischen Rechts und der „ultra-vires“-Kontrolle sowohl im Wege der abstrakten und konkreten Normenkontrolle als auch im Wege des Organ- und Bund-Länder-Streits in Betracht.99 Im Wege des Organstreits kann von einem Mitglied des Bundestages aus Artikel 38 GG geltend gemacht werden, dass sein Beteiligungsrecht an der Arbeit des Deutschen Bundestages verletzt wird.100 Dies dürfte hier jedoch nicht in Betracht kommen. Nicht geltend machen kann ein einzelnes Mitglied des Bundestages, dass Rechte des Bundestages verletzt wür- 94) Gesetz über die Wahrnehmung der Integrationsverantwortung des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union, Art. 1 des Gesetzes vom 22. September 2009 (BGBl. I S. 3022); vgl. BVerfGE 123, 267 [394 f., 436]. 95) BVerfGE 89, 155 [171]. 96) BVerfGE 89, 155 [171]. 97) Gesetz zum Vertrag vom 7. Februar 1992 über die Europäische Union vom 28. Dezember 1992 (BGBl. II S. 1251). 98) Bethge, in: Schmidt-Bleibtreu Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Kommentar, Vorbemerkung , Rn. 342. 99) BVerfGE 123, 267 [354 f.]; hierzu: Sauer, Kompetenz- und Identitätskontrolle von Europarecht nach dem Lissabon-Urteil, ZRP 2009, S. 195 [197]. 100) BVerfGE 80, 188 [208 f.]. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 143/10 Seite 18 den. Eine solche Prozessstandschaft steht ihm nicht zu.101 Zur Prozessstandschaft befugt sind hingegen Fraktionen. In jedem Verfahren ist zu beachten, dass die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts eine Reservekompetenz ist. Vorrangig ist für die Prüfung, ob sich die Organe und Institutionen der Europäischen Union an die ihnen in den Verträgen eingeräumten Befugnisse halten, der Gerichtshof der Europäischen Union zuständig (siehe oben: 4.1.1, S. 12). Nur, wenn Rechtsschutz auf Unionsebene nicht zu erlangen ist, kommt das Bundesverfassungsgericht ins Spiel.102 Keine Rechtsschutzmöglichkeit auf europäischer Ebene bedeutet, dass entweder keine Klagemöglichkeit um Europäischen Gerichtshof besteht oder eine Entscheidung des Gerichtshofs selbst der Prüfung unterworfen werden soll. Da das Bundesverfassungsgericht keine Kompetenz hat, Akte der Organe der Europäischen Union für nichtig zu erklären (siehe oben: 4.1.1, S. 12), könnte es nur feststellen, dass der europäische Rechtsakt in Deutschland keine Anwendung fände und rechtlich unverbindlich bliebe.103 Für Beistandsmaßnahmen der Europäischen Union bliebe dies folgenlos. 4.1.2.2. Geltendmachung einer Verletzung von Artikel 14 GG Mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen die Einführung des Euro durch Teilnahme an der Dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion 1999 rügten die Beschwerdeführer neben einem Verstoß gegen Artikel 38 Abs. 1 GG eine Verletzung der Eigentumsgarantie aus Artikel 14 Abs. 1 GG. Die Währungsunion begünstige inflationäre Entwicklungen .104 Das Bundesverfassungsgericht sah in dem Zustimmungsgesetz zum Maastricht-Vertrag eine zulässige Inhalts- und Schrankenbestimmung des Geldeigentums im Sinne von Artikel 14 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Einschätzung und Prognose der zuständigen Staatsorgane, die vorgesehene Währungsunion werde eine Stabilitätsgemeinschaft sein, sei durch das Bundesverfassungsgericht nicht überprüfbar.105 Der EG-Vertrag und das Grundgesetz regelten die Maßstäbe und das Verfahren zum Eintritt in die dritte Stufe der Währungsunion mit klaren rechtlichen Vorgaben und betonten dabei Zuständigkeit und Verantwortlichkeit von Bundesregierung und Parlament.106 Die in diesen Maßstäben eröffneten Einschätzungs -, Bewertungs- und Prognoseräume verlangten empirische Feststellungen, Einschätzungen und Bewertungen. Diese Entscheidungsverantwortlichkeiten seien durch das Grundgesetz Regierung und Parlament zugewiesen.107 Die von diesen Organen zu 101) BVerfGE 123, 267 [337]. 102) BVerfGE 123, 267 [353]. 103) BVerfGE 89, 155, [195, 210]; BVerfGE 123, 267 [400]. 104) siehe im Einzelnen: BVerfGE 97, 350 [364 ff.]. 105) BVerfGE 97, 350 [370]. 106) BVerfGE 97, 350 [373]. 107) BVerfGE 97, 350 [374]. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 143/10 Seite 19 treffenden Entscheidungen könnten nicht nach dem individualisierenden Maßstab eines Grundrechts beurteilt werden.108 Eine Verletzung von Artikel 14 GG dürfte demnach nicht in Betracht kommen. 4.2. Gerichtliche Kompetenz zur Prüfung nationaler (freiwilliger) Beistandsmaßnahmen 4.2.1. Rüge eines Verstoßes gegen Europäische Verträge Verstoßen ein oder mehrere Mitgliedstaaten gegen die Verpflichtungen aus den Verträgen , kann dies nach Artikel 258 ff. AEUV beim Gerichtshof der Europäischen Union geltend gemacht werden. Angerufen werden kann der Gerichthof von der Kommission (Artikel 258 Abs. 2 AEUV) und von jedem Mitgliedstaat (Artikel 259 Abs. 2 AEUV). Vor dem Bundesverfassungsgericht kann ein Verstoß gegen die Verpflichtungen aus den Europäischen Verträgen nicht geltend gemacht werden.109 Das Bundesverfassungsgericht entscheidet nach Artikel 93 Abs. 1 Nr. 2 GG unter anderem über die Vereinbarkeit von Bundes- oder Landesrecht mit dem Grundgesetz oder die Vereinbarkeit von Landesrecht mit Bundesrecht (abstrakte Normenkontrolle). Eine vergleichbare Zuständigkeitsnorm für die Prüfung von Bundesrecht auf die Vereinbarkeit mit den Verträgen der Europäischen Union fehlt hingegen. Auch für das Verfassungsbeschwerdeverfahren ist dem Bundesverfassungsgericht eine Überprüfung deutscher Rechtsakte am Maßstab des Gemeinschaftsrechts verwehrt.110 4.2.2. Rüge eines Verstoßes gegen das Grundgesetz Nach Artikel 110 GG dürfen Ausgaben grundsätzlich nur geleistet werden, wenn sie durch ein Haushaltsgesetz „festgestellt“, also bewilligt sind.111 Die Übernahme von Bürgschaften , Garantien oder sonstigen Gewährleistungen durch den Bund bedürfen nach Artikel 115 Abs. 1 GG einer der Höhe nach bestimmten oder bestimmbaren ausdrücklichen Ermächtigung durch Bundesgesetz.112 Die Ermächtigung kann im Haushaltsgesetz oder in einem anderen förmlichen Bundesgesetz erteilt werden.113 Die gesetzliche Ermächtigung einer Beistandsmaßnahme ist tauglicher Prüfungsgegenstand im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle.114 Sowohl der durch Haushaltsgesetz 108) BVerfGE 97, 350 [376]. 109) Voßkuhle, in: Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, 5. Auflage, 2005, Art. 93 Rn. 126. 110) BVerfGE 31, 45 [174 f.]; 82, 159 [191]. 111) BVerfGE 20, 56 [89, 91]. 112) Vgl. Kube, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, 2009, Art. 115 Rn. 89. 113) Kube, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, 2009, Art. 115 Rn. 94, 106. 114) BVerfGE 20, 56 [89 ff.]; 79, 311 [326]. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 143/10 Seite 20 festgestellte Bundeshaushaltsplan als auch das Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen kann nach Artikel 93 Abs. 1 Nr. 2 GG auf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung 115 oder eines Viertels der Mitglieder des Bundestages vom Bundesverfassungsgericht auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz überprüft werden. Eine Überprüfung der Beistandsmaßnahme oder ihrer gesetzlichen Grundlagen durch einen einzelnen Bürger hingegen kommt nicht in Betracht. Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat der Bürger keinen Anspruch auf eine bestimmte Verwendung des Aufkommens aus öffentlichen Abgaben. Der einzelne Bürger, der eine bestimmte Verwendung des Aufkommens aus öffentlichen Abgaben für grundgesetzwidrig hält, kann aus seinen Grundrechten regelmäßig keinen Anspruch auf generelles Unterlassen einer solchen Verwendung herleiten.116 Über die Verwendung der Haushaltsmittel entscheidet nach Artikel 110 Abs. 2 und 3 GG allein das Parlament, das weitgehend frei in seiner Entscheidung darüber ist, wie es die Haushaltsmittel im Einzelnen einsetzen und verteilen will.117 Verstöße gegen die Vorgaben aus Artikel 115 Abs. 1 GG durch die geplanten nationalen Beistandsmaßnahmen sind nicht ersichtlich. 115) Zur Überprüfung des Bundeshaushalts auf Antrag einer Landesregierung: BVerfGE 20, 56 [94]. 116) BVerfGE 67, 26 [37]; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 2. Oktober 2001 – 2 BvR 1594/01; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 7. April 2010 – 1 BvR 810/08. 117) BVerfGE 17, 210 [216]; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 2. Oktober 2001 – 2 BvR 1594/01.