© 2016 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 142/16 Geltung der Grundrechte und des rechtsstaatlichen Rückwirkungsverbots für gesetzliche Krankenkassen Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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In der Frage wird Bezug genommen auf die im Jahr 2014 geänderte Vorschrift zur Berücksichtigung von im Ausland lebenden Versicherten einer Krankenkasse (§ 269 SGB V) im Rahmen des Risikostrukturausgleichs (RSA), die möglicherweise rückwirkende Regelungen enthält. In diesem Zusammenhang ist vorab darauf hinzuweisen, dass sich das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG NRW) am 29.10.2015 zu dieser Frage geäußert hat.2 Aus der Pressemitteilung des LSG NRW ergibt sich, dass sich die AOK Rheinland/Hamburg gegen eine Reduzierung ihrer Finanzzuweisung aus dem RSA in Höhe von mehr als 60 Mio. Euro wandte. Der ursprünglich entsprechend höhere Zuweisungsbetrag war der AOK Rheinland/Hamburg bereits im Jahr 2012 in einem Bescheid mitgeteilt worden. Unter Bezugnahme auf die Neuregelung für im Ausland lebende Versicherte erfolgte eine Neuberechnung und die Festsetzung des deutlich niedrigeren Betrags im Jahr 2014.3 Das Gericht entschied, dass die Vorschrift des neuen § 269 SGB V in Verbindung mit § 31 Abs. 4 RSAV4 keine Berechtigung zu der vorgenommenen Reduzierung der Finanzzuwendungen enthalten würde. Ein entsprechender Wille des Gesetzgebers zu einer rückwirkenden Änderung der Zuwendungen komme in den neuen Vorschriften in keiner Weise zur Geltung.5 Diese Entscheidung ist allerdings nicht rechtskräftig, da Revision beim Bundessozialgericht eingelegt wurde,6 das nunmehr über die Sache zu entscheiden hat. 2. Erläuterungen Bei der Beantwortung der gestellten Frage ist zwischen zwei Aspekten zu unterscheiden. Zunächst geht es um die Grundrechtsfähigkeit von gesetzlichen Krankenkassen (dazu unten Ziff. 2.1.). Darüber hinaus ist jedoch auch die Frage des Schutzes vor rückwirkenden gesetzlichen Regelungen aufgeworfen worden, der wohl auch unabhängig von der Grundrechtsfähigkeit des Betroffenen als Ausdruck des verfassungsrechtlichen Rechtsstaatsgebots gelten kann (dazu unten 2.2.). 1 Die gesetzlichen Krankenkassen sind Körperschaften des öffentlichen Rechts nach § 4 Abs. 1 SGB V (Das Fünfte Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung – Artikel 1 des Gesetzes vom 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477, 2482, das zuletzt durch Artikel 2 Absatz 12 des Gesetzes vom 17. Februar 2016, BGBl. I S. 203, geändert worden ist). 2 LSG NRW vom 29.10.2015, Az.: L 5 KR 745/14 KL, BeckRS 2015, 72696. 3 Presseerklärung des LSG NRW zum Urteil vom 29.10.2015, im Internet aufrufbar unter: http://www.lsg.nrw.de/behoerde/presse/archiv/Jahr_2015/AOK_Rheinland_gewinnt_gegen_die_Bundesrepublik _Deutschland/index.php. 4 Risikostruktur-Ausgleichsverordnung vom 3. Januar 1994 (BGBl. I S. 55), die zuletzt durch Artikel 10 des Gesetzes vom 17. Juli 2015 (BGBl. I S. 1368) geändert worden ist. 5 LSG NRW vom 29.10.2015, Az.: L 5 KR 745/14 KL, BeckRS 2015, 72696. 6 Bundessozialgericht, anhängige Rechtssachen, Az.: B 1 KR 11/16 R. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 142/16 Seite 4 2.1. Grundrechtfähigkeit der gesetzlichen Krankenkassen Nach Art. 19 Abs. 3 GG gelten die Grundrechte auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ,7 die in der Literatur weitgehende Zustimmung erfahren hat,8 gilt dies im Grundsatz jedoch nicht für juristische Personen des öffentlichen Rechts. Sie sind daher im Regelfall nicht grundrechtsfähig . Sie werden der Sphäre der organisierten öffentlichen Gewalt zugeordnet und seien daher gemäß Art. 1 Abs. 3 GG durch die Grundrechte verpflichtet, und nicht berechtigt.9 Ausnahmen bestehen für bestimmte Gruppen der juristischen Personen des öffentlichen Rechts, denen spezifische Grundrechte zustehen können. So können sich z.B. die Universitäten auf die Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) oder die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten auf die Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) berufen. Außerdem gelten die so genannten Justizgrundrechte nach Art. 101 Abs. 1 GG (gesetzlicher Richter) und Art. 103 Abs. 1 GG (Anspruch auf rechtliches Gehör) für alle juristischen Personen des öffentlichen Rechts.10 Im Übrigen sind gesetzliche Krankenkassen jedoch nicht grundrechtsfähig.11 Dies hat das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung, in der es gerade auch um die Verfassungsmäßigkeit des Risikostrukturausgleichs ging, noch einmal ausdrücklich bestätigt. In der Entscheidung heißt es: „Die [gesetzlichen Krankenkassen] sind nicht grundrechtsfähig. Sie werden von den angegriffenen gesetzlichen Regelungen des RSA in ihrer Funktion als Träger öffentlicher, vom Staat durch Gesetz übertragener und geregelter Aufgaben betroffen. […]. Der Schutz in Fällen von Krankheit ist in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine der Grundaufgaben des Staats. […] Der Risikostrukturausgleich betrifft die gesetzlichen Krankenkassen damit in ihrer öffentlich-rechtlichen Kernfunktion, eine auf dem Solidarprinzip gründende soziale Krankenversicherung zu gewährleisten . […] Es lässt sich nicht feststellen, dass die Einführung "wettbewerblicher" Elemente in der gesetzlichen Krankenversicherung an der Funktion der Krankenkassen als Träger öffentlicher Verwaltung etwas mit der Folge geändert haben sollte, dass nunmehr die Zuerkennung einer (partiellen) Grundrechtsfähigkeit der Krankenkassen zu erwägen wäre.“12 Somit führt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch nicht der Aspekt, dass die gesetzlichen Krankenkassen untereinander im Wettbewerb stehen, dazu, dass sie Träger von (spezifischen) Grundrechten sind. 7 Siehe dazu die umfangreichen Nachweise bei Sachs, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 7. Auflage 2014, Art. 19 Rdnr. 92, Fn. 310. 8 Vgl. die Nachweise ebenfalls bei Sachs (oben Fn. 7), Art. 19 Rdnr. 92, Fn. 311. 9 Sachs, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 7. Auflage 2014, Art. 19 Rdnr. 90; BVerfG NVwZ 2005, 572, 573. 10 Aus der Rechtsprechung: BVerfGE 61, 82, 104; für die weit überwiegend zustimmende Literatur: Remmert, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Loseblattsammlung, 55. Ergänzungslieferung (Stand: Mai 2009), Art. 19 Abs. 2 Rdnr. 112 f. m.w.N. 11 Vgl. BVerfG NJW-RR 2009, 361 m.w.N. aus der ständigen Rechtsprechung. 12 BVerfG NVwZ 2005, 572, 573. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 142/16 Seite 5 2.2. Geltung des Rückwirkungsverbots (Vertrauensschutz) Trotz der fehlenden Grundrechtsfähigkeit wird vertreten, dass die aus dem Rechtsstaatprinzip abzuleitenden Verfassungsgrundsätze des Willkürverbots, der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes für alle juristischen Personen des öffentlichen Rechts gelten und damit auch für die gesetzlichen Krankenkassen.13 So hat das LSG NRW in einer Entscheidung aus dem Jahr 2000 zwar betont, dass gesetzliche Krankenkassen nicht grundrechtsfähig sind, dennoch prüft es, ob spezielle Regelungen zum RSA14 gegen die Rechte der Kassen aus dem Rechtsstaatsprinzip verstoßen (u.a. Willkürverbot und Vertrauensschutz).15 Allerdings stellt es im Zusammenhang mit dem Rechtsstaatprinzip auch fest, dass „soweit, wie hier, keine grundrechtlich gesicherten Freiheiten betroffen sind, sind sozialpolitische Entscheidungen des Gesetzgebers grundsätzlich hinzunehmen, solange sie nicht offensichtlich fehlerhaft oder mit der Wertordnung des Grundgesetzes unvereinbar sind“.16 Somit dürfte eine Verletzung dieser aus dem Rechtsstaatprinzip abgeleiteten Rechte von gesetzlichen Krankenkassen nur in besonderen Ausnahmefällen gegeben sein, bei denen ein ganz offensichtlicher Fehler oder erheblicher Verstoß gegen diese Rechte vorliegt. Eine gesetzliche Regelung, die einer gesetzlichen Krankenkasse rückwirkende Belastungen auferlegt, könnte somit wohl nur dann gegen den Vertrauensschutz verstoßen, wenn es sich um eine erhebliche, ggf. sogar existenzbedrohende17 Belastung handelt. In Bezug auf den neuen § 269 SGB V (veränderte Berücksichtigung der im Ausland lebenden Versicherten ) ist abschließend aber noch einmal darauf hinzuweisen, dass das LSG NRW in dieser Regelung gerade keine Ermächtigung gesehen hat, aufgrund der die Höhe der Zuwendungen im Rahmen des RSA rückwirkend geändert werden darf. Nach dieser – allerdings nicht rechtskräftigen – Entscheidung handelt es sich hier somit nicht um einen Fall einer möglicherweise verfassungsrechtlich relevanten Rückwirkung, so dass auch der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz in diesem Fall nicht zum Tragen gekommen ist. Ende der Bearbeitung 13 Sachs, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 7. Auflage 2014, Art. 19 Rdnr. 109; LSG NRW vom 24.08.2000 (oben Fn. 11). 14 Dabei ging es um die Regelungen in § 266 und § 267 SGB V. 15 LSG NRW vom 24.08.2000 (oben Fn. 11). 16 LSG NRW vom 24.08.2000, (oben Fn. 11), mit Verweis auf BVerfGE 89, 365, 376. 17 Auf einen solchen Maßstab deutet die Entscheidung des LSG NRW vom 24.08.2000 (vgl. oben Fn. 11) hin.