© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 141/20 Epidemische Lage von nationaler Tragweite Verfassungsrechtliche Fragestellungen Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 141/20 Seite 2 Epidemische Lage von nationaler Tragweite Verfassungsrechtliche Fragestellungen Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 141/20 Abschluss der Arbeit: 10. Juni 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 141/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. § 5 und § 5a Infektionsschutzgesetz 4 3. Folgen der unterlassenen Aufhebung der epidemischen Lage 5 4. Rechtliche Möglichkeiten unterschiedlicher Akteure 6 4.1. Fraktionen und Abgeordnete 7 4.1.1. Organstreitverfahren, Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG 7 4.1.1.1. Parteifähigkeit von Fraktionen und Abgeordneten des Bundestages 7 4.1.1.2. Antragsbefugnis 8 4.1.1.3. Antragsgegenstand 8 4.1.1.4. Rechtsschutzbedürfnis 8 4.1.1.5. Begründetheit 9 4.1.2. Abstrakte Normenkontrolle 9 4.2. Bürger 10 4.2.1. Rechtsschutzmöglichkeiten 10 4.2.2. Einwand des tatsächlichen Wegfalls der epidemischen Lage 11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 141/20 Seite 4 1. Fragestellung Am 25. März 2020 stellte der Deutsche Bundestag1 nach Erlass des § 5 Infektionsschutzgesetz (neu) (IfSG), eine epidemische Lage von nationaler Tragweite in Deutschland fest. Die Ausarbeitung befasst sich mit mehreren verfassungsrechtlichen Fragen bezüglich deren Fortbestehens. Zunächst wird untersucht, welche Folgen es hat, wenn der Deutsche Bundestag es unterlässt, die Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite (im Folgenden: epidemische Lage) nach Wegfall ihrer Voraussetzungen aufzuheben. Im Anschluss daran werden die in dieser Situation bestehenden rechtlichen Optionen einer Fraktion oder eines Abgeordneten untersucht. Ferner wird auch geklärt, welche Möglichkeiten Bürger haben, allein aufgrund des Fehlens einer materiellen epidemischen Lage sich gerichtlich gegen eine Maßnahme zu wenden, die bzw. deren Rechtsgrundlage auf § 5 oder § 5a IfSG gestützt ist. 2. § 5 und § 5a Infektionsschutzgesetz Der Beschluss vom 25. März 2020 zur epidemischen Lage lautet: „Der Deutsche Bundestag stellt mit Inkrafttreten des § 5 Absatz 1 Satz 1 Infektionsschutzgesetz aufgrund der derzeitigen Ausbreitung des neuen Coronavirus (SARS-CoV-2) in Deutschland eine epidemische Lage von nationaler Tragweite fest.“2 Mit diesem Beschluss erfüllte der Bundestag die Voraussetzung der epidemischen Lage, welche § 5 IfSG in Bezug auf unterschiedliche Rechtsfolgen zur Voraussetzung gemacht hat. § 5 IfSG – Epidemische Lage von nationaler Tragweite „(1) Der Deutsche Bundestag stellt eine epidemische Lage von nationaler Tragweite fest. Der Deutsche Bundestag hebt die Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite wieder auf, wenn die Voraussetzungen für ihre Feststellung nicht mehr vorliegen. Die Aufhebung ist im Bundesgesetzblatt bekannt zu machen. (2) Das Bundesministerium für Gesundheit wird im Rahmen der epidemischen Lage von nationaler Tragweite unbeschadet der Befugnisse der Länder ermächtigt, 1. durch Anordnung (…), 3. durch Rechtsverordnung (…). (…) (4) Eine auf Grund des Absatzes 2 oder § 5a Absatz 2 erlassene Rechtsverordnung tritt mit Aufhebung der Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite außer Kraft, ansonsten spätestens mit Ablauf des 31. März 2021. Abweichend von Satz 1 bleibt eine Übergangsregelung in der Verordnung nach Absatz 2 Nummer 7 Buchstabe b, Buchstabe c 1 Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht , 154. Sitzung am 25. März 2020, 19169 (C), Tagesordnungspunkt 6a). 2 Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht , 154. Sitzung am 25. März 2020, 19169 (C), Tagesordnungspunkt 6a). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 141/20 Seite 5 oder Buchstabe d bis zum Ablauf der Phase des Studiums in Kraft, für die sie gilt. Abweichend von Satz 1 ist eine Verordnung nach Absatz 2 Nummer 10 auf ein Jahr nach Aufhebung der Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite, spätestens auf den Ablauf des 31. März 2022 zu befristen. Nach Absatz 2 getroffene Anordnungen gelten mit Aufhebung der Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite als aufgehoben, ansonsten mit Ablauf des 31. März 2021. Eine Anfechtungsklage gegen Anordnungen nach Absatz 2 hat keine aufschiebende Wirkung. (…) (6) Aufgrund einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite kann das Bundesministerium für Gesundheit unter Heranziehung der Empfehlungen des Robert Koch-Instituts Empfehlungen abgeben, um ein koordiniertes Vorgehen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland zu ermöglichen. (7) Das Robert Koch-Institut koordiniert im Rahmen seiner gesetzlichen Aufgaben im Fall einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite die Zusammenarbeit zwischen den Ländern und zwischen den Ländern und dem Bund sowie weiteren beteiligten Behörden und Stellen und tauscht Informationen aus. Die Bundesregierung kann durch allgemeine Verwaltungsvorschrift mit Zustimmung des Bundesrates Näheres bestimmen. Die zuständigen Landesbehörden informieren unverzüglich die Kontaktstelle nach § 4 Absatz 1 Satz 7, wenn im Rahmen einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite die Durchführung notwendiger Maßnahmen nach dem 5. Abschnitt nicht mehr gewährleistet ist.“3 Die in § 5 Abs. 6 und 7 IfSG normierten Möglichkeiten zur Abgabe von Empfehlungen und zur Koordinierung haben keine unmittelbaren Rechtsfolgen, weshalb diese hier nicht näher betrachtet werden. Die dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) eingeräumten Kompetenzen zum Erlass von Anordnungen und Rechtsverordnungen stehen aufgrund der möglichen Rechtsfolgen im Fokus der Ausarbeitung. § 5a Abs. 1 IfSG erlaubt, dass bestimmte Gesundheitsberufe, vor allem aus der Pflege und von Notfallsanitätern, während einer epidemischen Lage heilkundliche Tätigkeiten ausüben dürfen. § 5a Abs. 2 IfSG gibt darüber hinaus dem Bundesministerium für Gesundheit während einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite die Ermächtigung, durch Rechtsverordnung heilkundliche Tätigkeiten durch weitere qualifizierte Personen aus Gesundheitsfachberufen zu gestatten. 3. Folgen der unterlassenen Aufhebung der epidemischen Lage § 5 und § 5a IfSG knüpfen die Rechtsfolgen an das Bestehen der epidemischen Lage. In § 5 Abs. 1 IfSG wird festgelegt, wann eine epidemische Lage vorliegt. Die einzige darin formulierte Voraussetzung ist ein Beschluss des Deutschen Bundestages. Weitere materielle Voraussetzungen bestehen nach dem Gesetzeswortlaut nicht. Auch der Gesetzesbegründung sind keine konkreten Kriterien 3 Hervorhebung nur hier. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 141/20 Seite 6 zur Definition des Begriffs zu entnehmen.4 Daraus folgt, dass die in § 5 und § 5a IfSG enthaltenen Rechtsfolgen allein durch den Beschluss der epidemischen Lage ausgelöst werden, solange dieser nicht nach § 5 Abs. 1 S. 2 IfSG aufgehoben wurde. Die auf der Grundlage des § 5 Abs. 2 und § 5a Abs. 2 IfSG erlassenen Rechtsverordnungen und Anordnungen treten überwiegend nach § 5 Abs. 4 IfSG mit Ablauf des 31. März 2021 außer Kraft. Der Beschluss des Deutschen Bundestages ist somit konstitutiv für die Rechtsfolgen der § 5 und § 5a IfSG. Außer dem Beschluss müssen keine weiteren Voraussetzungen erfüllt werden, um eine epidemische Lage annehmen zu können. Zwar können mittels der Gesetzgebungsmaterialien einige Ansatzpunkte zur Auslegung des Begriffs der epidemischen Lage ermittelt werden,5 diese binden jedoch den Gesetzgeber selbst nicht. Der Deutsche Bundestag ist mithin frei, (jeweils) eigene Kriterien für die Ausrufung der epidemischen Lage zugrunde zu legen. Die in § 5 Abs. 1 S. 2 IfSG angesprochenen „Voraussetzungen für ihre Feststellung“ nach deren Wegfall die epidemische Lage aufzuheben wäre, sind nicht durch weitere Merkmale unterlegt. Der Beschluss des Bundestages ist also maßgebend, unabhängig davon, ob tatsächlich eine epidemische Lage angenommen werden kann. Für dieses Ergebnis spricht auch, dass nach Art. 80 GG keine inhaltlichen Bedingungen an durch Gesetz geschaffene Rechtsverordnungskompetenzen geknüpft sind. Mit Art. 80 GG werden lediglich allgemeine verfassungsrechtliche Bedingungen, wie der Vorbehalt des Gesetzes oder der Bestimmtheitsgrundsatz aufgestellt.6 Wenn der Deutsche Bundestag die Rechtsverordnungskompetenz nach Art. 80 GG aber auch ohne jegliche Bedingungen, wie den Bestand einer epidemischen Lage, erlassen kann, dann sind erst recht keine inhaltlichen Voraussetzungen für die nähere Definition der selbst auferlegten Bedingung zwingend. Wenn der Bundestag trotz tatsächlich nicht mehr bestehender Voraussetzungen für die Annahme einer epidemischen Lage den Beschluss aufrecht hält (oder auch erstmals gefällt hätte), hat dies keine Auswirkungen auf die in § 5 und § 5a IfSG festgelegten Rechtsfolgen. Der BMG könnte weiter die genannten Rechtsverordnungen und Anordnungen erlassen und die bestimmten Gesundheitsberufe dürften weiterhin heilkundliche Tätigkeiten vornehmen. Die getroffenen Anordnungen und Rechtsverordnung würden auch weiterhin längstens bis zum 31. März 2021 in Kraft bleiben. 4. Rechtliche Möglichkeiten unterschiedlicher Akteure Für unterschiedliche Akteure können grundsätzlich unterschiedliche Möglichkeiten bestehen, sich gegen die unterlassene Aufhebung der epidemischen Lage trotz Wegfalls der Voraussetzungen im Sinn des § 5 Abs. 1 S. 2 IfSG zu wenden. 4 BT-Drs. 19/18111, S. 18 ff. Eine begriffliche Annäherung erfolgt in Wissenschaftliche Dienstes des Deutschen Bundestages, Vorliegen einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite im Sinne des § 5 Absatz 1 Infektionsschutzgesetz vom 9.6.2020, WD 9 - 3000 - 045/20. 5 Vgl. Wissenschaftliche Dienstes des Deutschen Bundestages, Vorliegen einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite im Sinne des § 5 Absatz 1 Infektionsschutzgesetz vom 9.6.2020, WD 9 - 3000 - 045/20, S. 10. 6 Mann, in: Sachs (Hrsg.), GG, 8. Aufl. 2018, Art. 80, Rn. 21. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 141/20 Seite 7 4.1. Fraktionen und Abgeordnete Als erste Option besteht für Fraktionen die Möglichkeit, im Deutschen Bundestag einen Antrag auf Aufhebung der epidemischen Lage zu stellen, § 75 Abs. 1 Buchst. d), § 76 Abs. 1 Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GO-BT). Über diesen würde dann im Deutschen Bundestag beraten und abgestimmt, § 78 Abs. 2 GO-BT. Auch Abgeordnete haben die Möglichkeit, einen Antrag im Deutschen Bundestag zu stellen. Nach § 76 Abs. 1 GO-BT müsste dieser jedoch von fünf vom Hundert der Mitglieder des Deutschen Bundestages unterzeichnet sein. Für die Fraktionen und die einzelnen Abgeordneten liegt der Problemfokus bei Nichtaufhebung der epidemischen Lage in der durch diese geänderten Kompetenzverteilung zwischen Exekutive und Legislative nach § 5 Abs. 2 und § 5a Abs. 2 IfSG. Ihre Rechte könnten sie vor dem Bundesverfassungsgericht geltend machen. Vor diesem Gericht als „Hüter der Verfassung“7 können insbesondere die in Art. 93 Grundgesetz (GG) aufgezählten Verfahrensarten angestrengt werden. Wer wann und unter welchen Voraussetzungen dazu befugt ist, das Bundesverfassungsgericht anzurufen, ist abhängig von der konkreten Verfahrensart. 4.1.1. Organstreitverfahren, Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG Das in den §§ 63-67 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) näher ausgestaltete Organstreitverfahren stellt ein kontradiktorisches Verfahren zwischen Bundesorganen oder anderen Beteiligten dar, die über den Umfang ihrer Rechte und Pflichten nach dem Grundgesetz streiten.8 In dem Organstreitverfahren geht es also um die Abgrenzung von Organkompetenzen.9 Im Ergebnis stellt das Bundesverfassungsgericht fest, ob die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners (des Bundestages) gegen eine Bestimmungen des Grundgesetzes verstößt. Der Bundestag kann im Organstreitverfahren indes nicht zu einer bestimmten Handlung verpflichtet werden.10 4.1.1.1. Parteifähigkeit von Fraktionen und Abgeordneten des Bundestages Parteifähig im Organstreitverfahren sind gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG oberste Bundesorgane oder andere Beteiligte, die durch das Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Dazu zählen jedenfalls die in § 63 BVerfGG genannten Organe – u.a. der Bundestag. Als „ständige Gliederungen des Bundestags“11 sind auch einzelne 7 BVerfGE 1, 184 (195). 8 Voßkuhle, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Kommentar, 7. Auflage 2018, Art. 93, Rn. 99. 9 Morgenthaler, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK, GG, 42. Edition, Art. 93, Rn. 17. 10 Voßkuhle, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Kommentar, 7. Auflage 2018, Art. 93, Rn. 115. 11 BVerfGE 20, 56 (104). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 141/20 Seite 8 Fraktionen parteifähig.12 Unter die zweite Alternative des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG (andere Beteiligte ) können nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch einzelne Bundestagsabgeordnete gefasst werden.13 4.1.1.2. Antragsbefugnis Nach § 64 Abs. 1 BVerfGG ist der Antrag nur zulässig, wenn der Antragsteller geltend macht, dass er oder das Organ, dem er angehört, durch eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners in seinen ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist. Die Möglichkeit einer Rechtsverletzung bzw. -gefährdung muss sich auf seine organschaftliche Stellung beziehen. Als solche kommen insbesondere Kompetenzübergriffe des Antragsgegners in Betracht. Die Folge aus der Feststellung einer epidemischen Lage ist, dass der BMG nach § 5 Abs. 2 und § 5a Abs. 2 IfSG dazu ermächtigt wird, Rechtsverordnungen zu erlassen, deren Gegenstand eigentlich in die Gesetzgebungskompetenz des Bundes fiele. Daraus folgt jedoch noch keine Verletzung oder unmittelbare Gefährdung der Abgeordneten und Fraktionen in ihren verfassungsrechtlichen Rechten. Den Abgeordneten und den Fraktionen bleibt es durch den Beschluss nach § 5 Abs. 1 S. 1 IfSG unbenommen, einen Antrag auf Aufhebung der Feststellung der epidemischen Lage zu stellen. Dass dieser durch die Mehrheit des Deutschen Bundestages eventuell abgelehnt wird, kann nicht mittels eines Organstreitverfahrens angegriffen werden. Trotz des Bestehens der epidemischen Lage könnte der Deutsche Bundestag jederzeit von § 5 und § 5a IfSG abweichende Gesetze erlassen und mit diesen auch die nach § 5 Abs. 2 und § 5a Abs. 2 IfSG erlassenen Rechtsverordnungen überschreiben, soweit diese in der Zuständigkeit des Bundes liegen. Konkrete Rechte der Organe, in die durch die Maßnahme eingegriffen wurde, sind nicht ersichtlich. Mithin ist keine Antragsbefugnis gegeben. 4.1.1.3. Antragsgegenstand Der Gegenstand eines Organstreitverfahrens kann nach § 64 BVerfGG in einer Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners bestehen. Die hier zu untersuchende Fragestellung zielt auf die Vornahme des Beschlusses durch den Bundestag nach § 5 Abs. 1 S. 2 IfSG, der Aufhebung der Feststellung der epidemischen Lage. 4.1.1.4. Rechtsschutzbedürfnis Das Rechtsschutzbedürfnis kann insbesondere dann entfallen, wenn der Antragssteller es unterlassen hat, sein Begehren innerhalb des Bundestags zuvor geltend zu machen.14 Insofern kommt die oben (4.1.) genannte Möglichkeit eines Antrages auf Aufhebung der epidemischen Lage in Betracht. 12 BVerfGE 45, 1 (28). 13 BVerfGE 10, 4 (10); 108, 251 (270); 112, 363 (365). 14 BVerfGE 129, 356 (374); Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Hrsg.), BVerfGG, 58. EL Januar 2020, § 64, Rn. 97. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 141/20 Seite 9 Ein entsprechender Antrag wurde bereits durch die Fraktion der AfD im Deutschen Bundestag mit folgendem Wortlaut gestellt: „Der Deutsche Bundestag stellt daher darüber hinaus nach § 5 Abs. 1 Satz 2 Hs. 2 des IfSG fest, dass die Voraussetzungen einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nicht mehr vorliegen.“15 Der Antrag wurde am 14. Mai 2020 durch den Deutschen Bundestag abgelehnt.16 Wenn sich die Situation des Fortbestandes der epidemischen Lage mittlerweile anders beurteilen lässt, beispielsweise aufgrund neuer Erkenntnisse, dann müsste der Antrag zur Wahrung des Rechtsschutzbedürfnisses auch durch den Abgeordneten bzw. die Fraktion, die vor dem Bundesverfassungsgericht als Partei auftreten will, erneut gestellt werden. 4.1.1.5. Begründetheit Der Antrag im Organstreitverfahren ist nach § 67 S. 1 BVerfGG begründet, wenn die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners gegen eine Bestimmung des Grundgesetzes verstößt. Die Ablehnung des Beschlusses der Aufhebung der epidemischen Lage müsste insofern gegen das Grundgesetz verstoßen. Verfassungsrechtliche Bestimmungen gegen die eine solche Maßnahme verstoßen könnte, sind nicht ersichtlich (vgl. oben 4.1.1.2.). Mithin wäre ein Antrag im Organstreitverfahren unbegründet. 4.1.2. Abstrakte Normenkontrolle Neben einem Organstreitverfahren käme auch eine abstrakte Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6, §§ 76 ff. BVerfGG) in Betracht. Diese könnte dann jedoch nicht an das Unterlassen eines Beschlusses zur Aufhebung der epidemischen Lage anknüpfen. Vielmehr ist die abstrakte Normenkontrolle darauf gerichtet, ob Bundes- oder Landesrecht förmlich und sachlich mit dem Grundgesetz vereinbar ist (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG). Insofern könnte sowohl § 5 bzw. § 5a IfSG als auch eine auf der Grundlage erlassene Rechtsverordnung Gegenstand des Verfahrens sein. In dem Verfahren könnte gegebenenfalls auch indirekt die Kompetenzverteilung aufgrund der epidemischen Lage thematisiert werden. Das Bundesverfassungsgericht könnte in dem Verfahren jedoch auch weitere Fragen der Verfassungsmäßigkeit der jeweiligen Norm prüfen und wäre diesbezüglich nicht an den Vortrag des Antragstellers gebunden.17 Der Antrag auf abstrakte Normenkontrolle kann nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG jedoch nur von der Bundesregierung, einer Landesregierung oder einem Viertel der Mitglieder des Bundestages gestellt werden. Eine Fraktion oder ein Abgeordneter allein sind nicht antragsberechtigt. 15 BT-Drs. 19/18999. 16 Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht, 160. Sitzung am 14. Mai 2020, 19805 (D). 17 BVerfGE 12, 205 (222); Rozek, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Hrsg.), BVerfGG, 58. EL Januar 2020, § 76, Rn. 62. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 141/20 Seite 10 4.2. Bürger Für die Bürger besteht eine andere Konstellation als für Abgeordnete und Fraktionen. Der Bürger hätte die Möglichkeit, sich gerichtlich gegen eine ihn betreffende Maßnahme zu wenden. 4.2.1. Rechtsschutzmöglichkeiten Für den Bürger besteht jedoch keine Möglichkeit, sich unmittelbar gegen eine Rechtsverordnung des Bundes zu wenden. Die Normenkontrolle nach § 47 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) steht ihm nicht zur Verfügung, da diese nur für Rechtsvorschriften, die im Rang unter dem Landesgesetz (§ 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO) stehen, bzw. für baurechtliche Vorschriften, gilt. Verwaltungsprozessual kommt somit nur die Möglichkeit einer inzidenten Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Rechtsverordnung in Betracht. So zum Beispiel mittels Anfechtungsklage gem. § 42 Abs. 2 1. Alt VwGO gegen einen auf der Grundlage der Rechtsverordnung erlassenen Vollzugsakt.18 Soweit die Rechtsverordnung keines Vollzugsaktes bedarf und sich die Regelungswirkung direkt aus der Rechtsverordnung ableiten lässt, etwa bei unmittelbaren Ge- oder Verboten, kommt verwaltungsgerichtlich auch eine Feststellungsklage nach § 43 VwGO in Betracht.19 Ziel der Feststellungsklage kann nur die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses dergestalt sein, dass der Betroffene bestimmte Pflichten nicht zu erfüllen habe. Die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Rechtsverordnung kann so nicht erreicht werden.20 Darüber hinaus besteht die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG. Inwieweit das Zulässigkeitskriterium der Subsidiarität, einschließlich der Rechtswegerschöpfung durch fachgerichtlichen Rechtsschutz vor den Verwaltungsgerichten erfüllt ist bzw. aufgrund von „Eiligkeit“ erfüllt werden muss, ist eine Frage des Einzelfalls.21 Eventuell kommt sowohl vor dem Verwaltungsgericht, als auch vor dem Bundesverfassungsgericht auch einstweiliger Rechtsschutz in Betracht. Die Ausführungen zu den Rechtsschutzmöglichkeiten gelten auch, wenn der Bürger sich gegen eine auf § 5 Abs. 2 IfSG gestützte Anordnung wenden möchte. Wenn sich der Bürger gegen ein Bußgeld wenden möchte, das er auf einer Rechtsgrundlage erhalten hat, die in § 5 oder § 5a IfSG liegt oder auf diesen beruht, beispielsweise bei Zuwiderhandlung einer vollziehbaren Anordnung nach § 5 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 IfSG iVm § 73 Abs. 1a Nr. 1 IfSG, so stünde ihm der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten offen. 18 Schmidt, COVID-19, § 16 Öffentliches Recht, Rn. 131, beck-online. 19 BVerwG, Urteil vom 28.1.2010 - 8 C 19/09, NVwZ 2010, 1300; Schmidt, COVID-19, § 16 Öffentliches Recht, Rn. 132, beck-online. 20 Schmidt, COVID-19, § 16 Öffentliches Recht, Rn. 132, beck-online. 21 Schmidt, COVID-19, § 16 Öffentliches Recht, Rn. 133 f., beck-online. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 141/20 Seite 11 4.2.2. Einwand des tatsächlichen Wegfalls der epidemischen Lage Fraglich ist, ob der Einwand, dass die materiellen Voraussetzungen einer epidemischen Lage weggefallen sind, gerichtlich zum Erfolg führen kann. Dies könnte insofern relevant sein, als die Kompetenz für den Erlass der Rechtsgrundlage aus § 5 Abs. 2 oder § 5a Abs. 2 IfSG abgeleitet bzw. auf diese Normen als Rechtsgrundlage zurückgegriffen wurde, die wiederum auf dem Bestehen der epidemischen Lage beruhen. Im Rahmen der inzidenten Kontrolle können Verwaltungsgerichte grundsätzlich (soweit nicht abweichende landesverfassungsrechtliche Regelungen bestehen) Rechtsverordnungen auch verwerfen . Diese könnten dann nicht als Rechtsgrundlage angewandt werden. Das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 Abs. 1 GG umfasst nur materielle Gesetze, also nicht Satzungen und Rechtsverordnungen.22 Im Rahmen der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Rechtsgrundlage müsste das Verwaltungsgericht (ebenso wie das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde) sodann prüfen, ob diese rechtmäßig zustande gekommen ist. Für die Rechtmäßigkeit einer Rechtsverordnung ist unter anderem erforderlich, dass der Verordnungsgeber für den Erlass der Rechtsverordnung zuständig war. Dazu bedarf es bei Rechtsverordnungen auf Bundesebene einer entsprechenden Ermächtigung nach Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG. Zudem müssen nach Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetz bestimmt werden.23 Eine Ermächtigungsgrundlage wurde durch § 5 Abs. 2 und § 5a Abs. 2 IfSG geschaffen. Die in der Norm aufgestellte Bedingung, dass ein entsprechender Beschluss des Bundestages nach § 5 Abs. 1 IfSG über das Bestehen einer epidemischen Lage vorliegen muss, ist erfüllt, solange dieser nicht aufgehoben wurde. Im Ergebnis kann allein der Umstand des Fortbestandes des Beschlusses über eine epidemische Lage bei Annahme, dass eine solche tatsächlich nicht mehr bestehe, eine verwaltungsgerichtliche Klage gegen eine Rechtsverordnung oder Anordnung nach § 5 Abs. 2 bzw. § 5a Abs. 2 IfSG nicht zum Erfolg führen. *** 22 Schenke, JuS 2017, 1141, 1142. 23 Vgl. dazu Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Staatsorganisation und § 5 Infektionsschutzgesetz , vom 2.4.2020, WD 3 - 3000 - 080/20.