© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 139/20 Kultur als Staatsziel im Grundgesetz Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 139/20 Seite 2 Kultur als Staatsziel im Grundgesetz Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 139/20 Abschluss der Arbeit: 25. Juni 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 139/20 Seite 3 1. Fragestellung Der Sachstand befasst sich mit den Auswirkungen einer ins Grundgesetz aufgenommenen Staatszielbestimmung zur Kultur auf die Länder und Kommunen, insbesondere mit der Frage, ob durch eine solche Bestimmung die Kultur zu einer Pflichtaufgabe würde. Erwägungen, die Kultur als Staatsziel ins Grundgesetz aufzunehmen, gab es bereits mehrfach.1 So wurde bereits im Rahmen der von 1991 bis 1993 bestehenden Gemeinsamen Verfassungskommission die Aufnahme einer solchen Staatszielbestimmung zum Teil befürwortet.2 Auch die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ gab 2006 eine entsprechende Empfehlung ab.3 Die empfohlene Formulierung lautete: „Der Staat schützt und fördert die Kultur“. Der Empfehlung folgte ein Gesetzentwurf der FDP.4 2012 gab es einen Gesetzentwurf der SPD zur Ergänzung von Art. 20a GG um den Satz „Er [der Staat] schützt und fördert ebenso die Kultur und den Sport“.5 Die folgenden Ausführungen beziehen sich den bisherigen Vorschlägen entsprechend auf eine Staatszielbestimmung, die den Staat zum Schutz und zur Förderung der Kultur verpflichtet. 2. Staatszielbestimmungen Staatszielbestimmungen sind verbindliche Grundsätze und Richtlinien für das staatliche Handeln.6 In der Regel bedürfen sie der Konkretisierung durch den Gesetzgeber.7 Für Verwaltung und Gerichte dienen sie als Maßstab bei der Auslegung von Gesetzen oder der Ausfüllung gesetzlicher Entscheidungsspielräume.8 Staatszielbestimmungen geben den staatlichen Organen auf, die entsprechenden Vorgaben im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung zu beachten.9 Sie bewirken somit keine Kompetenzverschiebungen, sondern binden die jeweils zuständigen Bundes- oder Landesorgane. 1 Siehe für hier nicht genannte Initiativen Hönes, Staatsziel Kultur und kulturelles Erbe, in: Recht und Politik 2019, 241 (243 f.). 2 BT-Drs. 12/6000, S. 80. 3 BT-Drs. 15/5560, S. 2. 4 BT-Drs. 16/387. 5 BT-Drs. 17/10644. 6 Schladebach, Staatszielbestimmungen im Verfassungsrecht, in: JuS 2018, 118 (119) m.w.N. 7 Vgl. Beaucamp, Sollten Kultur- und Sportförderung als Staatsziele in das Grundgesetz aufgenommen werden?, in: NordÖR 2009, 492 (494). 8 Beaucamp, Sollten Kultur- und Sportförderung als Staatsziele in das Grundgesetz aufgenommen werden?, in: NordÖR 2009, 492 (494). 9 Geissen, Das neue Staatsziel „Tierschutz” in Art. 20a GG, in: NVwZ 2002, 913 (914). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 139/20 Seite 4 Die Entscheidung, ein Staatsziel nicht oder kaum zu berücksichtigen, bedarf der besonderen Begründung .10 Allerdings stehen die Staatsziele unter dem Vorbehalt des finanziell Realisierbaren.11 Im Unterschied zu den Grundrechten kann sich der Einzelne nicht auf Staatszielbestimmungen berufen.12 3. Kultur als Staatsziel 3.1. Kompetenz der Länder und Staatszielbestimmungen der Landesverfassungen Den Ländern steht grundsätzlich die Gesetzgebungskompetenz im Bereich Kultur zu, die sog. Kulturhoheit .13 Die Mehrzahl der Landesverfassungen enthält Bestimmungen zur Kultur.14 „Meist werden die kulturstaatlichen Bestimmungen der Weimarer Verfassung wiederholt und in vielfältiger Weise ergänzt. Einige Vorschriften umreißen den Bildungs- und Erziehungsauftrag, gebieten die Kulturförderung , die Erwachsenenbildung sowie den Schutz und die Pflege der Denkmale.“15 Keine entsprechende Verfassungsnorm hat – soweit ersichtlich – nur Hamburg. Die Staatszielbestimmungen der Landesverfassungen verpflichten die Länder und die kommunalen Gebietskörperschaften, die Belange der Kultur bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen. Sie enthalten allerdings keine Aussagen darüber, wie die Länder und Kommunen ihre Kulturpolitik im Einzelnen zu gestalten haben.16 3.2. Wirkung einer Staatszielbestimmung zur Kultur im Grundgesetz Wie die landesverfassungsrechtlichen Bestimmungen würde auch eine grundgesetzliche Staatszielbestimmung zur Kultur die Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung beim Gebrauch 10 Beaucamp, Sollten Kultur- und Sportförderung als Staatsziele in das Grundgesetz aufgenommen werden?, in: NordÖR 2009, 492 (494). 11 Beaucamp, Sollten Kultur- und Sportförderung als Staatsziele in das Grundgesetz aufgenommen werden?, in: NordÖR 2009, 492 (494). 12 Schladebach, Staatszielbestimmungen im Verfassungsrecht, in: JuS 2018, 118 (119). 13 BVerfGE 12, 205 (229). Ausnahmen bestehen etwa für die auswärtige Kulturpolitik und für weitere Einzelbereiche, siehe dazu Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band VI, § 126 Rn. 217. 14 Die entsprechenden Artikel sind aufgeführt bei Beaucamp, Sollten Kultur- und Sportförderung als Staatsziele in das Grundgesetz aufgenommen werden?, in: NordÖR 2009, 492 (495 Fn. 68). 15 Weiss, Kultur als Staatszielbestimmung, in: Recht und Politik 2005, 142 (142 f.). 16 BT-Drs. 15/5560, S. 4. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 139/20 Seite 5 ihrer Kompetenzen zur Berücksichtigung kultureller Belange verpflichten.17 Gemäß ihrer Zuständigkeit für den konkreten Bereich beträfe dies jeweils die Organe des Bundes oder der Länder. Gegen die Einführung einer Staatszielbestimmung zur Kultur im Grundgesetz wird vorgebracht, dass diese keinen neuen Regelungsgehalt habe. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits anerkannt, dass die Bundesrepublik ein Staat sei „der sich im Sinne einer Staatszielbestimmung auch als Kulturstaat versteht“.18 Daraus wird zum Teil gefolgert, dass kein Regelungsdefizit in diesem Bereich bestehe.19 Soweit der Staat die Erfüllung seiner verfassungsrechtlichen Aufgaben nur unter bestimmten kulturellen Bedingungen vornehmen könne, sei die Sicherung dieser Bedingungen selbst Staatsaufgabe.20 Ein Kulturauftrag des Staates bestehe also unabhängig davon, ob das Grundgesetz diesen ausdrücklich formuliere. Daher wird zum Teil der rein deklaratorische Gehalt einer Staatszielbestimmung zur Kultur betont.21 Dagegen wird eingewandt, dass sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine „Förderaufträge oder gar Rechtswerte von Verfassungsrang “ ableiten ließen.22 Zudem beziehe sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung zum „Kulturstaat“ nur auf bestimmte Bereiche der Kultur, etwa auf die Hochschulen.23 Gegen die Einführung einer grundgesetzlichen Staatszielbestimmung zur Kultur wird zudem die Kompetenzordnung des Grundgesetzes vorgebracht. Da es dem Bund weitestgehend an Kompetenzen für die Kultur fehle und der Großteil der Länder eigene Bestimmungen habe, sei eine solche Erweiterung des Grundgesetzes wenig sinnvoll.24 17 Vgl. Bundesminister des Innern/Bundesminister der Justiz, Bericht der Sachverständigenkommission „Staatsziele und Gesetzgebungsaufträge“, 1983, S. 122 Rn. 214. 18 BVerfGE 36, 321 (331); 81, 108 (116). 19 BT-Drs. 12/6000, S. 81. 20 Grimm, Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Band 42, 1983, S. 65 f. 21 Vgl. Grimm, Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Band 42, 1983, S. 81. 22 Wittreck, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2013 Art. 5 Abs. 3 Rn. 75. 23 Hönes, Staatsziel Kultur und kulturelles Erbe, in: Recht und Politik 2019, 241 (242). 24 Beaucamp, Sollten Kultur- und Sportförderung als Staatsziele in das Grundgesetz aufgenommen werden?, in: NordÖR 2009, 492 (496). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 139/20 Seite 6 3.3. Pflichtaufgabe der Kommunen? Die Wahrnehmung von Kulturaufgaben kommt in erster Linie den Kommunen zu.25 Das Recht der Kommunen nach Art. 28 Abs. 2 GG, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft in eigener Verantwortung zu regeln, „läuft auf eine Ermächtigung der Gemeinden zur Selbstdefinition ihres Kulturauftrags hinaus“.26 Die Selbstverwaltungsaufgaben der Kommunen unterteilen sich in freiwillige Aufgaben und Pflichtaufgaben. Bei den freiwilligen Aufgaben entscheiden die Kommunen selbst, ob und wie sie eine Aufgabe durchführen. Die Kultur wird grundsätzlich zu den freiwilligen Aufgaben gezählt.27 Vereinzelt wird zwar vertreten, dass sich eine Pflicht der Kommunen zur Wahrnehmung kultureller Aufgaben aus der sozialstaatlichen Pflicht zur allgemeinen Daseinsvorsorge ergebe.28 Nach herrschender Meinung ist aber für die Festlegung einer kommunalen Pflichtaufgabe ein Gesetz erforderlich.29 Eine ausdrückliche gesetzliche Festschreibung der Kultur als Pflichtaufgabe der Kommunen gibt es nur in Sachsen. § 2 Abs. 1 Sächsisches Kulturraumgesetz bestimmt: „Im Freistaat Sachsen ist die Kulturpflege eine Pflichtaufgabe der Gemeinden und Landkreise.“ Im Übrigen wird darauf hingewiesen, dass die Wichtigkeit einer Aufgabe eine kommunalrechtliche Pflichtigkeit nicht begründen könne, da zum einen auch die freiwilligen Aufgaben von zentraler Bedeutung für die örtliche Gemeinschaft seien und es zum anderen bei der Festlegung der Pflichtaufgaben darum gehe, eine landesrechtliche Aufsicht zu bestimmen.30 Daher könne für die Kommunen ein verfassungsrechtliches Gebot zum Schutz und zur Förderung der Kultur bestehen, während diese Aufgabe kommunalrechtlich freiwillig bleibe.31 25 BT-Drs. 16/7000, S. 56. In Bezug auf landesverfassungsrechtliche Staatszielbestimmungen zur Kultur wird allerdings auch vertreten, dass sich diese in erster Linie an die Länder und nicht an die Gebietskörperschaften richteten, da sich viele Kommunen eigene Theater, Museen etc. nicht mehr leisten könnten und es daher keine lokale Autonomie im kulturellen Bereich gebe, siehe Hopfe, in: Linck/Jutzi/Hopfe, Die Verfassung des Freistaats Thüringen, 1994, Art. 30 Rn. 4. 26 Steiner, Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Band 42, 1983, S. 22. 27 Vgl. Germelmann, Kultur und staatliches Handeln, 2013, S. 315. 28 So wohl Karpen, zitiert nach: Tätigkeitsbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“, EK-Kultur AU 15/154, S. 91 f. 29 Vgl. Germelmann, Kultur und staatliches Handeln, 2013, S. 314 m.w.N.; Röhl, in: Schoch, Besonderes Verwaltungsrecht , 2018, Kapitel 2 Rn. 69; Brüning, in: Ehlers/Fehling/Pünder, Besonderes Verwaltungsrecht, Band 3, 3. Aufl. 2013, § 64 Rn. 66; Musil/Kirchner, in: dieselben, Das Recht der Berliner Verwaltung, 4. Aufl. 2017, Teil 4 Rn. 116; Sponer, in: Sponer/Jänchen/Koolman, Gemeindeordnung für den Freistaat Sachsen, Stand: Mai 2016, § 2 Rn. 3.2. 30 Vgl. Germelmann, Kultur und staatliches Handeln, 2013, S. 314 f. 31 Germelmann, Kultur und staatliches Handeln, 2013, S. 315. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 139/20 Seite 7 Entsprechend wurde im Rahmen der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ von den Sachverständigen Pieroth und Karpen erläutert, dass eine Staatszielbestimmung zur Kultur im Grundgesetz keine Übertragung einer Pflichtaufgabe darstelle.32 In Bezug auf Sachsen wird angenommen, dass die Bestimmung der Kulturförderung als Pflichtaufgabe in § 2 Abs. 1 Sächsisches Kulturraumgesetz, die das Selbstverwaltungsrecht der Kommunen tangiere, durch die Staatszielbestimmung in der Landesverfassung legitimiert werde.33 Staatszielbestimmungen zur Kultur in den Landesverfassungen können daher grundsätzlich den Ländern als Grundlage für eine Übertragung entsprechender Pflichtaufgaben dienen. Die Länder dürften sich für die Übertragung ebenso auf eine Staatszielbestimmung im Grundgesetz berufen können. *** 32 Tätigkeitsbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“, EK-Kultur AU 15/154, S. 91 f. Karpen nimmt an, dass eine grundgesetzliche Staatszielbestimmung zur Kultur eine deklaratorische Konkretisierung der kommunalen Pflicht zur Daseinsvorsorge sei. 33 Degenhart, in: Degenhart/Meissner, Handbuch der Verfassung des Freistaates Sachsen, 1997, § 6 Rn. 32.