Deutscher Bundestag Ist eine Änderung des Atomgesetzes wegen Laufzeitverlängerungen durch den Bundesrat zustimmungspflichtig? Gibt es denkbare Möglichkeiten , die Laufzeiten zu verlängern, die nicht die Zustimmung des Bundesrates benötigen? Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste © 2010 Deutscher Bundestag WD 3 – 3000 – 138/10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 138/10 Seite 2 Ist eine Änderung des Atomgesetzes wegen Laufzeitverlängerungen durch den Bundesrat zustimmungspflichtig ? Gibt es denkbare Möglichkeiten, die Laufzeiten zu verlängern, die nicht die Zustimmung des Bundesrates benötigen? Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 – 3000 – 138/10 Abschluss der Arbeit: 5. Mai 2010 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 138/10 Seite 3 Inhalt 1. Zusammenfassung .............................................................................. 4 2. Die geplante Verlängerung der Laufzeit von Kernkraftwerken ................................................................................ 4 3. Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen ......................................... 5 3.1. Zustimmungstatbestände .................................................................. 6 3.2. Zustimmungsfreie- und zustimmungsbedürftige Regelungen in einem Gesetz und dessen Aufspaltung ........................................ 6 3.3. Änderung von zustimmungsbedürftigen Gesetzen .......................... 7 3.4. Aufhebung, Verlängerung und Ergänzung zustimmungsbedürftiger Gesetze ...................................................... 8 3.5. Einfluss des Gesetzgebers auf den Anteil der Zustimmungsgesetze ......................................................................... 9 4. Zustimmungsbedürftigkeit des Atomgesetzes .................................. 9 4.1. Artikel 87c GG .................................................................................. 9 4.2. Artikel 85 Abs. 1 GG ....................................................................... 10 4.3. Artikel 104a Abs. 4 GG ................................................................... 11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 138/10 Seite 4 1. Zusammenfassung Ob eine Änderung des Atomgesetzes mit dem Ziel der Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke der Zustimmung des Bundesrates bedarf, kann nicht beantwortet werden, ohne die konkrete gesetzliche Ausgestaltung der Laufzeitverlängerung zu kennen. Aus dem Umstand, dass der Atomausstieg seinerzeit zustimmungsfrei erfolgte, lassen sich für den umgekehrten Fall der Laufzeitverlängerung keine Schlüsse ziehen. Wenn die geplante Gesetzesänderung den nach dem Atomgesetz zu erfüllenden Aufgaben „eine wesentlich andere Bedeutung und Tragweite verleihen“, kann die Zustimmung des Bundesrates nötig sein. Es liegt weitgehend beim Bundestag, ein Gesetz so zu beschließen, dass die Zustimmung des Bundesrates nicht erforderlich ist. 2. Die geplante Verlängerung der Laufzeit von Kernkraftwerken Im Jahr 2000 vereinbarte die Bundesregierung mit den Energieversorgungsunternehmen die geordnete Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität unter Sicherstellung des geordneten Betriebes der Kernkraftwerke für die verbleibende Nutzungsdauer .1 Per Gesetz vom 22. April 2002 wurde diese Vereinbarung von Seiten des Gesetzgebers umgesetzt .2 Es wurde die normative Grundsatzentscheidung getroffen, die Nutzung der Kernenergie nur noch für einen begrenzten Zeitraum hinzunehmen. Unter anderem wurde durch Änderung des § 7 des Atomgesetzes3 die Erteilung von Errichtungs- und Betriebsgenehmigungen für neue Atomanlagen ausgeschlossen und bestimmt, dass die Berechtigungen zum Leistungsbetrieb der bestehenden kommerziellen Reaktoren mit Erreichung bestimmter Elektrizitätsmengen erlöschen. Für die verbleibende Laufzeit sollte es beim Vollzug des Atomgesetzes durch Auftragsverwaltung mit Bundesaufsicht bleiben.4 In der Gesetzesberatung im Bundesrat wurde von den Ländern Bayern, Baden-Württemberg und Hessen die Auffassung vertreten, das Ausstiegsgesetz bedürfe der Zustimmung des Bundesrates. Die Änderung eines Gesetzes, mit dem die Bundesauftragsverwaltung eingeführt wurde, sei nach Artikel 87c des Grundgesetzes (GG) zustimmungsbedürftig, wenn sie dem Gesetz eine wesentlich andere Tragweite und Bedeutung verleihe. Außerdem sei die Zustimmung nach Artikel 85 Abs. 1 1) Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Hrsg.), Umwelt Nr. 7-8/2000, S. I bis IX (Sonderteil). 2) Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergie zur gewerblichen Nutzung von Elektrizität vom 22. April 2002 (BGBl. I S. 1351). 3) Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (Atomgesetz) vom 23. Dezember 1959 in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Juli 1985 (BGBl. I S. 1565), vorher zuletzt geändert durch Artikel 5 des Gesetzes vom 13. Dezember 2001 (BGBl. I S. 3586). 4) Gesetzesbegründung vom 11. 9. 2001, Drs. 14/6890, S. 1, 13 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 138/10 Seite 5 GG erforderlich, da das Verwaltungsverfahren in der Auftragsverwaltung geregelt werde.5 Dem schloss sich der Bundesrat nicht an.6 Das Gesetz wurde als nicht zustimmungsbedürftig verkündet .7 Im Koalitionsvertrag für die 17. Wahlperiode ist verabredet worden, „die Laufzeiten deutscher Kernkraftwerke unter Einhaltung der strengen deutschen und internationalen Sicherheitsstandards zu verlängern. Das Neubauverbot im Atomgesetz bleibt bestehen.“8 Ein Gesetzentwurf zur Umsetzung dieser Passage des Koalitionsvertrages ist noch nicht vorgelegt worden. Die Parlamentarische Staatssekretärin im federführenden Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Heinen-Esser erklärte am 18. Februar 2010 gegenüber einem Mitglied des Umweltausschuss des Deutschen Bundestages, werde das Atomgesetz mit dem Ziel der Laufzeitverlängerung geändert, sei von einer Zustimmungspflicht auszugehen, da die Länder vermutlich belastet würden. Dies ist bislang die einzige Äußerung der Bundesregierung zu einer möglichen Zustimmungsbedürftigkeit der geplanten Änderung des Atomgesetzes. 3. Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen Gemäß Artikel 50 GG wirken die Bundesländer durch den Bundesrat unter anderem an der Gesetzgebung des Bundes mit. Hierzu verleiht das Grundgesetz dem Bundesrat eine Reihe unterschiedlicher Befugnisse9, die sich für die einfache Gesetzgebung aus den Artikeln 76, 77 GG ergeben . Der Bundesrat hat das Recht, eigene Gesetzesvorlagen beim Bundestag einzubringen (Artikel 76 Abs. 1 GG) und zu Gesetzesvorlagen der Bundesregierung Stellung zu nehmen (Artikel 76 Abs. 2 GG). Er kann, wenn der Bundestag ein Gesetz beschlossen hat, den Vermittlungsausschuss anrufen (Artikel 77 Abs. 2 S. 1 GG). Nach Abschluss des Vermittlungsverfahrens kann er gegen Gesetze, zu denen seine Zustimmung nicht erforderlich ist, Einspruch einlegen (Artikel 77 Abs. 3 S. 1 GG). Den Einspruch des Bundesrates kann der Bundestag mit qualifizierter Mehrheit (Artikel 77 Abs. 4 GG) zurückweisen und sich damit über den Willen des Bundesrates hinwegsetzen. Besonders weit reichend sind die Einflussmöglichkeiten des Bundesrates bei Gesetzen, die seiner Zustimmung bedürfen: Verweigert der Bundesrat in diesem Fall – ggf. nach Durchführung eines Vermittlungsverfahrens nach Artikel 77 Abs. 2 GG – die Zustimmung, so kommt das Gesetz nicht zustande. Anders als bei Einspruchgesetzen, hat der Bundesrat bei Zustimmungsgesetzen die Möglichkeit, das vom Bundestag beschlossene Gesetz endgültig zu Fall zu bringen. 5) Antrag der Länder Bayern, Baden-Württemberg und Hessen vom 31. 1. 2002, BRats-Drs. 7/1/02. 6) BRats-PlenProt 772, S. 19 (C). 7) BGBl. 2002 I S. 1351. Kritisch: Horn, in: Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Auflage, 2009, Art. 87c, Rn. 47; Windthorst, in: Sachs, Grundgesetzkommentar, 5. Auflage, 2009, Art. 87c, Rn. 23. 8) Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP für die 17. Wahlperiode vom 26. Oktober 2009, http://www.cdu.de/doc/pdfc/091026-koalitionsvertrag-cducsu-fdp.pdf, S. 29/132. 9) Vgl. auch BVerfGE 37, 363 [380 f.]. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 138/10 Seite 6 3.1. Zustimmungstatbestände Das Erfordernis einer Zustimmung des Bundesrates zu einem Gesetz ist nach dem Grundgesetz die Ausnahme10. Der Zustimmung bedürfen Gesetze, wenn das Grundgesetz dies ausdrücklich vorschreibt (Enumerationsprinzip)11. Ungeschriebene Zustimmungserfordernisse gibt es nicht12. Eine Zustimmungsbedürftigkeit wird auch nicht dadurch begründet, dass in Länderinteressen eingegriffen wird13. Ausdrückliche Regelungen über die Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen finden sich über das ganze Grundgesetz verteilt. Teils beziehen sie sich auf eng umgrenzte Gesetzgebungsmaterien (vgl. etwa Einzelheiten des Asylrechts nach Artikel 16a Abs. 2 S. 2, Abs. 3 S. 1 GG oder die Staatshaftung nach Artikel 74 Abs. 2 GG), teils auf nach allgemeinen Merkmalen bestimmte Kategorien von Gesetzen (vgl. etwa Artikel 79 Abs. 2, 84 Abs. 1, 104a Abs. 3 S. 2 GG). Wird ein Gesetz von keinem dieser Fälle erfasst, ist es ein Einspruchsgesetz. 3.2. Zustimmungsfreie- und zustimmungsbedürftige Regelungen in einem Gesetz und dessen Aufspaltung Enthält ein Gesetz auch nur eine einzige zustimmungsbedürftige Regelung, so bedarf nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das Gesetz als Ganzes, also einschließlich seiner zustimmungsfreien Bestandteile, der Zustimmung des Bundesrates14. Bei verweigerter Zustimmung können auch die nicht zustimmungsbedürftigen Teile des Gesetzes nicht in Kraft treten. Das Bundesverfassungsgericht argumentiert, mit „Bundesgesetz“ in dem die Zustimmungsbedürftigkeit anordnenden Artikel 84 Abs. 1 GG sei nicht – wie etwa mit „Gesetz“ in Artikel 100 Abs. 1 GG – die einzelne Norm, sondern das Gesetz als gesetzgebungstechnische Einheit gemeint. Dies folge vor allem aus Artikel 78 GG. Das „vom Bundestag beschlossene Gesetz“ (Artikel 78) sei das durch einen Gesetzesbeschluss des Bundestages zu einer Einheit zusammengefasste Gesetz. Dieses Gesetz komme zustande, wenn der Bundesrat zustimmt15. Wenn man zwischen zustimmungsbedürftigen und nicht zustimmungsbedürftigen Teilen eines Gesetzes differenzieren wollte , entstünden verfahrenstechnische Schwierigkeiten16. Denn bei dieser Betrachtung käme bei Verweigerung der Zustimmung des Bundesrates zu den organisations- und verfahrensrechtlichen Vorschriften eines Gesetzes, also durch eine einseitige Entscheidung des Bundesrates, ein vom Bundestag möglicherweise so nicht gewolltes „Teilgesetz“ zustande; daher komme eine separate Ausfertigung und Verkündung der materiell-rechtlichen Teile eines Gesetzes nicht in Betracht. 10) BVerfGE 31, 363 [381]; 105, 313 [339]. 11) Bundesverfassungsgericht, Gutachten vom 22. 11. 1951, BVerfGE 1, 76 [79]; BVerfGE 48, 127 [129]. 12) Zwei in diesem Zusammenhang von einigen Autoren aufgeführte Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts betreffen keine „ungeschriebenen“ Zustimmungstatbestände, sondern vielmehr die Auslegung ausdrücklich die Zustimmungsbedürftigkeit anordnender Verfassungsbestimmungen; so überzeugend: Schmidt, Die Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen, Jus 1999, S. 861 [862]. 13) Schmidt, Die Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen, JuS 1999, S. 861 [862]; Bryde, in: Münch/Kunig, Grundgesetzkommentar, 5. Auflage, 2003, Bd. 3, Artikel 77, Rn. 20. 14) BVerfGE 1, 76 [79]; 8, 274 [294]; 24, 184 [195]; 37, 363 [381]; 55, 274 [318 f.]; 105, 313 [339]. 15) BVerfGE 8, 274 [294 f.]. 16) BVerfGE 8, 274 [295]. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 138/10 Seite 7 Schon aus verfahrenstechnischen Gründen müsse sich das Zustimmungserfordernis stets auf das gesamte Gesetz und nicht nur auf seine zustimmungspflichtigen Elemente beziehen17. Dem Bundestag bleibt es freilich unbenommen, durch Aufteilung eines Gesetzesvorhabens in ein zustimmungsfreies und ein zustimmungsbedürftiges Gesetz die Ausdehnung der Zustimmungsbedürftigkeit auf das gesamte Vorhaben zu vermeiden18. Dies ergibt sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts daraus, dass die Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen nach dem Grundgesetz die Ausnahme ist. Verzichte der Bundesgesetzgeber in einem Gesetz auf zustimmungsbedürftige Regelungen, entspreche dies gerade dem Modell der verfassungsrechtlichen Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern19. 3.3. Änderung von zustimmungsbedürftigen Gesetzen Umstritten ist die Frage, ob jede nachträgliche Änderung eines mit Zustimmung des Bundesrates ergangenen Gesetzes seinerseits zustimmungsbedürftig ist. Der Bundesrat hat diese Auffassung wiederholt vertreten20: Durch seine Zustimmung übernehme er die Verantwortung für das gesamte Gesetzeswerk, also auch für diejenigen Regelungen, die isoliert betrachtet nicht schon als solche zustimmungsbedürftig wären. Änderungsgesetz und zu änderndes Gesetz seien aufeinander bezogen, daher berühre jede Gesetzesänderung diese Verantwortung. Zudem verlange die Normenhierarchie , dass eine Norm bestimmten Rechtsranges (zustimmungsbedürftiges Gesetz) nur durch eine gleichen oder höheren Ranges verändert werden könne21. Für das Bundesverfassungsgericht ist nicht jedes Gesetz, das ein Zustimmungsgesetz ändert, schon aus diesem Grunde zustimmungsbedürftig. Erforderlich sei vielmehr, dass die Änderung als solche der Zustimmung des Bundesrates unterliegt22. Unproblematisch ist dies bei einem so genannten Artikelgesetz, das aus einer Mehrzahl von Einzelgesetzen besteht, die ohne weiteres auch einzeln hätten beschlossen werden können: Enthält eines der Teilgesetze eine zustimmungsbedürftige Bestimmung, bedarf das gesamte Artikelgesetz der Zustimmung des Bundesrates . Soll später nur eines der in sich selbstständigen Teilgesetze, das keine zustimmungsbedürftige Regelung enthält, geändert werden, so ist nicht einsehbar, warum hierfür die Zustimmung des Bundesrates erforderlich sein soll. Aber auch ein einzelnes Gesetz, das z.B. wegen einer Regelung des Verwaltungsverfahrens nach Artikel 84 Abs. 1 GG der Zustimmung des Bundesrates bedurfte, kann zustimmungsfrei geändert werden. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bedarf das Änderungsgesetz nur 17) Achterberg, Systemverschiebung statt Mitverantwortung als Grund für die Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen , DÖV 1975, S. 158 [159]. 18) BVerfGE 34, 9 [28]; 37, 363 [379 ff.]; 39, 1 [35]; 55, 274 [319]; 75, 108 [150]; 105, 313 [338]. 19) BVerfGE 105, 313 [339]. 20) BRats-Drs. 594/73. 21) Vgl. auch: Ossenbühl, Die Zustimmung des Bundesrates beim Erlass von Bundesrecht, Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) 99 (1973/74), S. 369 [424 f.]. 22) BVerfGE 37, 363 [379 ff.]; 48, 127 [178]; 105, 313 [333]. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 138/10 Seite 8 dann der Zustimmung, wenn durch dieses Neuerungen in Kraft gesetzt werden sollen, die weiteren , nicht ausdrücklich geänderten Vorschriften über das Verwaltungsverfahren eine wesentlich andere Bedeutung und Tragweite verleihen, die von der früher erteilten Zustimmung ersichtlich nicht mehr umfasst werden23. Diese Entscheidung erging nicht einstimmig, drei Richter gaben ein abweichendes Votum ab24. Im Ergebnis erscheint das Mehrheitsvotum des Bundesverfassungsgerichts überzeugender. Jedenfalls wenn das Gesetzesvorhaben hätte aufgeteilt werden können in ein zustimmungsfreies und ein zustimmungsbedürftiges Gesetz, lässt sich kaum begründen, warum bei der Änderung der rein zustimmungsfreien Teile des Vorhabens nun dem Bundesrat ein erweitertes Mitwirkungsrecht erwachsen sollte. Auch ein Gesetz, das den Personenkreis, auf den eine zustimmungsbedürftige Norm anzuwenden ist, erweitert, bedarf nicht schon deswegen der Zustimmung des Bundesrates. Das Bundesverfassungsgericht hielt die Bestimmung im Lebenspartnerschaftsgesetz vom 16. Februar 200125, nach der die Ausländerbehörden jetzt auch ausländischen Lebenspartnern eines Ausländers für die Herstellung und Wahrung der lebenspartnerschaftlichen Gemeinschaft eine Aufenthaltsgenehmigung erteilen können, nicht für zustimmungsbedürftig, da die Aufgabe der Ausländerbehörde zwar eine quantitative Mehrung, nicht aber einen anderen Inhalt erfahren habe26. 3.4. Aufhebung, Verlängerung und Ergänzung zustimmungsbedürftiger Gesetze Die bloße Aufhebung zustimmungsbedürftiger Normen ist in der Regel nicht zustimmungsbedürftig . Im Falle des Artikel 84 Abs. 1 GG fehlt es für die Aufhebung einer Regelung des Verwaltungsverfahrens an der Zustimmungsbedürftigkeit, weil diese das Verwaltungsverfahren nicht „regelt“, sondern „entregelt“; durch die Aufhebung wird zu dem vom Grundgesetz vorgesehenen Grundsatz zurückgekehrt, nach welchem die Länder für das Verwaltungsverfahren zuständig sind. Umstritten ist, ob die Aufhebung von Gesetzen über Steuern, deren Aufkommen den Ländern wenigstens zum Teil zufließt, nach Artikel 105 Abs. 3 GG zustimmungsbedürftig ist. Für die Zustimmungsbedürftigkeit wird angeführt, durch die Abschaffung seien Länderinteressen berührt und auch die Abschaffung sei eine Regelung i.S. des Artikel 105 Abs. 3 GG27. Dagegen spricht, dass die Rechtfertigung für die Zustimmungsbedürftigkeit der Erhebung von Steuern in der besonderen Intensität des Eingriffs in die Rechte der Bürger liegen könnte. Die Rücknahme dieses Eingriffs bedarf keiner vergleichbaren Absicherung. 23) BVerfGE 37, 363 [383]; 48, 127 [180]. 24) Vgl. das Sondervotum der Richter Schlabrendorff, Geiger und Rinck, in: BVerfGE 37, 363 [401 ff.]. 25) BGBl. I S. 266. 26) BVerfGE 105, 313 [333]. 27) Schmidt, Jus 1999, 861 [867]. Es könnte allerdings polemisch gefragt werden, ob dann auch schon der Verzicht auf Einführung einer neuen Steuer der Zustimmung des Bundesrates bedürfen soll. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 138/10 Seite 9 Die Verlängerung der Geltungsdauer von Zustimmungsgesetzen ist stets zustimmungsbedürftig28. Ergänzungsgesetze zu Zustimmungsgesetzen folgen den allgemeinen Regeln, sind also jeweils aus sich heraus zu beurteilen. 3.5. Einfluss des Gesetzgebers auf den Anteil der Zustimmungsgesetze Ob ein Gesetzesvorhaben nur mit Zustimmung des Bundesrates zu verwirklichen ist, hängt nicht nur von dem zu regelnden Gegenstand, sondern auch erheblich von der konkreten Fassung des jeweiligen Gesetzestextes ab. Der Gesetzesinitiator und der das Gesetz beschließende Bundestag haben es in der Hand, ob eine Materie grundlegend neu, insbesondere einschließlich des Verwaltungsverfahrens geregelt werden soll, wodurch die Wahrscheinlichkeit, einen Zustimmungstatbestand zu erfüllen, erheblich steigt, oder ob sich das Vorhaben auf das für den Initiator Wesentliche , das materielle Recht beschränkt. Der Bundestag ist verfassungsrechtlich nicht gehindert, auch noch in einem laufenden Gesetzgebungsverfahren ein Gesetz in ein zustimmungsfreies und ein zustimmungsbedürftiges Gesetz aufzuteilen, um auszuschließen, dass der Bundesrat Regelungen verhindert, die für sich genommen nicht unter dem Vorbehalt seiner Zustimmung stehen (siehe oben Punkt 3.2., S. 6). 4. Zustimmungsbedürftigkeit des Atomgesetzes Ob eine Änderung des Atomgesetzes mit dem Ziel der Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke der Zustimmung des Bundesrates bedarf, kann abschließend nicht beantwortet werden , bevor die konkrete gesetzliche Ausgestaltung der Laufzeitverlängerung vorgelegt wird. Aus dem Umstand, dass der Atomausstieg seinerzeit zustimmungsfrei erfolgte, lassen sich für die Laufzeitverlängerung keine Schlüsse ziehen. Es liegt weitgehend beim Bundestag, ein Gesetz so zu beschließen, dass die Zustimmung des Bundesrates nicht erforderlich ist. 4.1. Artikel 87c GG Der Zustimmung des Bundesrates bedarf nach Artikel 87c GG ein Gesetz über die Erzeugung und Nutzung der Kernenergie, wenn es bestimmt, dass dieses Gesetz im Auftrag des Bundes ausgeführt und damit dem Bund die Fachaufsicht eingeräumt wird (Artikel 85 Abs. 3 und 4 GG). Diese Regelung soll die grundsätzlich den Ländern zustehende Verwaltungshoheit vor dem Eindringen des Bundes gegen den Willen der Länder sichern. Zu unterscheiden ist zwischen der Anordnung der Auftragsverwaltung und den gesetzlichen Bestimmungen, die im Wege der Auftragsverwaltung ausgeführt werden sollen. Nach ganz überwiegender Meinung bedarf nur die Anordnung der Zustimmung des Bundesrates, nicht aber das 28) BVerfGE 8, 274 [287 ff.]. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 138/10 Seite 10 auszuführende Gesetz.29 Dies gilt auch bei der nachträglichen Änderung des ursprünglichen, wegen der Anordnung der Auftragsverwaltung zustimmungsbedürftigen Gesetzes. Der Notwendigkeit einer Zustimmung sind jedenfalls diejenigen materiell-rechtlichen Änderungsgesetze enthoben , die den Bereich der Vollziehung in Bundesauftragsverwaltung gar nicht berühren.30 Anderes gilt, wenn die Gesetzesänderung den in Auftragsverwaltung zu erfüllenden Aufgaben „eine wesentlich andere Bedeutung und Tragweite verleihen“.31 Dies dürfte bei einer Verlängerung der Laufzeiten zunächst nicht anzunehmen sein. Bis zum endgültigen Verbrauch der Reststrommengen ändert sich für die Behörden gar nichts. Nach Verbrauch der Reststrommengen verändert sich der Charakter der Auftragsverwaltung allerdings erheblich. Die Beaufsichtigung von laufenden Kraftwerken dürfte sich erheblich von der Beaufsichtigung stillgelegter Meiler unterscheiden. Die Verlängerung einer befristeten Bestimmung der Auftragsverwaltung ist unstreitig zustimmungsbedürftig (siehe oben: 3.4, S. 8). Ob die bloß faktische Laufzeitverlängerung etwa durch Erhöhung der Reststrommengen den Charakter der bestehenden (Auftrags-) Verwaltung ändert, ist zweifelhaft. Durch das Atomausstiegsgesetz 2002 wurde nicht der Verwaltungstyp Auftragsverwaltung und die Art der Aufgaben befristet, sondern die Zahl der Anwendungsfälle verringert. Wegen der Übertragbarkeit der Reststrommengen kann aufgrund der bisherigen Rechtslage für kein Kraftwerk bestimmt werden, wann es endgültig vom Netz geht. Daher dürfte das Ausstiegsgesetz kaum als Befristung der Auftragsverwaltung angesehen werden. Die bloße Erhöhung der Reststrommengen dürfte damit eine lediglich quantitative Veränderung der Verwaltungsaufgabe bedeuten. Eine Zustimmungsbedürftigkeit nach Artikel 87c GG dürfte daher ausscheiden. Bei anderer Sichtweise bliebe dem Bundestag die Möglichkeit, zustimmungsfrei ein Gesetz zu beschließen, durch das der Bund auf den Verwaltungstyp der Auftragsverwaltung im Bereich der Kernkraft verzichtet. Artikel 87c GG verbietet dies nicht. Dann hätten die Länder das Atomgesetz zukünftig als eigene Angelegenheit unter der Rechtsaufsicht es Bundes auszuführen (Artikel 84 Abs. 3 GG). 4.2. Artikel 85 Abs. 1 GG Eine notwendige Zustimmungsbedürftigkeit nach Artikel 85 Abs. 1 GG dürfte nicht gegeben sein. Die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke könnte dazu führen, dass die Geltung der Bestimmungen im Atomgesetz über das Verwaltungsverfahren in ihrer praktischen Bedeutung ebenfalls verlängert wird (siehe oben: 4.1, S. 10). Die Verlängerung der Geltung zustimmungsbedürftiger Normen ist zustimmungspflichtig. Umstritten ist jedoch, ob im Bereich der Auftrags- 29) Hermes, in: Dreier, Grundgesetzkommentar, Bd. 3, 2. Auflage, 2008, Art. 87c, Rn. 11; Horn, in: Mangoldt /Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Auflage, 2005, Art. 87c, Rn. 43; Uerpmann, in: Münch/Kunig, Grundgesetzkommentar, 5. Auflage, 2003, Art. 87c, Rn. 6; Windthorst, in: Sachs, Grundgesetzkommentar , 5. Auflage, 2009, Art. 87c, Rn. 23; a.A. Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, 1962, Art. 87c, Rn. 12. 30) Horn, in: Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Auflage, 2005, Art. 87c, Rn. 45. 31) BVerfGE 37, 362 [383]. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 138/10 Seite 11 verwaltung ein Gesetz entsprechend dem Wortlaut der Vorschrift nur zustimmungsbedürftig ist, wenn es Bestimmungen über die Einrichtung der Behörden enthält oder auch dann, wenn es das Verwaltungsverfahren regelt.32 Jedenfalls könnte ein Bundesgesetz zustimmungsfrei auf die Bestimmungen im Atomgesetz zur Einrichtung von Behörden und der Regelung des Verwaltungsverfahrens verzichten. 4.3. Artikel 104a Abs. 4 GG Artikel 104a Abs. 3 GG soll das Zustandekommen von Bundesgesetzen, die für die Länder kostenbelastend sind, von der Zustimmung des Bundesrates abhängig machen. Die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke könnte für die Länder zusätzlichen Vollzugsaufwand auslösen. Genannt sind in der Vorschrift jedoch nur „Pflichten der Länder zur Erbringung von Geldleistungen , geldwerten Sachleistungen oder vergleichbaren Dienstleistungen gegenüber Dritten“. Fraglich ist, ob hiervon auch reiner Vollzugsaufwand erfasst sein soll. Die Vorschrift wurde mit der Föderalismusreform 2006 in das Grundgesetz eingefügt. Für die Auslösung der Zustimmungsbedürftigkeit muss es sich wie beim bisherigen Artikel 104a Abs. 3 GG um Zweckausgaben handeln. Schlichter Vollzugsaufwand wird nicht berücksichtigt. Dies wird in der Gesetzesbegründung klargestellt, nach der reine Genehmigungen, Erlaubnisse oder sonstige Verwaltungsakte, die keine darüber hinausgehenden Leistungen bestimmen, sondern nur die Vereinbarkeit mit materiellen Vorschriften feststellen, nicht unter den Begriff der Sachleistungen fallen.33 Zustimmungsbedürftig sind die Änderungen von Regelungen, auf die eine Leistungspflichten der Länder begründende Norm verweist und den Leistungsumfang in der Höhe oder im Adressatenkreis erweitert. Nicht zustimmungsbedürftig sind nur mittelbare bzw. potenzielle Veränderungen des Adressatenkreises. Die Verlängerung der Laufzeit von Kernkraftwerken begründen keine Geld- oder Sachleistungsansprüche gegenüber den Ländern. Die möglicherweise zusätzliche Belastung der Länder durch die verlängerte Beaufsichtigung der Kraftwerke ist lediglich Vollzugsaufwand, der die Zustimmungsbedürftigkeit nach Artikel 104a Abs. 4 GG nicht auslöst. 32) Gegen die Zustimmungsbedürftigkeit: Lerche, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, 1987, Art. 85, Rn. 26; Broß, in: Münch/Kunig, Grundgesetzkommentar, Bd. 3, 5. Auflage, 2003, Rn. 8 – jeweils m.w.Nw.; a.A.: Trute, in: Magoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 5. Auflage, 2005, Art. 85, Rn. 12; Dittmann, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 5. Auflage, 2009, Art. 85, Rn. 10; Hermes, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. 3, 2. Auflage, 2008, Art. 85, Rn. 29. 33) BT-Drs. 16/813, S. 18.