Deutscher Bundestag Einführung von Verbandsklagen Verfassungsrechtliche Zulässigkeit Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 3 – 3000 - 134/11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 - 134/11 Seite 2 Einführung von Verbandsklagen Verfassungsrechtliche Zulässigkeit Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 – 3000 - 134/11 Abschluss der Arbeit: 10. Mai 2011 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 - 134/11 Seite 3 1. Fragestellung Wäre es verfassungsrechtlich zulässig, ähnlich wie bei Umweltverbänden oder Verbraucherrechten ein Verbandsklagerecht für Menschenrechtsorganisationen oder einer entsprechenden einzurichtenden öffentlichen Einrichtung gesetzlich zu verankern? 2. Verbandsklagen im deutschen Recht Das deutsche Rechtssystem ist vom Grundsatz des Individualrechtsschutzes geprägt, d.h. eine gerichtliche Geltendmachung von Ansprüchen oder Begehren setzt grundsätzlich eine Betroffenheit in eigenen Rechtspositionen voraus. Für das verwaltungsgerichtliche Verfahren ist diese Klagebefugnis in § 42 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung 1 geregelt. Das zivilprozessuale Pendant ist die sog. Prozessführungsbefugnis, die allerdings nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt ist. Eine Ausnahme vom Grundsatz des individuellen Rechtsschutzes bilden sog. Verbandsklagen, mit denen anerkannten Verbänden, die Geltendmachung bestimmter Rechtspositionen ermöglicht wird. 2.1. Verbandsklagen im Zivilrecht Im Zivilrecht gibt es drei Gesetze, die Verbandsklagen ermöglichen. Zum einen besteht für anerkannte Verbraucherverbände nach dem Gesetz über Unterlassungsklagen bei Verbraucherrechtsund anderen Verstößen (UKlaG)2 die Möglichkeit, auf Unterlassung bei Verstößen gegen verbraucherschützende Regelungen zu klagen. Dies betrifft etwa die Verwendung von unwirksamen Allgemeinen Geschäftsbedingungen (§ 1 UKlaG) sowie Verstöße gegen Regelungen über Fernabsatzverträge , Verbraucherkredite oder den Verbrauchsgüterkauf (§ 2 UKlaG). Darüber hinaus besteht für Verbände von Gewerbetreibenden, Verbraucherverbände sowie für Industrie- und Handelskammern die Möglichkeit, Verbandsklage gegen unlautere Geschäftspraktiken nach dem Gesetz über den Unlauteren Wettbewerb (UWG)3 zu erheben, § 8 Abs. 3 UWG. Hierunter fallen etwa irreführende Werbepraktiken nach § 5 UWG oder unerwünschte Telefonwerbung (cold calling) nach § 7 Abs. 2 Nr. 2 UWG. 1 Verwaltungsgerichtsordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 19. März 1991 (BGBl. I S. 686), die zuletzt durch Artikel 9 des Gesetzes vom 22. Dezember 2010 (BGBl. I S. 2248) geändert worden ist. 2 Unterlassungsklagengesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. August 2002 (BGBl. I S. 3422, 4346), das zuletzt durch Artikel 10 des Gesetzes vom 1. März 2011 (BGBl. I S. 288) geändert worden ist. 3 Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. März 2010 (BGBl. I S. 254). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 - 134/11 Seite 4 Schließlich können nach § 33 Abs. 2 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen4 auch kartellrechtliche Unterlassungsansprüche von Verbänden gerichtlich geltend gemacht werden. 2.2. Verbandsklagen im öffentlichen Recht Im öffentlichen Recht sind Verbandsklagen vor allem im Bereich des Umweltrechts möglich. Seit 2006 ist ein Verbandsklagerecht im Umweltrechtsbehelfsgesetz (UmwRG)5 geregelt. Danach könne anerkannte Umweltschutzverbände im Klagewege gegen Entscheidungen über die Zulässigkeit eines Vorhabens, für das eine Umweltverträglichkeitsprüfung erforderlich ist, sowie gegen die Genehmigung besonders umweltrelevanter Anlagen vorgehen, § 1 UmwRG. Darüber hinaus besteht für anerkannte Naturschutzverbände nach § 64 Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG)6 ein Klagerecht in naturschutzrechtlichen Angelegenheiten. Neben diesen umweltrechtlichen Regelungen besteht nach § 13 des Gesetzes zur Gleichstellung behinderter Menschen (BGG)7 ein Verbandsklagerecht für anerkannte Behindertenverbände. Diese können vor den Verwaltungs- bzw. Sozialgerichten in den in § 13 Abs. 1 BGG genannten Fällen Feststellungsklage erheben. Dies betrifft insbesondere Fälle, in denen die öffentliche Hand ihrer Verpflichtung zur Herstellung von Barrierefreiheit nicht nachkommt. 3. Verfassungsrechtliche Vorgaben 3.1. Systementscheidung Individualrechtsschutz Korrespondierend zum oben skizzierten Ausnahmecharakter von Verbandsklagen im einfachen Recht enthält das Grundgesetz (GG) keine Regelungen über diese Form des Rechtsschutzes. Vielmehr trifft das GG mit der Rechtsschutzgarantie in Art. 19 Abs. 4 GG eine grundsätzliche Systementscheidung zugunsten des Individualrechtsschutzes. Diese Norm garantiert den individuellen Rechtsschutz gegen Maßnahmen der öffentlichen Gewalt. Dabei wird zwischen drei Garantieebenen unterschieden. Zu allererst ist Art. 19 Abs. 4 GG ein Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz gegen Maßnahmen der öffentlichen Gewalt. Hinzu kommt die objektive Wertentscheidung zugunsten eines Systems der gerichtsgeprägten Überprüfung von Verwaltungshandeln. Als dritte Garantieebene enthält Art. 19 Abs. 4 GG die institutio- 4 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Juli 2005 (BGBl. I S. 2114; 2009 I S. 3850), das zuletzt durch Artikel 3 des Gesetzes vom 22. Dezember 2010 (BGBl. I S. 2262) geändert worden ist. 5 Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz vom 7. Dezember 2006 (BGBl. I S. 2816), das zuletzt durch Artikel 11a des Gesetzes vom 11. August 2010 (BGBl. I S. 1163) geändert worden ist. 6 Bundesnaturschutzgesetz vom 29. Juli 2009 (BGBl. I S. 2542). 7 Behindertengleichstellungsgesetz vom 27. April 2002 (BGBl. I S. 1467, 1468), das zuletzt durch Artikel 12 des Gesetzes vom 19. Dezember 2007 (BGBl. I S. 3024) geändert worden ist. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 - 134/11 Seite 5 nelle Garantie einer Gerichtsbarkeit, die den Rechtsschutzauftrag erfüllen kann8, wenngleich hieraus nicht zwingend die Einrichtung einer eigenständigen Gerichtsbarkeit (Verwaltungsgerichte ) gefolgert werden kann. Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG ist prägend für das Verhältnis zwischen Bürger und Staat.9 Die Verwaltung ist nach Art. 20 Abs. 3 GG an Recht und Gesetz gebunden, d.h. sie muss stets rechtmäßig handeln. Dies kann bei belastendem Verwaltungshandeln durch den betroffenen Bürger verwaltungsgerichtlich überprüft werden. Hierin kann für Behörden ein zusätzlicher Anreiz liegen, das eigene Handeln besonders sorgfältig auf Rechtmäßigkeit zu überprüfen. In der juristischen Literatur ist insoweit von einem edukatorisch-präventiven Effekt der Rechtsschutzgarantie auf die Verwaltung die Rede.10 Anders stellt sich die Situation bei rein begünstigendem Verwaltungshandeln dar, das weder den Adressaten noch einen Dritten belastet. In diesen Fällen findet keine gerichtliche Überprüfung des Verwaltungshandelns statt. Rechtswidriges begünstigendes Handeln einer Behörde kann daher allenfalls im Rahmen einer behördeninternen Überprüfung, bspw. anlässlich von Korruptionsbekämpfungsmaßnahmen , oder durch die übergeordnete Aufsichtsbehörde zu Tage treten. Derartige Überprüfungen finden jedoch meist nur anlassbezogen statt. Im Ergebnis führt die Systementscheidung des GG zugunsten des Individualrechtsschutzes zwar zu einer weitreichenden gerichtlichen Überprüfung des belastenden Verwaltungshandelns. Rein begünstigendes Verwaltungshandeln wird hingegen im Regelfall nur durch die handelnde Behörde selbst auf Rechtmäßigkeit überprüft. Eine Kontrolle durch Gerichte findet grundsätzlich nicht statt. Eine Ausnahme bilden insoweit die unter 2.2 genannten Fälle der Verbandsklage im öffentlichen Recht. 3.2. Neue Verbandsklagen Die Verfassungsmäßigkeit dieser Verbandsklagen wird – soweit ersichtlich – nicht in Frage gestellt . Hieraus kann jedoch nicht gefolgert werden, dass der Gesetzgeber das Instrument der Verbandsklage beliebig weit ausdehnen kann. Insoweit dürften zwei Einschränkungen bestehen. 3.2.1. Keine Einschränkung des Individualrechtsschutzes Zum einen darf der durch Art. 19 Abs. 4 GG garantierte Individualrechtsschutz nicht durch Verbandsklagen eingeschränkt werden. Es dürften daher keine Regelungen getroffen werden, die im 8 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, 60. Ergänzungslieferung 2010, Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 6 ff. 9 Näher hierzu Schulze-Fielitz in: Dreier: Grundgesetz, Band 1, 2. Auflage 2004, Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 35. 10 Huber in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Band 1, 6. Auflage, 2010, Art. 19 Rdnr. 342 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 - 134/11 Seite 6 Falle einer Verbandsklage den individuellen Rechtsschutz beschränken. Auch in tatsächlicher Hinsicht darf der individuelle Rechtsschutz nicht hinter etwaigen Verbandsklagen zurücktreten. Dies dürfte insbesondere für Fälle gelten, in denen eine sowohl begünstigende als auch belastende Verwaltungsentscheidung angegriffen wird. Ein Beispiel hierfür wäre eine behördliche Entscheidung, mit der eine beantragte Exportgenehmigung nur teilweise gewährt wird. Der betroffene Unternehmer könnte in diesem Fall auf vollständige Erteilung der beantragten Genehmigung klagen. Bestünde zugleich die Möglichkeit für einen anerkannten Verband gegen die teilweise erteilte Genehmigung zu klagen, dürfte sich dies wegen der von Art. 19 Abs. 4 GG garantierten Effektivität des Individualrechtsschutzes nicht negativ auf die Klage des Unternehmers auswirken. In der Praxis soll dies dadurch gewährleistet werden, dass die dem Individualrechtsschutz dienenden Klagen vom zuständigen Richter vorrangig vor objektiv-rechtlich ausgerichteten Kontrollverfahren zu erledigen sind.11 3.2.2. Keine Systemverschiebung Eine weitere Einschränkung für die Einführung neuer Verbandsklagen kann aus der objektiven Wertentscheidung zugunsten des Individualrechtsschutzes gefolgert werden. Insoweit dürfte es durch eine Ausweitung des Instruments der Verbandsklage nicht zu einer Systemverschiebung kommen.12 Der Individualrechtsschutz muss weiterhin prägend für die Überprüfung von Verwaltungshandeln sein. Das Instrument der Verbandsklage darf nicht von der – im Einzelfall rechtspolitisch erwünschten – Ausnahme zur Regel werden. 4. Ergebnis Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist es grundsätzlich möglich, neue Verbandsklagerechte einzuführen . Dabei gelten jedoch zwei Einschränkungen. Zum einen darf dies nicht zu einer rechtlichen oder faktischen Einschränkung des von Art. 19 Abs. 4 GG garantierten Rechts auf effektiven Individualrechtsschutz führen. Zum anderen darf es nicht zu einer grundsätzlichen Systemverschiebung vom Individualrechtsschutz zur Verbandsklage kommen. 11 Huber (Fn.10) Art. 19 Rdnr. 347; Schmidt-Aßmann (Fn. 8) Art. 19 Abs. 4 Rdnr. 9. 12 Huber (Fn. 10) Art. 19 Rdnr. 345; Scholz, Individualer oder kollektiver Rechtsschutz?, ZG 2003, 248, 260.