© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 133/20 Reisebeschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 133/20 Seite 2 Reisebeschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 133/20 Abschluss der Arbeit: 8. Juni 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 133/20 Seite 3 1. Fragestellung 4 2. Rechtsgrundlage 5 3. Transit 6 4. Grundrechte 7 4.1. Schutzbereich 7 4.2. Eingriff 9 4.3. Schranke 10 4.3.1. Gesetzliche Grundlage 10 4.3.2. Verhältnismäßigkeit 10 4.3.2.1. Legitimes Ziel 10 4.3.2.2. Geeignetheit 10 4.3.2.3. Erforderlichkeit 12 4.3.2.3.1. Einschätzungsspielraum 12 4.3.2.3.2. Mildere Mittel 12 4.3.2.4. Angemessenheit 13 4.3.2.4.1. Grundsatz 13 4.3.2.4.2. Abwägung 14 4.3.2.4.3. Befristung 16 4.3.2.5. Umsetzungsebene 17 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 133/20 Seite 4 1. Fragestellung Die Länder können nach § 32 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) im Wege der Rechtsverordnung „Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten […] erlassen“. Die Länder haben von dieser Befugnis Gebrauch gemacht (siehe z. B. die „SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung des Landes Berlin“).1 Die Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein2 und Sachsen-Anhalt3 haben jedenfalls zeitweise in ihre Eindämmungsverordnungen ein Verbot touristischer Reisen aufgenommen . So lautete z. B. § 4 Abs. 1 der „SARS-CoV-2-Bekämpfungsverordnung“4 Mecklenburg- Vorpommern: „Touristische Reisen aus privatem Anlass in das Gebiet des Landes Mecklenburg- Vorpommern sind untersagt. Dies gilt insbesondere für Reisen, die zu Freizeit- und Urlaubszwecken und zu Fortbildungszwecken unternommen werden.“ Ferner erließen vereinzelte Landkreise „Einreiseverbote“ und stützten sich dabei auf Öffnungsklauseln in den Länderverordnungen.5 Diese Einreiseverbote zielen darauf ab, die Nutzung von Nebenwohnungen (sogenannten Zweitwohnungen) im Landkreis aus touristischen Gründen zu untersagen.6 1 https://www.berlin.de/corona/massnahmen/verordnung/#headline_1_10; siehe auch die Vereinbarung zwischen Bundesregierung und den Bundesländern „Leitlinien zum Kampf gegen die Corona-Epidemie“, vom 16. März 2020, https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/meseberg/leitlinien-zum-kampf-gegen-die-corona-epidemie -1730942; Ländervergleichende Übersicht (überwiegend mehrere Verordnungen pro Bundesland): https://brak.de/die-brak/coronavirus/uebersicht-covid19vo-der-laender/; https://www.tagesschau.de/inland /corona-bundeslaender-101.html. 2 Verbot der Einreise nach Schleswig-Holstein aus touristischem Anlass (§ 2 Absatz 1 der bis zum 17. Mai 2020 geltenden Corona-Bekämpfungsverordnung); Verbot des Aufenthalts auf Inseln (§ 4 der bis zum 17. Mai 2020 geltenden Corona-Bekämpfungsverordnung). 3 § 5 Abs. 2 Fünfte Verordnung über Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 in Sachsen-Anhalt vom 4. Mai 2020, https://ms.sachsen-anhalt.de/fileadmin/Bibliothek/Politik _und_Verwaltung/MS/MS/Presse_Corona/VO/AEVO-1_VO_Fuenfte_SARS-Co-2-EindaemmungsVO_Lesefassung .pdf, Außerkrafttreten am 28. Mai 2020; ebenso schon unter anderem die Vierte Verordnung vom 16. April 2020. 4 In der Fassung der Dritten Verordnung vom 23. März 2020, https://www.regierung-mv.de/static/Regierungsportal /Ministerium%20f%C3%BCr%20Wirtschaft%2c%20Arbeit%20und%20Gesundheit/Dateien/Downloads /2.AK_GVO_8_corona_sonder.pdf; siehe hierzu auch Berliner Kurier vom 25. März 2020, Es gibt wieder eine innerdeutsche Grenze, https://www.berliner-kurier.de/berlin/es-gibt-wieder-eine-innerdeutsche-grenze-li.79461. 5 Siehe z. B. Landkreis Ostprignitz-Ruppin, Allgemeinverfügung vom 25. März 2020 für Reisen in das Gebiet des Landkreises Ostprignitz-Ruppin als Schutzmaßnahme zur Bekämpfung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2: Ausnahme vom Verbot privater/touristischer Reisen für „Personen, deren erster Wohnsitz im Landkreis Ostprignitz-Ruppin liegt“, https://www.ostprignitz-ruppin.de/media /custom/353_8156_1.PDF?1585136071. 6 Pressemitteilung des VG Potsdam vom 1. April 2020, https://www.juris.de/jportal/portal /page/homerl.psml?nid=jnachr-JUNA200400942&cmsuri=%2Fjuris%2Fde%2Fnachrichten%2Fzeigenachricht.jsp. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 133/20 Seite 5 Es stellen sich folgende Fragen: – Auf welche Rechtsgrundlage stützen sich die Reiseverbote? – Erfassen die Einreiseverbote auch den Transit durch die betreffenden Bundesländer? – Sind die Reiseverbote mit den Grundrechten vereinbar? 2. Rechtsgrundlage Die bisherige Rechtsprechung hat die alte Fassung des § 28 Abs. 1 IfSG als ausreichende Rechtsgrundlage für Allgemeinverfügungen zum Infektionsschutz angesehen.7 Dies gilt auch für Verordnungen nach § 32 IfSG i.V.m. § 28 Abs. 1 IfSG. Der Bundestag hat am 25. März 2020 Änderungen des Infektionsschutzgesetzes beschlossen.8 Die Änderungen des § 28 IfSG sind am Tag nach der Verkündung in Kraft getreten, mithin am 28. März 2020.9 Die Änderungen bieten weitere Anhaltspunkte dafür, dass § 28 Abs. 1 IfSG grundsätzlich eine gesetzliche Grundlage für notwendige Schutzmaßnahmen bietet.10 Auch bezüglich der innerdeutschen Reiseverbote hat die bisherige Rechtsprechung die Tauglichkeit der Rechtsgrundlage nach summarischer Prüfung bestätigt: „Es spricht vieles dafür, [dass] der Anwendungsbereich der Vorschrift [§ 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG] im Einzelfall – soweit notwendig – auch die Anordnung zum Verlassen des Ortes der Nebenwohnung zur Sicherstellung der ausreichenden Versorgung der Bevölkerung mit erforderlich werdenden Notfallbehandlungen umfassen kann, auch wenn damit erheblich in die Rechte der betroffenen Bürger eingegriffen wird. Eine abschließende Prüfung der dadurch aufgeworfenen Rechtsfragen ist der Kammer in der Kürze des zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich.“11 „Als Rechtsgrundlage hierfür [Untersagung der Anreise zur Nutzung einer im Landkreis gelegenen Nebenwohnung] kommt allein § 28 Abs. 1 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) in Betracht. Maßgeblich ist vorliegend bereits die Fassung des Gesetzes in Gestalt der Änderung, die es durch Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27. März 2020 erfahren hat. Dieses Gesetz ist noch am selben Tag im Bundesgesetzblatt (BGBl. I S. 587) verkündet worden und gemäß seinem § 7 Abs. 1 am Folgetag, 7 Näher hierzu: Wissenschaftliche Dienste, WD 3 - 3000 - 086/20, Ausgangsbeschränkungen gemäß § 28 Infektionsschutzgesetz . 8 BT-Drs. 19/18111, Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite. 9 Gesetz vom 27. März 2020, Bundesgesetzblatt Teil I 2020 Nr. 14 vom 27. März 2020, S. 587. 10 Näher hierzu: Wissenschaftliche Dienste, WD 3 - 3000 - 086/20, Ausgangsbeschränkungen gemäß § 28 Infektionsschutzgesetz . 11 VG Schleswig, Beschluss vom 21. März 2020 – 1 B 10/20, 1 B 11/20, 1 B 12/20, 1 B 13/20, 1 B 14/20, juris, Rn. 8; VG Schleswig, Beschluss vom 22. März 2020 – 1 B 17/20, juris, Rn. 8 (Hervorhebung durch Autor). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 133/20 Seite 6 also am 28. März 2020, mit seinen hier maßgeblichen Bestimmungen in Kraft getreten. Die Allgemeinverfügung ist dagegen erst am 28. März 2020 bekannt gemacht worden und kann deshalb gemäß ihrer Nr. 6 jedenfalls nicht vor dem 29. März 2020 wirksam geworden sein (vgl. auch § 41 Abs. 4 Satz 3 VwVfG). § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG enthält nunmehr zugleich den erforderlichen Hinweis auf die Einschränkung auch des Grundrechts aus Art. 11 Absatz 1 des Grundgesetzes, dessen Fehlen die Antragsteller im Hinblick auf die zuvor geltende Fassung der Eingriffsermächtigung gerügt haben.“12 „Die Rechtsverordnung, in der die angegriffene Norm des § 4a enthalten ist, beruht allerdings auf einer rechtlich voraussichtlich nicht zu beanstandenden Ermächtigungsgrundlage [§§ 32 Satz 1, 28 Abs. 1 IfSG].“13 Im Übrigen wird im Folgenden unterstellt, dass die Rechtsgrundlagen formell ordnungsgemäß zustande gekommen sind und das Zitiergebot (Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG) einhalten. 3. Transit Den Transit durch die von den Einreiseverboten betroffen Bundesländer dürften die Verbote nicht erfassen. Hierfür spricht der eindeutige Wortlaut der Corona-Schutzverordnungen, der nur Reisen in die betroffenen Gebiete erfasst. So lautete § 5 Abs. 2 „SARS-CoV-2-EindV“ Sachsen-Anhalt: „Reisen aus touristischem Anlass in das Gebiet des Landes Sachsen-Anhalt sind untersagt. Dies gilt auch für Reisen, die zu Freizeitzwecken oder zur Entgegennahme von vermeidbaren oder aufschiebbaren Maßnahmen der medizinischen Versorgung, Vorsorge oder Rehabilitation unternommen werden. Fahrten zum Zweitwohnsitz in Sachsen-Anhalt und der Aufenthalt dort sind zulässig.“14 Gleiches gilt für § 5 Abs. 1 „SARS-CoV-2-Bekämpfungsverordnung“ Mecklenburg Vorpommern: „Alle Reisen in das Gebiet des Landes Mecklenburg-Vorpommern sind untersagt, soweit die folgenden Absätze nichts anderes bestimmen.“15 12 VG Potsdam, Beschluss vom 31. März 2020 – VG 6 L 302/20, juris, Rn. 7 (Hervorhebung durch Autor). 13 OVG Greifswald, Beschluss vom 9. April 2020 – 2 KM 268/20, juris, Rn. 23 (Hervorhebung durch Autor). 14 Fünfte Verordnung über Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 in Sachsen-Anhalt vom 4. Mai 2020, https://ms.sachsen-anhalt.de/fileadmin/Bibliothek/Politik_und_Verwaltung /MS/MS/Presse_Corona/VO/AEVO-1_VO_Fuenfte_SARS-Co-2-EindaemmungsVO_Lesefassung.pdf, Außerkrafttreten am 28. Mai 2020 (Hervorhebung durch Autor). 15 Verordnung der Landesregierung zum dauerhaften Schutz gegen das neuartige Coronavirus in Mecklenburg- Vorpommern vom 8. Mai 2020, http://www.landesrecht-mv.de/jportal/portal/page/bsmvprod.psml?showdoccase =1&st=lr&doc.id=jlr-CoronaVSchVMV2rahmen&doc.part=X&doc.origin=bs (Hervorhebung durch Autor). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 133/20 Seite 7 So legt auch die Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern die Verordnung aus: „Die Durchreise durch Mecklenburg-Vorpommern ohne Verbleib im Land ist weiterhin gestattet. Dabei ist der Aufenthalt in Mecklenburg-Vorpommern so kurz wie möglich zu gestalten. Halten Sie sich hier bitte an die Abstandsregel und die Hygieneempfehlungen des Robert-Koch-Instituts .“16 Ebenso hat die Rechtsprechung das Einreiseverbot ausgelegt: „Im Übrigen versteht der Senat das Verbot der Einreise so, dass dadurch Transitfahrten ohne Aufenthalt in Mecklenburg-Vorpommern nicht erfasst werden.“17 4. Grundrechte 4.1. Schutzbereich Die Reisebeschränkungen berühren den Schutzbereich insbesondere der folgenden Grundrechte: – Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG – allgemeines Persönlichkeitsrecht: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht „zielt auf die Abwehr von Beeinträchtigungen der engeren persönlichen Lebenssphäre, der Selbstbestimmung und der Grundbedingungen der Persönlichkeitsentfaltung .“18 Die Übergänge zur Menschenwürde und allgemeinen Handlungsfreiheit sind fließend.19 – Art. 6 Abs. 1 GG – Ehe: Das Bundesverfassungsgericht definiert die Ehe als „die auf freiem Entschluss beruhende, auf der Grundlage gleichberechtigter Partnerschaft frei ausgestaltete und staatlich beurkundete Verbindung eines Mannes und einer Frau zur grundsätzlich unauflöslichen Lebensgemeinschaft“.20 – Art. 6 Abs. 1 GG – Familie: Der Begriff der Familie erfasst auch Gemeinschaften, die als soziale Familie von einer rechtlichen Elternschaft unabhängig sind.21 Entscheidend ist, dass zwischen den Familienmitgliedern „tatsächlich von familiärer Verbundenheit geprägte engere Beziehungen bestehen22. Der grundrechtlich gewährte Schutz wird aber umso schwächer, je 16 https://www.regierung-mv.de/Landesregierung/im/weitere-Themen/FAQ-Coronavirus/ (Hervorhebung durch Autor). 17 OVG Greifswald, Beschluss vom 8. April 2020 – 2 KM 236/20, juris, Rn. 35 (Hervorhebung durch Autor). 18 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 89. EL Oktober 2019, Art. 2 Abs. 1 Rn. 147. 19 Vgl. Lang, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition Stand: 1. Dezember 2019, Art. 2 Rn. 34 ff. 20 Uhle, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition, Stand: 1. Dezember 2019, Art. 6 Rn. 2a mit weiteren Nachweisen. 21 Uhle, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition, Stand: 1. Dezember 2019, Art. 6 Rn. 14. 22 Uhle, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition, Stand: 1. Dezember 2019, Art. 6 Rn. 14a, unter Verweis auf BVerfGE 136, 382 (389). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 133/20 Seite 8 schwächer die biologische, rechtliche und soziale Verbindung der Beziehungen ausgestaltet ist.23 – Art. 11 Abs. 1 GG – Freizügigkeit: Das Grundrecht der Freizügigkeit erfasst das Recht „an jedem Ort innerhalb des Bundesgebietes Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen [und] auch zu diesem Zweck in das Bundesgebiet einzureisen“.24 In Abgrenzung zu Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG handelt es sich um Aufenthalte „zwecks Wohnsitzbegründung im Sinne einer Verlagerung des alltäglichen Lebensschwerpunkts“.25 In Abgrenzung zur Bewegungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG wird unter Freizügigkeit ein Ortswechsel von einiger Bedeutung und Dauer verstanden.26 – Art. 12 Abs. 1 GG – Berufsfreiheit: Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts umfasst der Schutzbereich der Berufsfreiheit „jede auf Erwerb gerichtete Tätigkeit […], die auf gewisse Dauer angelegt ist und der Schaffung und Aufrechterhaltung einer Lebensgrundlage dient“.27 Erfasst werden auch Zweitberufe, Nebentätigkeiten, Gelegenheitsarbeiten und Ferienjobs.28 Art. 12 Abs. 1 GG schützt zudem die freie Wahl der Ausbildungsstätte: „Hierzu zählen insbesondere Universitäten und Fachhochschulen […] sowie Berufs- und sonstige berufsbildende Schulen.29 Nicht in den Schutzbereich fallen allgemeinbildende Schulen, weil der unmittelbare Bezug zur späteren Berufstätigkeit fehlt.30 – Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG – Eigentum: Der Eigentumsschutz im Bereich des Privatrechts betrifft grundsätzlich „alle vermögenswerten Rechte, die dem Berechtigten von der Rechtsordnung in der Weise zugeordnet sind, dass er die damit verbundenen Befugnisse nach eigenverantwortlicher Entscheidung zu seinem privaten Nutzen ausüben darf.“31 Ob künftige Umsätze eines Betriebs unter den Schutz des Eigentums fallen, ist umstritten.32 Ebenso ist umstritten, inwieweit das Recht am eingerichteten Gewerbebetrieb Art. 14 GG, Art. 12 GG oder beiden Grundrechten unterfällt.33 23 Coester-Waltjen, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 6. Auflage 2012, Art. 6 Rn. 11. 24 Pagenkopf, in: Sachs Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 11 Rn. 14, Fußnoten des Originals ausgelassen. 25 OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. März 2020 – OVG 11 S 12/20, BeckRS 2020, 4408, Rn. 4. 26 Pagenkopf, in: Sachs Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 11 Rn. 16. 27 BVerfGE 102, 197 (212). 28 Manssen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 12 Rn. 38. 29 Manssen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 12 Rn. 61. 30 Manssen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 12 Rn. 62. 31 BVerfGE 83, 201 (209); 101, 239 (258); 112, 93 (107). 32 Wendt, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 14 Rn. 44, 49. 33 Wendt, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 14 Rn. 49, 67. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 133/20 Seite 9 – Art. 2 Abs. 1 – Allgemeine Handlungsfreiheit: Das Recht der Allgemeinen Handlungsfreiheit ist im Verhältnis zu den anderen Grundrechten als „Auffangrecht“34 konzipiert. Es schützt „jede Form menschlichen Handelns ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht der Betätigung für die Persönlichkeitsentfaltung zukommt“.35 Auch banale Tätigkeiten und alltägliche Verhaltensweisen genießen Grundrechtsschutz.36 4.2. Eingriff Grundsätzlich greifen die in den „Eindämmungsverordnungen“ enthaltenen Reisebeschränkungen in den Schutzbereich der Freiheitsrechte wohl insbesondere wie folgt ein: – Allgemeines Persönlichkeitsrecht: Aus Reiseverboten folgende Besuchsbeschränkungen können die persönliche Selbstbestimmung beeinträchtigen. – Ehe und Familie: Reiseverbote können zu Kontaktbeschränkungen unter Eheleuten oder Mitgliedern der Familie führen. Ein Eingriff liegt auch bei erlaubten Reisen vor, da die Erlaubnis gegenüber der Polizei glaubhaft gemacht werden muss. – Freizügigkeit: Durch die Einreiseverbote für Touristen und Personen, die ihren Zweitwohnsitz in dem betroffenen Bundesland haben, liegt ein Eingriff in das Grundrecht der Freizügigkeit vor. – Berufsfreiheit: Eingriffe liegen insbesondere vor, wenn auch Personen die Einreise verboten wird, die ihrer erwerbsmäßigen bzw. selbstständigen Tätigkeit in dem betroffenen Gebiet nachgehen. Allerdings sind von den Reiseverboten regelmäßig ausgenommen „Personen, die ihrer erwerbsmäßigen bzw. selbständigen Tätigkeit in Mecklenburg-Vorpommern nachgehen .“37 Ferner erfassen die Reiseverbote Einreisen zu Ausbildungszwecken nicht, insoweit sind nur „Reisen aus touristischem Anlass“ untersagt.38 – Eigentum: Ein Eingriff liegt grundsätzlich vor, wenn der Eigentümer oder Mieter39 einer Zweitwohnung diese nicht mehr aufsuchen darf. 34 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 89. EL Oktober 2019, Art. 2 Abs. 1 Rn. 15, Fußnoten des Originals ausgelassen. 35 BVerfG, Beschluss vom 6. Juni 1989 – 1 BvR 921/85, BeckRS 9998, 164952. 36 Dreier, in: Dreier Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2013, Art. 2 Abs. 1 Rn. 26. 37 § 4 Abs. 5 SARS-CoV-2-Bekämpfungsverordnung in der Fassung der Dritten Verordnung vom 23. März 2020, https://www.regierung-mv.de/static/Regierungsportal/Ministerium%20f%C3%BCr%20Wirtschaft%2c%20Arbeit %20und%20Gesundheit/Dateien/Downloads/2.AK_GVO_8_corona_sonder.pdf. 38 § 5 Abs. 2 Fünfte Verordnung über Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 in Sachsen-Anhalt vom 4. Mai 2020, https://ms.sachsen-anhalt.de/fileadmin/Bibliothek/Politik _und_Verwaltung/MS/MS/Presse_Corona/VO/AEVO-1_VO_Fuenfte_SARS-Co-2-EindaemmungsVO_Lesefassung .pdf, Außerkrafttreten am 28. Mai 2020; ebenso schon unter anderem die Vierte Verordnung vom 16. April 2020. 39 Vgl. BVerfGE 89, 1, Leitsatz 1. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 133/20 Seite 10 – Allgemeine Handlungsfreiheit: Beschränkungen der allgemeinen Freizeitgestaltung stellen einen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit dar.40 4.3. Schranke 4.3.1. Gesetzliche Grundlage In vorgenannte Grundrechte kann nur „durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes“ eingegriffen werden (vgl. Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 11 Abs. 2, Art. 12 Abs. 1 Satz 2, Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG). Die bisherige Rechtsprechung hat die alte Fassung des § 28 Abs. 1 IfSG als ausreichende Rechtsgrundlage für Allgemeinverfügungen zum Infektionsschutz angesehen.41 4.3.2. Verhältnismäßigkeit Ein Eingriff in Grundrechte muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Dies setzt voraus, dass der Eingriff ein legitimes Ziel in geeigneter, erforderlicher und angemessener Weise verfolgt. 4.3.2.1. Legitimes Ziel Der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung und eine Verhinderung der Überlastung des Gesundheitssystems sind ein legitimes Ziel für Grundrechtseingriffe: „Zwar ist es ein berechtigtes Anliegen zu verhindern, dass die medizinischen Kapazitäten, insbesondere im Bereich der Intensivmedizin, infolge einer zunehmenden Ausbreitung der Infektion nicht überschritten werden […].“42 „Die in der Rechtsverordnung angeordneten Maßnahmen haben nach der Begründung der Rechtsverordnung das Ziel, besonders vulnerable Personengruppen vor einer Ansteckung zu schützen und die Ansteckung einer größeren Anzahl von Menschen wenigstens zu verzögern .“43 4.3.2.2. Geeignetheit Das „Corona-Virus“ überträgt sich wohl vor allem durch soziale Kontakte. Daher sind Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, soziale Kontakte zu verringern oder zu verhindern, geeignet, die Gesundheit der Bevölkerung und das Funktionieren des Gesundheitssystems zu schützen. Bei der Beurteilung 40 BVerfG, Beschluss vom 21. Dezember 2011 − 1 BvR 2007/10, Rn. 33. 41 Siehe oben Abschnitt 2. Zur Frage der Bestimmtheit der Eindämmungsverordnungen siehe WD 3 - 3000 - 079/20, Kontaktbeschränkungen zwecks Infektionsschutz: Grundrechte, S. 41 ff., https://www.bundestag.de/resource /blob/690718/d37f86a0d2630831d13f70f16f63911b/WD-3-079-20-pdf-data.pdf. 42 VG Potsdam, Beschluss vom 31. März 2020 – VG 6 L 302/20, juris, Rn. 12. 43 OVG Greifswald, Beschluss vom 9. April 2020 – 2 KM 267/20, juris, Rn. 28; OVG Greifswald, Beschluss vom 9. April 2020 – 2 KM 268/20, juris, Rn. 29. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 133/20 Seite 11 der Geeignetheit staatlicher Maßnahmen steht Gesetzgeber und Exekutive ein Einschätzungsspielraum zu. Die Geeignetheit von Reisebeschränkungen beziehungsweise der Pflicht zum Verlassen von Mecklenburg -Vorpommern bei Bestehen eines Zweitwohnsitzes vor Ort und/oder bei Einreise vor Inkrafttreten der Verordnung, hat die Rechtsprechung teilweise bejaht: „Die Regelungen müssen geeignet sein, diese Zielsetzung umzusetzen. Nach den gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkenntnissen erfolgt die Übertragung des Virus überwiegend durch Tröpfchen-Infektion zwischen Menschen. Dazu kommt es insbesondere bei körperlicher Nähe von Menschen im privaten und beruflichen Umfeld unabhängig von direktem Körperkontakt. Die in der Verordnung vorgesehenen Maßnahmen begrenzen solche physischen Kontaktmöglichkeiten .“44 In eine ähnliche Richtung geht die Argumentation des Verwaltungsgerichts Oldenburg: „Ein solcher Ortswechsel mit einer Anreise über mehr als 300 km mit entsprechenden Begegnungskontakten bei der Anreise und der Verwendung von öffentlichen Verkehrsmitteln [Fähre] erhöht die Infektions- und Verbreitungsgefahr des Coronavirus noch weiter.“45 In einem anderen Fall hat ein Verwaltungsgericht eine Allgemeinverfügung eines Landkreises auf Grundlage der Brandenburger „SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung“ dagegen für nicht geeignet gehalten. Die Allgemeinverfügung untersagte die Nutzung von Nebenwohnungen (sogenannten Zweitwohnungen) im Landkreis aus touristischen Gründen. In dem Beschluss heißt es: „Zur Erreichung dieses Zwecks sind jedoch nach derzeitigem Erkenntnisstand die mit der Allgemeinverfügung getroffenen Regelungen nicht erforderlich [gemeint ist: geeignet] im Sinne der genannten Eingriffsermächtigung. Denn es drängt sich keinesfalls auf, dass sich durch die bevorstehende Anreise solcher Zweitwohnungsnutzer die Ansteckungsgefahr derart erhöht, dass absehbar mit einer Kollabierung des Gesundheitssystems des Landkreises gerechnet werden müsste. […] Zwar ist es ein berechtigtes Anliegen zu verhindern, dass die medizinischen Kapazitäten , insbesondere im Bereich der Intensivmedizin, infolge einer zunehmenden Ausbreitung der Infektion nicht überschritten werden. Inwieweit allerdings ein Zusammenhang zwischen 44 OVG Greifswald, Beschluss vom 8. April 2020 – 2 KM 236/20, juris, Rn. 25 (Hervorhebung durch Autor) bezüglich § 4 der „SARS-CoV-2-Bekämpfungsverordnung“ Mecklenburg-Vorpommern vom 3. April 2020 (Einreiseverbot auch bei Zweitwohnsitz in Mecklenburg-Vorpommern); OVG Greifswald, Beschluss vom 9. April 2020 – 2 KM 267/20, juris, Rn. 29 (Hervorhebung durch Autor), bezüglich § 4 Abs. 8 der „SARS-CoV-2-Bekämpfungsverordnung“ Mecklenburg-Vorpommern in der Fassung der Ersten Änderungsverordnung vom 08. April 2020 (Verlassen des Ortes der Nebenwohnung); OVG Greifswald, Beschluss vom 9. April 2020 – 2 KM 268/20, juris, Rn. 30 (Hervorhebung durch Autor), bezüglich § 4a der „SARS-CoV-2-Bekämpfungsverordnung“ Mecklenburg-Vorpommern in der Fassung der Ersten Änderungsverordnung vom 8. April 2020 (Reiseverbot über Ostern selbst bei Zweitwohnsitz in Mecklenburg-Vorpommern). 45 VG Oldenburg, Beschluss vom 31. März 2020, 7 B 709/20, juris, Rn. 26 (Hervorhebung durch Autor). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 133/20 Seite 12 der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems und der Nutzung von Nebenwohnungen besteht , ist nicht ersichtlich und wird auch weder in der Begründung der Allgemeinverfügung noch in der Antragserwiderung ausgeführt.“46 4.3.2.3. Erforderlichkeit 4.3.2.3.1. Einschätzungsspielraum Bei der Frage gleich wirksamer, aber weniger einschneidender Maßnahmen steht dem Verordnungsgeber ein Einschätzungsspielraum zu: „Ob sämtliche Beschränkungen kumulativ erforderlich sind, unterliegt der Einschätzungsprärogative des Verordnungsgebers.“47 4.3.2.3.2. Mildere Mittel Die Verfügbarkeit milderer Mittel verneint die Rechtsprechung teilweise: „Die Regelungen müssen auch erforderlich sein. Das Virus ist nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen hoch infektiös. Einen Impfstoff gibt es bislang ebenso wenig wie die Möglichkeit, die Erkrankung direkt medizinisch zu behandeln. Die medizinische Behandlung ist beschränkt auf die Symptombehandlung und allgemeine Stärkung des Körpers. Die Sterberate insbesondere bei den so genannten vulnerablen Gruppen der Bevölkerung, vornehmlich ältere Menschen mit Vorerkrankungen, ist nach den bisherigen Erkenntnissen innerhalb dieser Gruppe hoch. Die Vermeidung körperlicher Nähe zwischen Menschen und die Einhaltung bestimmter Hygieneregeln ist nach gegenwärtigem Wissenstand die gebotene Methode, die Verbreitung des Virus zu verlangsamen oder gar zu hemmen. Dazu gehört die Begrenzung der Bewegungsfreiheit und der Kontaktmöglichkeiten der Menschen untereinander. Andere Methoden stehen momentan nicht zur Verfügung.“48 Auch stellt sich die Frage, ob mildere Mittel gleich wirksam sind. Denn ohne ein Einreiseverbot ergäben sich weitere Bewegungen und typischerweise auch eine erhöhte Wahrscheinlichkeit an 46 VG Potsdam, Beschluss vom 31. März 2020 – VG 6 L 302/20, juris, Rn. 9 f., 12 (Hervorhebung durch Autor); anders im Ergebnis aber z. B. Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein, Beschluss vom 2. April 2020, 3 MB 11/20, juris (Verlassen des Ortes der Nebenwohnung); zweifelnd auch Thiele, „Rauswurf aus der Zweitwohnung“, 22. März 2020, https://verfassungsblog.de/rauswurf-aus-der-zweitwohnung/. 47 OVG Greifswald, Beschluss vom 8. April 2020 – 2 KM 236/20, juris, Rn. 26 (Hervorhebung durch Autor); OVG Greifswald, Beschluss vom 9. April 2020 – 2 KM 267/20, juris, Rn. 30 (Hervorhebung durch Autor). 48 OVG Greifswald, Beschluss vom 8. April 2020 – 2 KM 236/20, juris, Rn. 26 (Hervorhebung durch Autor); OVG Greifswald, Beschluss vom 9. April 2020 – 2 KM 267/20, juris, Rn. 30 (Hervorhebung durch Autor); OVG Greifswald , Beschluss vom 9. April 2020 – 2 KM 268/20 lässt die Erforderlichkeit offen; kritisch hierzu Alexander Thiele, „Rauswurf aus der Zweitwohnung“, 22. März 2020, https://verfassungsblog.de/rauswurf-aus-der-zweitwohnung/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 133/20 Seite 13 Kontakten im öffentlichen Raum. Ferner könnte man eine gewisse Sogwirkung49 oder Nachahmungsgefahr unterstellen: Je mehr Menschen sich außerhalb der Wohnung bewegen, desto eher akzeptiert die breite Gesellschaft dies und desto weniger wird die Aufenthaltsbeschränkung als umgesetztes und durchgesetztes Ge- und Verbot wahrgenommen und gelebt. 4.3.2.4. Angemessenheit 4.3.2.4.1. Grundsatz Die Angemessenheit ist gewahrt, wenn der Grundrechtseingriff nicht außer Verhältnis zum verfolgten Zweck steht.50 Für die verschiedenen betroffenen Grundrechte gelten dabei entsprechend der betroffenen Rechtsgüter unterschiedliche Abwägungsmaßstäbe. Diese ergeben sich ausdrücklich aus dem Grundgesetz oder aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. So ist z. B. eine Einschränkung der Freizügigkeit nur bei „Seuchengefahr“ zulässig (Art. 11 Abs. 2 GG), ein Berufsausübungsverbot nach der Rechtsprechung nur zum „Schutz eines besonders wichtigen Gemeinschaftsguts“.51 Diese Unterschiede können letztlich dahingestellt bleiben, da die Reisebeschränkungen Leben und Gesundheit der Bevölkerung, und damit höchste Rechtsgüter52 schützen sollen: „Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist auch zu berücksichtigen, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Infektionsschutzrecht der im allgemeinen Polizeiund Ordnungsrecht geltende Grundsatz heranzuziehen ist, dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist [...]. Dies rechtfertigt im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung die Überlegung, dass die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit im Falle eines besonders schweren Schadens entsprechend zurückgenommen werden können. Dies gilt im vorliegenden Fall, weil die durch das Virus hervorgerufene Infektion in vielen Fällen eine schwere Lungenentzündung auslösen kann, die in nicht wenigen Fällen auch bei intensivmedizinischer Betreuung zum Tod führt.“53 49 Hierzu VG Hamburg, Beschluss vom 27. März 2020 – 14 E 1428/20, Rn. 58, https://justiz.hamburg.de/contentblob /13771374/70d4d8e4a9bc41aed170cf2c2e01a9f0/data/14-e-1428-20.pdf, bzgl. der Schließung von Fitness-, Sport- und Freizeitstätten. 50 BVerfGE 50, 217 (227); 80, 103 (107); 99, 202 (212 f.). 51 BVerfG NJW 2017, 3704 (3705). 52 BVerfGE 39, 1 (42): „Das menschliche Leben stellt, wie nicht näher begründet werden muss, innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar; es ist die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte.“ 53 OVG Greifswald, Beschluss vom 8. April 2020 – 2 KM 236/20, juris, Rn. 30 (Hervorhebung durch Autor); OVG Greifswald Beschluss vom 9. April 2020 – 2 KM 267/20, juris, Rn. 34 (Hervorhebung durch Autor). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 133/20 Seite 14 4.3.2.4.2. Abwägung Die Angemessenheit von Reisebeschränkungen beziehungsweise der Pflicht zum Verlassen des Bundeslandes hat die Rechtsprechung bejaht: „Der Verhältnismäßigkeit steht auch nicht entgegen, dass sich die Zahl der bekannten Erkrankungen und Infektionen nicht exponentiell entwickelt hat und bezogen auf die Gesamtbevölkerung des Landes Mecklenburg-Vorpommern im Bundesvergleich sowie absolut gering ist. Das kann auch die Folge der in der Vorgängerverordnung angeordneten Maßnahmen und der besonderen demographischen Struktur eines bis auf wenige größere Städte dünn besiedelten Landes sein, wodurch die Verbreitung des Virus im Vergleich zu anderen Bundesländern oder gar ausländischen Staaten langsamer verläuft. Zu berücksichtigen ist auch, dass die Zahl der Tests weiterhin gering ist und daher belastbare Zahlen über die tatsächlichen Infektionen in Mecklenburg-Vorpommern nicht vorliegen. Weil die Infektion nach bisherigem Kenntnisstand überwiegend ohne oder nur mit leichten, einer Erkältung oder einem so genannten grippalen Infekt gleichen oder ähnlichen Symptomen verläuft, ist es nicht ausgeschlossen, dass eine größere Zahl von Personen in Mecklenburg-Vorpommern infiziert ist und die Infektion weitergeben kann, ohne dass dies bemerkt wird. Angesichts dieser Unsicherheiten und der erheblichen Gefahr für eine größere Gruppe von Menschen, ernsthaft zu erkranken, sieht der Senat die Verhältnismäßigkeit der betroffenen Regelungen voraussichtlich für gegeben.“54 Ein Argument war in diesem Zusammenhang auch die staatliche Schutzpflicht: „Die in den angegriffenen Bestimmungen der Verordnung enthaltenen Grundrechtseingriffe finden ihre verfassungsrechtliche Rechtfertigung in der staatlichen Schutzpflicht für die Gesundheit der Bevölkerung und damit den Grundrechten Anderer, die sich auch gerade in dem Anspruch des Einzelnen und der Bevölkerung auf Schutz vor Infektionskrankheiten konkretisiert . Angesichts der erkennbar hohen Gefährdung eines nicht unbeträchtlichen Teils der Bevölkerung durch die durch den SARS-CoV-2-Virus hervorgerufene Erkrankung liegen die Voraussetzungen für eine Einschränkung der Grundrechte […] vor (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.01.2020 – 2 BvR 1333/17, juris Rn. 82).“55 Für die Angemessenheit spricht, dass die Verordnungen Ausnahmen der Reisebeschränkungen vorsehen. So könnte es zum Beispiel unverhältnismäßig sein, wenn Kontakte unter Ehe- und Beziehungspartnern oder zwischen Eltern und ihren Kindern nicht möglich wären. In diesem Sinne bestimmt § 5 Abs. 5 „SARS-CoV-2-Bekämpfungsverordnung“ Mecklenburg Vorpommern:56 „Das Verbot in Absatz 1 gilt nicht für Reisen zu privaten Besuchen bei Familienangehörigen (Kernfamilie), die ihren ersten Wohnsitz (Haupt- oder alleinige Wohnung nach dem Bundesmeldegesetz ) in Mecklenburg-Vorpommern haben. Familienangehörige (Kernfamilie) sind 54 OVG Greifswald, Beschluss vom 8. April 2020 – 2 KM 236/20, juris, Rn. 30 (Hervorhebung durch Autor); OVG Greifswald Beschluss vom 9. April 2020 – 2 KM 267/20, juris, Rn. 34 (Hervorhebung durch Autor). 55 OVG Greifswald, Beschluss vom 8. April 2020 – 2 KM 236/20, juris, Rn. 31 (Hervorhebung durch Autor); OVG Greifswald Beschluss vom 9. April 2020 – 2 KM 267/20, juris, Rn. 35 (Hervorhebung durch Autor). 56 Verordnung der Landesregierung zum dauerhaften Schutz gegen das neuartige Coronavirus in Mecklenburg- Vorpommern vom 8. Mai 2020, http://www.landesrecht-mv.de/jportal/portal/page/bsmvprod.psml?showdoccase =1&st=lr&doc.id=jlr-CoronaVSchVMV2rahmen&doc.part=X&doc.origin=bs (Hervorhebung durch Autor). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 133/20 Seite 15 hierbei Ehegatten, eingetragene Lebenspartner, Lebensgefährten, Kinder, Eltern, Geschwister, Urenkel und Großeltern. Ein solcher Familienbesuch ist jeweils auch zusammen mit dem Ehegatten, eingetragenen Lebenspartner oder Lebensgefährten möglich, sofern häusliche Gemeinschaft besteht.“ Dabei steht es der Verhältnismäßigkeit nicht entgegen, dass nicht alle denkbaren Einzelfälle von den Ausnahmetatbeständen erfasst sind: „Der Verordnungsgeber kann und muss mit Blick auf den Katalog dieser Ausnahmevorschriften nicht alle denkbaren Einzelfälle abdecken. Diesen kann durch die hierfür zuständigen Behörden auf der Ebene des Vollzugs der Bestimmung genügt werden.“57 Zugunsten der Angemessenheit von einem Verbot des Verbleibs am Zweitwohnsitz spricht zudem, dass „bei der begehrten Nutzung der Nebenwohnung grundsätzlich davon auszugehen ist, dass den Betroffenen eine weitere Wohnung, nämlich ihre Hauptwohnung, zur Verfügung steht. Sollten sich diesbezüglich Komplikationen ergeben, ist dies zunächst gegenüber den dort zuständigen Behörden darzulegen, um die ggf. notwendige Vorkehrungen zu treffen. Grundsätzlich ist es nicht unzumutbar, die Betroffenen auf die Nutzung ihrer Hauptwohnung zu verweisen. Im Ausnahmefall kann dies jedoch dann unzumutbar sein, wenn besondere individuelle Umstände hinzutreten, aufgrund derer die kurzfristige Nutzung der Hauptwohnung unverhältnismäßig ist und die Folgen für die Betroffenen einen gravierenden Eingriff in besonders gewichtige Individualrechtsgüter darstellt. Dies kann sich dann ergeben, wenn bereits die Rückreise zur Hauptwohnung eine schwerwiegende gesundheitliche Gefahr darstellt oder aber sich diese Gefahr durch die Ankunft und den weiteren Verbleib in der Hauptwohnung ergibt.“58 Dennoch verneint ein Gericht die Angemessenheit der Reisebeschränkung über Ostern, die auch für diejenigen gilt, die ihren Wohnsitz in Mecklenburg-Vorpommern haben: „Die angegriffene Bestimmung des § 4a der Verordnung ist mit dem durch die Änderung gefundenen Inhalt deswegen nicht verhältnismäßig im engeren Sinne, weil die mit ihr verbundenen Eingriffe in das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nicht angemessen sind. […] Allerdings verhindert die Norm gerade nicht, dass sich große Bevölkerungsteile auf zum Teil vergleichsweise engem Raum aufhalten können (vgl. § 4a Abs. 2 Buchst. a) der Verordnung) und dass in der besonderen Situation der Osterfeiertage gerade wegen dieses disproportionalen Verhältnisses von Anzahl der Menschen und verfügbarem Raum die im Übrigen weitergeltenden Vorschriften der Bekämpfungsverordnung nicht im notwendigen Maße eingehalten werden können. Das könnte sich negativ für die Begrenzung des Infektionsrisikos auswirken. […] 57 OVG Greifswald, Beschluss vom 9. April 2020 – 2 KM 267/20, juris, Rn. 37 (Hervorhebung durch Autor). 58 VG Schleswig, Beschluss vom 21. März 2020 – 1 B 10/20, 1 B 11/20, 1 B 12/20, 1 B 13/20, 1 B 14/20, juris, Rn. 14; VG Schleswig, Beschluss vom 22. März 2020 – 1 B 17/20, juris, Rn. 14. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 133/20 Seite 16 Hingegen dürfte das Verhältnis zwischen verfügbarem Raum und Bevölkerungszahl auf den großen Ostseeinseln Rügen und Usedom deutlich geeigneter sein, die Infektionsrisiken zu vermindern . Weiter gilt, dass nicht unbeträchtliche Bereiche des Gebietes des Landes Mecklenburg- Vorpommern von den Beschränkungen frei sind, darunter für ihre touristische Attraktivität bekannte Gebiete wie das Territorium und die Umgebung der Landeshauptstadt Schwerin, deren Nichteinbeziehung in § 4a der Verordnung nicht näher begründet wird und sachlich auch nicht recht nachvollziehbar ist. An diesen Orten ist eine Konzentration der von der in der Verordnung genannten Gebieten ferngehaltenen Bevölkerung keinesfalls auszuschließen, weil auch dieser Teil der Bevölkerung angesichts der seit drei Wochen andauernden Beschränkungen der Bewegungsfreiheit voraussichtlich das – augenscheinlich vom Verordnungsgeber befürchtete – Bedürfnis haben könnte, sich in den Ostertagen durch einen Ausflug zu erholen. Schon dies führt dazu, dass das erklärte Ziel der Beschränkung der Bewegungsfreiheit voraussichtlich nur sehr eingeschränkt erreicht werden kann. Weiter ist die Argumentation der Antragsteller, angesichts der räumlichen Ausdehnung der in § 4a der Verordnung genannten Gebiete und des Fehlens der über die Ostertage aus anderen Bundesländern und ausländischen Staaten stammenden Touristen sei ausreichend Platz, um unter Berücksichtigung der weitergeltenden Beschränkungen der sozialen Kontakte das Infektionsrisiko zu mindern, nicht von der Hand zu weisen. Besondere und attraktive Treffpunkte, an denen sich Menschenmengen sammeln könnten, sind im Wesentlichen durch die weitergeltenden einschränkenden Bestimmungen der Bekämpfungsverordnung, sieht man von den natürlichen Reizen der in der Verordnung genannten Gebiete ab, verhindert. […] Der Senat vermag des Weiteren keinen sachlichen, an den Schutzzweck der Ermächtigungsgrundlage ausreichend anknüpfenden Gesichtspunkt für die Differenzierung zwischen den betroffenen Bevölkerungsgruppen zu erkennen. Der Wohnsitz mag als Anknüpfungspunkt aus verwaltungspraktischen Gründen gewählt worden sein, doch ist dies kein infektionsschutzrechtlicher Gesichtspunkt für den Ausschluss weiter Bevölkerungsteile von dem Betreten eines unter Aspekten der Erholung besonders attraktiven Teiles des Landes. Dies entspricht jedenfalls auch nicht dem aus der Begründung des ursprünglichen § 4a der Verordnung vom 03.04.2020 erkennbaren Ziel der Vorschrift, den Aufenthalt der Bevölkerung auf ein, wenn auch nicht definiertes, näheres Wohnumfeld zu beschränken.“59 4.3.2.4.3. Befristung Für eine Angemessenheit sprechen auch eine zeitliche Befristung der Maßnahmen und eine fortlaufende Evaluierung60 ihrer Notwendigkeit: „Zunächst ist darauf zu verweisen, dass der Geltungszeitraum der Verordnung auf den 19.04.2020 begrenzt ist. Der Verordnungsgeber macht dadurch deutlich, dass er sich bewusst ist, dass angesichts der Intensität der Eingriffsmaßnahmen eine Überprüfung und gegebenenfalls Anpassung 59 OVG Greifswald, Beschluss vom 9. April 2020 – 2 KM 268/20, juris, Rn. 41 f. (Hervorhebung durch Autor). 60 Siehe so z. B. § 12 Verordnung der Landesregierung zum dauerhaften Schutz gegen das neuartige Coronavirus in Mecklenburg-Vorpommern vom 8. Mai 2020, http://www.landesrecht-mv.de/jportal/portal /page/bsmvprod.psml?showdoccase=1&st=lr&doc.id=jlr-CoronaVSchVMV2rahmen&doc.part=X&doc.origin=bs. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 133/20 Seite 17 der Verordnung an die Entwicklung der Verbreitung der Erkrankung und die veränderten wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Möglichkeiten der Bekämpfung der Infektionsausbreitung und die Behandlungsmöglichkeiten innerhalb eines kurzen Zeitraumes erforderlich ist. Dabei obliegt dem Verordnungsgeber auch innerhalb des Geltungszeitraums der Verordnung eine Beobachtungs- und Überprüfungspflicht […].“61 4.3.2.5. Umsetzungsebene Neben der Ebene der Regelung ist auch, wenn nicht sogar vor allem, der Verhältnismäßigkeit bei der Umsetzung der Eindämmungsverordnungen durch die Vollzugsbehörden Rechnung zu tragen. Dies ist eine Frage der Anwendung im Einzelfall. *** 61 OVG Greifswald, Beschluss vom 9. April 2020 – 2 KM 267/20, juris, Rn. 32; OVG Greifswald Beschluss vom 9. April 2020 – 2 KM 268/20, juris, Rn. 33 (Hervorhebung durch Autor).