© 2018 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 132/18 Scharia und Grundrechte von Frauen in der Bundesrepublik Ergänzung zur Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 406/08 Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Zwangsehe 14 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 132/18 Seite 4 1. Einleitung Die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste WD 3 - 3000 - 406/08 aus dem Jahr 2008 befasst sich mit der Entfaltung und Anwendbarkeit von religiösen und rechtlichen Normen der Scharia in Deutschland, soweit sie Grundrechte von Frauen betreffen.1 Dabei findet der Umstand Berücksichtigung , dass die Scharia – als eine „von Gott gesetzte Ordnung“ – unterschiedlich interpretiert und gelebt wird.2 Daher geht es auch nicht um einheitliche Normen der Scharia – gleichsam im Sinne eines Gesetzbuchs –,3 sondern um solche Normen, die als Scharia-Normen geltend gemacht werden. In Bezug auf die im Einzelnen behandelten Fragen wird um ergänzende Hinweise zu relevanten Rechtsentwicklungen gebeten. 2. Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Scharia Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Scharia, die Grundrechte von Frauen betreffen, können sich in zahlreichen Fallkonstellationen stellen. Grob kann man danach unterscheiden, ob die Scharia-Normen als Freiheitsbetätigung, insbesondere als Ausübung der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1, 2 GG geltend gemacht werden, oder ob ihre Anwendbarkeit (auch) als Recht eines ausländischen Staates in Frage steht. Die Fälle der Freiheitsbetätigung umfassen alle Bereiche, in denen sich Grundrechtsträger auf das Leben nach Scharia-Normen berufen. Dabei kann das jeweilige Verhalten im Rahmen der Religionsfreiheit nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts besonders geschützt sein, wenn sich das subjektiv religiös verbindliche Verhalten auch objektiv nach „Gehalt und Erscheinung als islamisch-religiös begründete Glaubensregel dem Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG hinreichend plausibel zuordnen“ lässt.4 Ob und inwieweit sich Scharia-Normen als Freiheitsbetätigung entfalten können, bestimmt sich nach deutschem Recht. So richtet sich beispielsweise das Tragen eines Kopftuchs im öffentlichen Dienst nach den einschlägigen Vorschriften des einfachen Rechts, das unter Berücksichtigung der betroffenen Grundrechte auszulegen und 1 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Scharia und Grundrechte von Frauen in der Bundesrepublik (WD 3 - 3000 - 406/08). 2 Wissenschaftliche Dienste (Fn. 1), 5, 7, 9, 10. 3 Zur Vielgestaltigkeit der Scharia siehe Smiljic, Die missverstandene Religionsfreiheit (2014), 57; Nagel, Die Scharia und der Verfassungsstaat, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 2010/I, 75, 77; ausführlich Ebert/Eilen, Islamisches Recht (2016); Fontana, Universelle Frauenrechte und islamisches Recht (2017), 20 ff.; Ohlenschlager, Scharia und Grundgesetz (2017), 18 ff., 72: „Freilich ist es angesichts der, (..), teileweise elementaren rechtsdogmatischen Differenzen zwischen und innerhalb der unterschiedlichen Glaubensrichtungen und Rechtsquellen illusorisch von ‚islamischen Recht‘ als einem in sich geschlossenen, homogenen Rechtssystem zu sprechen. Vielmehr führen die angesprochenen differenten Rechtsdogmatiken zu derart unterschiedlichen Rechtsvorstellungen und Anforderungen an eine erstrebenswerte islamische Rechtswirklichkeit, dass dem Begriff ‚islamisches Recht‘ aus objektiver Sicht eine terminologische Integralfunktion zu Teil wird, die eine Vielzahl von Lehrmeinungen, dogmatischer Strömungen und epochaler Wandlungen in sich vereint.“ 4 BVerfGE 108, 282, 299. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 132/18 Seite 5 anzuwenden ist.5 Entfaltungsmöglichkeiten für Scharia-Normen können sich auch aus dem dispositiven Recht ergeben, z.B. in den Bereichen der Vertrags-und Testierfreiheit. Die Reichweite des dispositiven Rechts wiederum ist (auch) unter Beachtung der betroffenen Grundrechte zu ermitteln, die in die Auslegung und Anwendung der einschlägigen Generalklauseln einfließen (§ 138 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB, Verbot sittenwidriger Geschäfte).6 Eine andere Frage ist es, ob und inwieweit in Fällen mit Auslandsbezug Scharia-Normen ausländischer Staaten in Deutschland zur Anwendung kommen. Im Zusammenhang mit der grundrechtlichen Betroffenheit von Frauen geht es dabei insbesondere um die Anwendbarkeit von ehe- und familienrechtlichen Scharia-Normen, die in ausländischen Rechtsordnungen gelten.7 Im Einzelnen richtet sich die Anwendbarkeit solcher Normen nach dem deutschen Internationalen Privatrecht. Die danach mögliche Anwendbarkeit von Scharia-Normen ausländischer Staaten gilt aber nicht unbegrenzt. Vielmehr bestimmt der sog. ordre public des Art. 6 Einführungsgesetz BGB (EGBGB), dass „eine Rechtsnorm eines anderen Staates nicht anzuwenden (ist), wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist. Sie ist insbesondere nicht anzuwenden, wenn die Anwendung mit den Grundrechten unvereinbar ist.“ Die Besonderheit bei der Prüfung der Anwendbarkeit ausländischer Normen gemäß Art. 6 EGBGB besteht darin, dass es nicht um eine abstrakte Kontrolle der betreffenden Norm geht, sondern um das Anwendungsergebnis einer Rechtsnorm im konkreten Einzelfall. Selbst eine evident verfassungswidrige Norm kann hiernach zur Anwendung kommen, wenn nur das Anwendungsergebnis im Einzelfall nicht offensichtlich mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts unvereinbar ist.8 So kann die einseitige Ausübung des Scheidungsrechts durch den Ehemann (sog. Talaq) im konkreten Einzelfall anwendbar sein, wenn sie im Ergebnis nicht gegen den ordre public verstößt, z.B. wegen der Zustimmung der Ehefrau zur Scheidung.9 Gleiches gilt für Scharia-Normen, die in Bezug auf das Sorgerecht einseitig die Ehemänner begünstigen, wenn die Anwendung dieser 5 Näheres dazu unter Ziff. 3. 6 Siehe hierzu Deutsche Islam Konferenz, Zwischen-Resümee der Arbeitsgruppen und des Gesprächskreise vom 25. Juni 2009, 11, abrufbar unter: http://www.deutsche-islam-konferenz.de/SharedDocs/Anlagen /DIK/DE/Downloads/LenkungsausschussPlenum/DIK-viertes-Plenum-Zwischen-Resuemee .pdf?__blob=publicationFile. 7 Vgl. Ohlenschlager (Fn. 3), 199 f. 8 Lorenz, in: Bamberger/Roth/Hau/Poseck, Beck`scher Onlinekommentar BGB (Stand: August 2015), Rn. 10 zu Art. 6 EGBGB m.w.N. zur insoweit herrschenden Meinung; differenzierend Dörner, in: Schulze, BGB (9. Aufl., 2017), Rn. 4 zu Art. 6 EGBGB. 9 Siehe Wissenschaftliche Dienste (Fn. 1), 13. Zur unionsrechtlichen Überlagerung des Internationalen Privatrechts bei Scheidungen nach der sog. Rom III-Verordnung Antomo, Anerkennung ausländischer Privatscheidungen – Rom III-Verordnung analog?, NJW 2018, 435 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 132/18 Seite 6 Normen im Ergebnis dem Kindeswohl entspricht.10 Insgesamt weisen die dem Internationalen Privatrecht unterliegenden Fälle eine hohe Komplexität auf, und zwar nicht nur wegen des zu berücksichtigenden ausländischen Rechts, sondern auch wegen der vielgestaltigen Familienkonstellationen . Selbst die Anwendbarkeit des deutschen Rechts nach erfolgter Einbürgerung der Betroffenen kann anspruchsvoll sein, wenn hierfür die rechtliche Einordnung islamischer Rechtsinstitute, wie z.B. die Brautgabe (Morgengabe, Abendgabe), erforderlich ist.11 In Bezug auf die Entfaltung und Anwendbarkeit von Scharia-Normen sind insbesondere zwei Themenkomplexe mit relevanten Rechtsentwicklungen hervorzuheben, und zwar das Tragen von Kopftüchern sowie der Umgang mit besonderen Formen der Ehe. 3. Tragen von Kopftüchern Zunächst ist festzustellen, dass die Frage, ob das Tragen eines Kopftuchs mit einer Verhaltensregel des Islam begründet werden kann, und damit dessen Bezug zu der hier im Fokus stehenden Scharia nicht unumstritten ist.12 Gleichwohl soll im Folgenden ein Überblick über die neueren Rechtsentwicklungen zu diesem Themenbereich gegeben werden. Zum einen steht die Thematik des Tragens eines Kopftuches bzw. einer Verschleierung im Mittelpunkt der Diskussion über das Zusammentreffen von Verhaltensweisen mit Bezug zum Islam einerseits und dem deutschen Grundrechtesystem andererseits. Zum anderen sieht das Bundesverfassungsgericht die religiöse Fundierung des Tragens eines Kopftuchs grundsätzlich auch mit Rücksicht auf die im Islam vertretenen unterschiedlichen Auffassungen zum sogenannten Bedeckungsgebot nach geistigem Gehalt und äußerer Erscheinung als hinreichend plausibel an und bejaht insoweit grundsätzlich eine Zuordnung zum Schutzbereich der Religionsfreiheit.13 3.1. Regelungen auf Bundesebene zur Gesichtsverhüllung Für die hier nach dem Zuständigkeitszuschnitt der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages relevante Bundesebene besteht keine allgemeine Vorschrift, die ein Tragen eines Kopftuchs oder einer weitergehenden Verschleierung in der Öffentlichkeit einschränken würde.14 10 Vgl. Bock, Der Islam in der Entscheidungspraxis der Familiengerichte, NJW 2012, 122, 125 f.; Lorenz, in: Bamberger/ Roth/Hau/Poseck, Beck’scher Online-Kommentar BGB (Stand: August 2015), Rn. 25 zu Art. 6 EGBGB. 11 Ausführlich hierzu Lentz, FuR 2018, Islamisches Recht vor deutschen Familiengerichten – Teil 2, 658 ff. 12 Siehe die Nachweise zur Diskussion bei BVerfGE 138, 296, 330. 13 BVerfGE 138, 296, 330, siehe auch schon BVerfGE 108, 282, 299. 14 Anders ist die Rechtslage in Teilen des europäischen Auslands: Beispielsweise existiert in Frankreich ein Verbot der Gesichtsverschleierung, in dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2014 keinen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention gesehen hat (NJW 2014, 2925 ff.). Auch das entsprechende Verbot in Belgien hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2017 als nicht diskriminierend angesehen (becklink 2007240). In Deutschland dürfte ein solches Verbot nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sein, siehe hierzu Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Zur Verfassungsmäßigkeit eines Verbots der Gesichtsverschleierung (WD 3 - 3000 - 302/14). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 132/18 Seite 7 Der Bundesgesetzgeber hat allerdings 2017 mit dem „Gesetz zu bereichsspezfisichen Regelungen der Gesichtsverhüllung und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften“ für alle Bundesbeamten per Regelung im Bundesbeamtengesetz sowie für alle Landes- und Kommunalbeamten und die Richter im Landesdienst per Regelung im Beamtenstatusgesetz ein grundsätzliches Verbot der Gesichtsverhüllung geschaffen.15 In den Gesetzesmaterialien heißt es zur Begründung: „Der neue Satz 4 ergänzt diese Bestimmung dahingehend, dass ein Vertrauen in das Amt der Beamtin oder des Beamten und damit auch in die Tätigkeit und Integrität des Staates nicht gegeben sein kann, wenn bei Ausübung des Dienstes oder bei Tätigkeiten mit unmittelbarem Dienstbezug das Gesicht dergestalt verhüllt ist, dass eine vertrauensvolle Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern unmöglich oder erschwert ist, und keine dienstlichen oder gesundheitlichen Gründe zur Rechtfertigung herangezogen werden können. Im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit der Verwaltung gilt Entsprechendes, wenn die Kommunikation mit Vorgesetzten, Kolleginnen und Kollegen sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unmöglich oder erschwert ist.“16 3.2. Kopftuchverbote im Bildungsbereich 3.2.1. Lehrkräfte Eine besondere Rolle spielt in der Diskussion die Frage nach der Zulässigkeit von Kopftuchverboten im Bildungsbereich. Im Jahr 2003 hat sich das Bundesverfassungsgericht erstmals mit dieser Thematik befasst.17 Konkret ging es um eine Verfassungsbeschwerde einer Lehrerin, die ihre Einstellung als Beamtin auf Probe in den Schuldienst des Landes Baden-Württemberg angestrebt hatte. Ihr Antrag auf Einstellung wurde mit der Begründung abgelehnt, dass sie für den Schuldienst nicht geeignet sei, da sie während des Unterrichts nicht auf das Tragen eines Kopftuchs verzichten wolle. In dieser Ablehnung hat das Bundesverfassungsgericht eine Verletzung der Beschwerdeführerin in ihrer Religionsfreiheit und ihren beamtenrechtlichen Gleichheitsrechten gesehen. Das Gericht bemängelte hinsichtlich des damaligen Rechts das Fehlen einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage für ein Verbot für Lehrkräfte, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen. Gleichzeitig verwies das Gericht auf die weite Gestaltungsfreiheit der Bundesländer im Schulwesen. Es obliege dem Landesgesetzgeber, das unvermeidliche Spannungsverhältnis zwischen positiver Religionsfreiheit einer Lehrkraft einerseits und der staatlichen Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität, dem Erziehungsrecht der Eltern sowie der negativen Religionsfreiheit der Schüler zu lösen. Mehrere Bundesländer haben in Reaktion auf diese Entscheidung entsprechende Verbotsregelungen geschaffen.18 15 § 61 Abs. 1 S. 4 Bundesbeamtengesetz und § 34 S. 4 Beamtenstatusgesetz. 16 BT-Drs. 18/11180, 11. 17 BVerfGE 108, 282 ff. 18 Siehe hierzu den Überblick bei Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Fragen zum Verbot religiöser Bekundungen durch das äußere Erscheinungsbild von Lehrkräften in öffentlichen Schulen (WD 3 - 3000 - 266/16). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 132/18 Seite 8 Im Jahr 2015 hat das Bundesverfassungsgericht dann jedoch in einem Beschluss zum nordrheinwestfälischen Schulgesetz klargestellt, dass ein pauschales Kopftuchverbot für Lehrkräfte in öffentlichen Schulen mit der Verfassung nicht vereinbar ist.19 Die entsprechenden Verbotsnormen seien verfassungskonform dahingehend einzuschränken, dass von einer äußeren religiösen Bekundung nicht nur eine abstrakte, sondern eine hinreichend konkrete Gefahr der Beeinträchtigung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität ausgehen müsse, um ein Verbot zu rechtfertigen. Weiter weist das Gericht darauf hin, dass wenn in bestimmten Schulen oder Schulbezirken aufgrund substantieller Konfliktlagen über das richtige religiöse Verhalten bereichsspezifisch die Schwelle zu einer hinreichend konkreten Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität in einer beachtlichen Zahl von Fällen erreicht werde, ein verfassungsrechtlich anzuerkennendes Bedürfnis bestehen könne, religiöse Bekundungen durch das äußere Erscheinungsbild nicht erst im konkreten Einzelfall, sondern etwa für bestimmte Schulen oder Schulbezirke über eine gewisse Zeit auch allgemeiner zu unterbinden. Gleichzeitig hat das Gericht festgestellt, dass die im nordrhein-westfälischen Schulgesetz enthaltene Privilegierung zugunsten christlich-abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen gegen das verfassungsrechtliche Verbot der Benachteiligung aus religiösen Gründen verstößt. Dieser Rechtsprechung folgend hat das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2016 auch in Bezug auf ein an eine bloß abstrakte Gefährdung anknüpfendes striktes Verbot im Kindertagesbetreuungsgesetz des Landes Baden-Württemberg einen (jedenfalls für die damals gegebene Fallkonstellation) nicht zumutbaren Eingriff in die Religionsfreiheit der Betroffenen gesehen.20 3.2.2. Schülerinnen Die Rechtsprechung beschäftigt sich jedoch nicht nur mit Fällen, in denen religiöse Gebote von Lehroder Erziehungskräften geltend gemacht werden, sondern auch mit Fällen, in denen Schülerinnen sich auf solche Gebote berufen.21 Das Tragen von Kopftüchern steht dabei jedoch nicht im Mittelpunkt , da entsprechende Verbote für Schülerinnen in aller Regel verfassungswidrig sein dürften und damit von geringer praktischer Bedeutung sind.22 Religiöse Bekleidungsregeln können jedoch durchaus Gegenstand obergerichtlicher Rechtsprechung sein. Dies zeigt beispielsweise ein Fall aus 2013, in dem das Bundesverwaltungsgericht über den Antrag einer Schülerin auf Befreiung vom koedukativen Schwimmunterricht zu entscheiden hatte.23 Das Mädchen argumentierte, dass die gemeinsame Teilnahme von Jungen und Mädchen am Schwimmunterricht mit den 19 BVerfGE 138, 296 ff. 20 BVerfG (Kammer), NJW 2017, 381 ff. 21 Dies gilt nicht nur für die hier im Fokus stehenden Schülerinnen, sondern auch für männliche Schüler. So hat das Bundesverwaltungsgericht in einer Entscheidung aus 2011 bezüglich eines Schülers aus Berlin festgestellt, dass dieser nicht berechtigt ist, während des Besuchs der Schule außerhalb der Unterrichtszeit ein Gebet zu verrichten , wenn dies konkret geeignet ist, den Schulfrieden zu stören (BVerwG, NVwZ 2012, 162 ff.). Gleichzeitig weist das Gericht jedoch auch darauf hin, dass ein Schüler aufgrund der verfassungsrechtlich garantierten Religionsfreiheit grundsätzlich berechtigt ist, außerhalb der Unterrichtszeit in der Schule ein Gebet zu verrichten, wenn dies einer Glaubensregel seiner Religion entspricht. 22 Siehe hierzu die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Schule und Religionsfreiheit – Wäre ein Kopftuchverbot für Schülerinnen rechtlich zulässig? (WD 3 - 3000 - 277/16). 23 BVerwG, NVwZ 2014, 81 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 132/18 Seite 9 muslimischen Bekleidungsvorschriften, an die sie sich gebunden fühle, nicht vereinbar sei. Das Bundesverwaltungsgericht ist dieser Argumentation nicht gefolgt und hat auf die Möglichkeit des Tragens von Schwimmbekleidung, die zur Wahrung der muslimischen Bekleidungsvorschriften entwickelt worden sei (Stichwort Burkini), verwiesen. Eine Befreiung sei auch nicht deshalb geboten gewesen, weil die Schülerin im Schwimmunterricht den Anblick männlicher Mitschüler in Badekleidung hätte auf sich nehmen müssen. Die Religionsfreiheit vermittele grundsätzlich keinen Anspruch darauf, im Rahmen der Schule nicht mit Verhaltensgewohnheiten Dritter konfrontiert zu werden, die außerhalb der Schule an vielen Orten bzw. zu bestimmten Jahreszeiten im Alltag verbreitet seien. Ebenfalls eine Frage der Bekleidungswahl aufgrund religiöser Gebote betrifft eine Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs aus 2014, nämlich die Teilnahme einer nicht mehr schulpflichtigen Schülerin am Unterricht mit gesichtsverhüllender Verschleierung.24 Das Gericht ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass das Verbot, während des Unterrichts einen gesichtsverhüllenden Schleier zu tragen, das Recht der Betroffenen auf freie Religionsausübung nicht in unzulässiger Weise begrenzt. Gerechtfertigt sei der Eingriff in die Religionsfreiheit aufgrund des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrages aus Art. 7 Abs. 1 GG, der die staatlichen Stellen zur Planung, Organisation, Leitung und inhaltlich-didaktischen Ausgestaltung des Schulwesens ermächtige. Hierzu gehöre auch die Bestimmung der Unterrichtsmethode, etwa in Form offener Kommunikation. Eine solche Kommunikation sei jedoch bei einer gesichtsverhüllenden Verschleierung nicht mehr möglich. Außerdem berücksichtigt das Gericht, dass die Betroffene nicht mehr schulpflichtig sei und alternative Wege bestünden, um den angestrebten Schulabschluss zu erreichen . Ferner habe die Betroffene eine besonders gravierende Intensität der Beeinträchtigung ihrer an ihrer Glaubensüberzeugung ausgerichteten Lebensgestaltung nicht hinreichend substantiiert geltend gemacht. 3.2.3. Rechtsreferendarinnen Schließlich soll in diesem Zusammenhang anhand von zwei Fällen aus Bayern und Hessen auch auf die Rechtsprechung zum Tragen von Kopftüchern im Rahmen des Rechtsreferendariats eingegangen werden.25 In Bayern wandte sich eine Referendarin gegen das mittels einer Auflage im Bescheid über die Zulassung zum Referendariat verfügte Verbot, bei Ausübung hoheitlicher Tätigkeiten mit Außenwirkung im Rahmen ihrer Ausbildung ein Kopftuch zu tragen. Die hierzu erhobene Klage der Referendarin war vor dem Verwaltungsgericht Augsburg 2016 erfolgreich.26 Das Gericht entschied, dass das Verbot rechtswidrig gewesen sei, da es an der erforderlichen Rechtsgrundlage fehle. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat dieses Urteil jedoch 2018 aufgehoben.27 Das Verbot bezog sich nur auf bestimmte Ausbildungsstationen, die die Referendarin während des Klageverfahrens 24 Bayerischer VGH, NVwZ 2014, 1109 ff. 25 Siehe hierzu auch von Schwanenflug/Szczerbak, Das Tragen eines Kopftuches im Lichte des Neutralitätsgebots im Öffentlichen Dienst, NVwZ 2018, 441 ff. 26 VG Augsburg, Urteil vom 30. Juni 2016 – Au 2 K 15.457. 27 Bayerischer VGH, Urteil vom 7. März 2018 – 3 BV 16.2040. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 132/18 Seite 10 abgeschlossen hatte, sodass das Verbot zwischenzeitlich erledigt hatte. Die Referendarin hatte daher eine sog. Fortsetzungsfeststellungsklage erhoben, mit der festgestellt werden kann, dass ein erledigter Verwaltungsakt rechtswidrig war, wenn ein besonderes Feststellungsinteresse besteht (Wiederholungsgefahr, Rehabilitationsinteresse, Vorbereitung der Geltendmachung eines Schadensersatzes , tiefgreifender Grundrechtseingriff). Ein solches Feststellungsinteresse hat das Gericht bei der Klägerin jedoch nicht gesehen. Insbesondere habe das streitige Verbot nicht zu einer Stigmatisierung der Klägerin geführt, sondern vielmehr der Sicherung des staatlichen Neutralitätsgebotes gedient. Auch fehle es an einem gewichtigen Grundrechtseingriff, da das Verbot nur zeitlich und örtlich beschränkt gewirkt habe. Ähnlich verlief der Fall der Referendarin in Hessen aus 2017. Das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main hat für die der Referendarin auferlegten Einschränkungen im Hinblick auf das Tragen des Kopftuchs keine gesetzliche Grundlage gesehen und dem Eilantrag der Referendarin stattgegeben .28 Der Verwaltungsgerichtshof Kassel hat auf die Beschwerde des Landes Hessen diesen Beschluss jedoch aufgehoben.29 Die erforderliche gesetzliche Grundlage sei mit dem Verweis in dem Hessischen Juristenausbildungsgesetz auf das Hessische Beamtengesetz gegeben. Die im letzteren geregelte Neutralitätspflicht schreibt vor, dass Beamte sich im Dienst politisch, weltanschaulich und religiös neutral zu verhalten haben. Insbesondere dürfen sie danach Kleidungsstücke, Symbole oder andere Merkmale nicht tragen oder verwenden, die objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die Neutralität ihrer Amtsführung zu gefährden. Auch das Bundesverfassungsgericht hat einen Eilantrag der Referendarin gegen das Kopftuchverbot nach der im einstweiligen Rechtsschutz durchzuführenden Folgenabwägung abgelehnt.30 Dabei hat sich das Gericht zum einen mit der Situation befasst, in der die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde sich jedoch später als begründet erweise. In diesem Fall wäre zwar die Betroffene bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde in Grundrechten verletzt. Allerdings sei der vorliegende Grundrechteeingriff in zeitlicher wie örtlicher Hinsicht begrenzt und die übrigen, weit überwiegenden Ausbildungsinhalte blieben unberührt. Zum anderen beleuchtet das Gericht die Folgen für den Fall, dass die einstweilige Anordnung erginge, die Verfassungsbeschwerde aber keinen Erfolg hätte. Dann würde die vom Gesetzgeber verfolgte Neutralität einstweilen nicht verwirklicht . Weiter betont das Gericht, dass auch Rechtsreferendare, die als Repräsentanten staatlicher Gewalt aufträten und als solche wahrgenommen würden, das staatliche Neutralitätsgebot beachten müssten. Das Einbringen religiöser Bezüge durch Rechtsreferendare könne den in Neutralität zu erfüllenden staatlichen Auftrag der Rechtspflege und der öffentlichen Verwaltung beeinträchtigen. Vor diesem Hintergrund könne das erforderliche Überwiegen der Gründe für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht festgestellt werden. 3.3. Arbeitsverhältnisse im privaten Bereich Daneben können Verhaltensregeln der Scharia für die religiöse Betätigung im Zusammenspiel mit den Grundrechten von Frauen auch in Arbeitsverhältnissen im privaten Bereich von Bedeutung 28 VG Frankfurt am Main, Beschluss vom 12. April 2017 – 9 L 1298/17.F. 29 Hessischer VGH, Beschluss vom 23. Mai 2017 – 1 B 1056/17. 30 BVerfG (Kammer), NJW 2017, 2333 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 132/18 Seite 11 sein.31 Zwar gelten Grundrechte unmittelbar grundsätzlich nur im Verhältnis zwischen Staat und Bürger. Ganz ohne Bedeutung sind die Grundrechte im Verhältnis zwischen Privaten aber nicht. So sind bei der Auslegung und Anwendung einfachgesetzlicher Normen, insbesondere bei der Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln, die grundrechtlichen Wertentscheidungen zu berücksichtigen (sog. mittelbare Drittwirkung der Grundrechte).32 In entsprechenden Rechtsstreitigkeiten stehen sich regelmäßig betriebliche Erfordernisse und das Direktionsrecht des Arbeitgebers einerseits und von Arbeitnehmern geltend gemachte religionsbezogene Rechte andererseits gegenüber.33 Da bei den Entscheidungen stets die Besonderheiten des Einzelfalls zu berücksichtigen sind, existiert insoweit eine vielfältige Rechtsprechung.34 Als grundlegend wird ein Beschluss des Bundesarbeitsgerichts aus 2002 angesehen, in der das Gericht klargestellt hat, dass das Tragen eines Kopftuchs allein regelmäßig noch nicht die ordentliche Kündigung einer Verkäuferin in einem Kaufhaus aus personen- oder verhaltensbedingten Gründen nach dem Kündigungsschutzrecht rechtfertigt.35 Zur Ausübung des Weisungsrechts des Arbeitgebers nach billigem Ermessen führt das Gericht dabei aus: „Die in § 315 Abs. 1 BGB geforderte Billigkeit wird inhaltlich durch die Grundrechte, hier vor allem durch die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG und die Gewährleistung der ungestörten Religionsausübung des Art. 4 Abs. 2 GG, mitbestimmt […]. Kollidiert das Recht des Arbeitgebers, im Rahmen seiner gleichfalls grundrechtlich geschützten unternehmerischen Betätigungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) […], den Inhalt der Arbeitsverpflichtung des Arbeitnehmers näher zu konkretisieren, mit grundrechtlich geschützten Positionen des Arbeitnehmers, so ist das Spannungsverhältnis im Rahmen der Konkretisierung und Anwendung der Generalklausel des § 315 BGB einem grundrechtskonformen Ausgleich der Rechtspositionen zuzuführen .“36 Ebenfalls in diesem Zusammenhang zu nennen sind zwei Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs aus 2017, der sich in diesen erstmals mit der Frage befasst hat, was Arbeitgeber im Hinblick auf das Tragen religiöser Kleidungsstücke und Symbole ihrer Arbeitnehmer untersagen bzw. vorgeben dürfen.37 Maßgeblich ist insoweit die Drittwirkung von EU-Grundrechten im Privatrechtsverhältnis sowie konkret die Richtlinie 2000/78/EG des Rates zur Festlegung eines allgemeinen 31 Siehe zum Überblick Schubert, Religiöse Symbole und Kleidungsstücke am Arbeitsplatz, NJW 2017, 2582 ff. 32 Vertiefend hierzu Michael/Morlok, Grundrechte (6. Aufl., 2017), Rn. 481 ff. zu § 15. 33 Siehe etwa Bock, Der Islam in der aktuellen Entscheidungspraxis der Arbeitsgerichte, NZA 2011, 1201 ff. 34 Siehe Haug, Kopftuchverbote vor Gericht – Warum kommt es dauernd zu so unterschiedlichen Urteilen?, Spiegel- Online vom 17. Mai 2018, abrufbar unter http://www.spiegel.de/lebenundlernen/job/kopftuch-verbot-fuer-lehrerinnen -warum-entscheiden-gerichte-oft-unterschiedlich-a-1207343.html (zuletzt abgerufen am 17. Mai 2018). 35 BAG, NJW 2003, 1685 ff. 36 BAG, NJW 2003, 1685, 1686 f. 37 EuGH, NJW 2017, 1087 ff. und 1089 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 132/18 Seite 12 Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, die als Konkretisierung des Diskriminierungsverbots aus Art. 21 Grundrechtecharta verstanden wird. In dem einen Verfahren hat das Gericht festgestellt, dass unternehmensinterne Regeln, die das sichtbare Tragen jedes politischen, philosophischen oder religiösen Zeichens verbieten, keine unmittelbare Diskriminierung darstellen.38 In dem anderen Verfahren hat es entschieden, dass die Kündigung einer IT-Beraterin aufgrund eines Kundenwunsches, dass bei den Beratungsterminen kein Schleier getragen werden solle, eine unmittelbare Diskriminierung der Betroffenen wegen der Religion oder Weltanschauung darstellt, die nicht gerechtfertigt ist39. 4. Umgang mit besonderen Formen der Ehe Zu den im Zusammenhang mit Scharia-Normen diskutierten besonderen Formen der Ehe gehören insbesondere die Minderjährigenehe, die Zwangsehe und die Mehrehe. Die rechtlichen Rahmenbedingungen für den Umgang mit der Minderjährigen- und der Zwangsehe wurden geändert. Für den Umgang mit der Mehrehe gelten die Ausführungen in der in Bezug genommenen Ausarbeitung zur Strafbarkeit der Mehrehe nach § 172 Strafgesetzbuch (StGB), zum Ausschluss des Familiennachzugs eines weiteren Ehegatten nach § 30 Abs. 4 AufenthG sowie zur anteiligen Aufteilung von Hinterbliebenenrenten nach § 34 Erstes Buch Sozialgesetzbuch weiterhin.40 4.1. Minderjährigenehe Die Ehemündigkeit in islamisch geprägten Rechtsordnungen wird teilweise schon vor Vollendung des 16. Lebensjahres angenommen.41 Fragen zum Umgang mit im Ausland geschlossenen Minderjährigenehen mit Blick auf das Kindeswohl und den Minderjährigenschutz stellten sich insbesondere angesichts der vermehrten Einreise von verheirateten minderjährigen Flüchtlingen.42 Im Rahmen des Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderehen von 2017 wurden daher die Vorschriften des deutschen Rechts zur Ehemündigkeit und zur Anerkennung von im Ausland geschlossenen Minderjährigenehen neu geregelt.43 Die Vorschrift des § 1303 BGB sieht nunmehr vor, dass die Ehe nicht vor Eintritt der Volljährigkeit eingegangen werden darf. Die zuvor bestehenden Befreiungsmöglichkeiten für Verlobte, die das 16., aber nicht das 18. Lebensjahr vollendet haben (§ 1303 Abs. 2 bis 4 a.F. BGB) wurden ersatzlos 38 EuGH, NJW 2017, 1087 ff. 39 EuGH, NJW 2017, 1089 ff. 40 Vgl. dazu auch die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage „Vielehen in Deutschland“ in BT- Drs. 19/1574, u.a. mit Hinweis auf die vor dem Bundesverwaltungsgericht anhängige Frage, ob eine nach dem deutschen Internationalen Privatrecht im Ausland wirksam geschlossene Mehrehe eine Einbürgerung ausschließt. 41 Wissenschaftliche Dienste (Fn. 1), 9; ausführlich zur Ehemündigkeit im gelten Recht islamischer Länder Möller/ Yassari, Wenn Jugendliche heiraten, KJ 2017, 269, 271 ff. und Lentz, Islamisches Recht vor deutschen Familiengerichten – ein Überblick von 2009 bis 2017 Teil1: Die Eheschließung, FuR 2017, 597, 599 Fn. 42. 42 Siehe hierzu BT-Drs. 17/12086, 14. 43 Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen vom 17. Juli 2017, BGBl. I, 2429. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 132/18 Seite 13 gestrichen. Die Vollendung des 16. Lebensjahres wirkt sich gleichwohl auf die Unterscheidung zwischen unwirksamer und aufhebbarer Ehe aus. Hat ein Ehegatte zum Zeitpunkt der Eheschließung das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet, so kann gemäß § 1303 S. 2 BGB die Ehe nicht wirksam eingegangen werden. Es handelt sich dabei um eine sogenannte Nichtehe, die keinerlei Rechtswirkung entfaltet. Hat ein Ehegatte das 16., jedoch nicht das 18. Lebensjahr vollendet, so ist die Ehe gemäß § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB aufhebbar.44 Die Änderungen der Ehemündigkeit wurden auch in das Internationale Privatrecht integriert. Grundsätzlich erklärt Art. 13 Abs. 1 EGBGB für Eheschließungen das Heimatrecht der Verlobten für anwendbar. Der neue Art. 13 Absatz 3 EGBGB bestimmt allerdings nun, dass die Ehe ausländischer Staatsangehöriger unwirksam ist, wenn der Verlobte im Zeitpunkt der Eheschließung das 16. Lebensjahr nicht vollendet hatte,45 und aufhebbar ist, wenn der Verlobte im Zeitpunkt der Eheschließung das 16. Lebensjahr, aber nicht das 18. Lebensjahr vollendet hatte. Diese spezielle Vorbehaltsklausel des Art. 13 Abs. 3 EGBGB schließt die Prüfung eines ordre public-Verstoßes im Einzelfall nach Art. 6 EGBGB aus. Als Härtefallregelung bestimmt Art. 229 § 44 Abs. 4 EGBGB, dass eine nach Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB unwirksame Ehe geheilt werden kann, wenn die nach ausländischem Recht wirksame Ehe bis zur Volljährigkeit des minderjährigen Ehegatten geführt worden ist und kein Ehegatte seit der Eheschließung bis zur Volljährigkeit des minderjährigen Ehegatten seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hatte. Neben verschiedenen Folgeänderungen im Bürgerlichen Gesetzbuch46 und im Achten Buch Sozialgesetzbuch (Inobhutnahme verheirateter unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge)47 ist auf weitere Änderungen des Asyl- und Aufenthaltsgesetzes hinzuweisen, die Nachteilen entgegenwirken, die im Rahmen des Familienasyls und des Familiennachzugs durch die Unwirksamkeit oder Aufhebbarkeit von Minderjährigenehen entstehen können, vgl. § 26 Abs. 1 S. 2 Asylgesetz (AsylG), § 31 Abs. 2 S. 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG).48 Besonders hervorzuheben ist die Einführung eines bußgeldbewehrten Trauungsverbots für Minderjährige. Die Vorschrift des § 11 Abs. 2 Personenstandsgesetz (PStG) verbietet eine „religiöse oder traditionelle Handlung, die darauf gerichtet ist, eine der Ehe vergleichbare dauerhafte Bindung zweier Personen zu begründen, von denen eine das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat“. Verboten sind ferner Verträge, die „nach den traditionellen oder religiösen Vorstellungen der Partner an die Stelle der Eheschließung“ treten. Mit dieser Regelung soll verhindert werden, dass Minderjährige trotz des Verbots, eine staatliche Ehe zu schließen, im Wege vertraglicher, traditioneller oder religiöser Handlungen zur Eingehung einer Bindung veranlasst werden, die für sie in sozialer oder psychologischer Hinsicht einer Ehe 44 Vgl. Wahlen, in: Herberger/Martinek/Rüßmann u.a., jurisPK-BGB (8. Aufl., 2017), Rn. 2.1 zu § 1303 BGB. 45 Kritisch hierzu Gausing/Wittebol, Die Wirksamkeit von im Ausland geschlossenen Minderjährigenehen, DÖV 2018, 41, 47 ff. 46 Siehe hierzu die Begründung des Gesetzentwurfs in BT-Drs. 18/12086, 21 ff. 47 Vgl. dazu Lohse/Meysen, Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen: Rechtliche Behandlung von Minderjährigenehen , JAmt 2017, 345, 348. 48 In Bezug auf das Mindestalter beim Ehegattennachzug gemäß § 30 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG (Vollendung des 18. Lebensjahres ) kommen Ausnahmen nach § 30 Abs. 2 S. 1 AufenthG nur noch in Härtefällen in Betracht, vgl. Tewocht, in: Kluth/Heusch, Beck’scher Online-Kommentar Ausländerrecht (Stand: November 2017), Rn. 16 f. zu § 30 AufenthG. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 132/18 Seite 14 vergleichbar ist. Ergänzt wird das Trauungsverbot durch die Regelung in § 54 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG, wonach ein schwerwiegender Verstoß gegen § 11 Abs. 2 PStG ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse begründet. 4.2. Zwangsehe Eheschließungen gegen den Willen der Frau sind in zahlreichen islamisch geprägten Rechtsordnungen verboten.49 In einigen Ländern (z.B. Indien, Pakistan, Bangladesch) besteht jedoch die Möglichkeit der Eheschließung durch einen Stellvertreter („Handschuhehe“), der insoweit eine eigene – also auch eine dem Willen der Frau widersprechende – Willenserklärung abgeben kann.50 Eine solche Eheschließung verstößt gegen den ordre public gemäß Art. 6 EGBGB.51 Nach deutschem Zivilrecht setzt die Eheschließung gemäß § 1310 Abs. 1 Satz 1 BGB die Willenserklärung beider Eheschließenden voraus, die Ehe eingehen zu wollen. Ein etwaiger Willensmangel eines Eheschließenden hindert – anders als im allgemeinen Zivilrecht – im Eheschließungsrecht das wirksame Zustandekommen der Ehe grundsätzlich nicht, sondern führt zu ihrer Aufhebbarkeit nach § 1314 Abs. 2 Nr. 4 BGB (widerrechtliche Drohung zur Eingehung der Ehe). Mit dem Gesetz zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat aus dem Jahr 2011 wurde zudem ein eigenständiger Straftatbestand der Zwangsheirat in § 237 StGB geschaffen.52 Aufenthaltsrechtlich unterstützt wird das Verbot der Zwangsheirat durch das eigenständige Wiederkehrrecht für (zuvor ausgereiste) Opfer von Zwangsheiraten nach § 37 Abs. 2a AufenthG sowie durch die Regelung des § 54 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG, wonach die Nötigung zur Eingehung einer Ehe ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse begründet. *** 49 Vgl. Schirrmacher, Die Frage der Freiwilligkeit der islamischen Eheschließung (2012), 11, abrufbar unter: https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/56435 (zuletzt abgerufen am 17. Mai 2018), mit Hinweis auf Marokko, Algerien, Syrien, Jordanien und Irak. 50 Vgl. Schirrmacher (Fn. 49), 11 f. 51 Siehe nur Hohloch, in Erman, BGB (15. Aufl., 2017), Rn. 33 zu Art 6 EGBGB m.w.N. 52 Gesetz zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat sowie zur Änderung weiterer aufenthalts- und asylrechtlicher Vorschriften vom 23. Juni 2011, BGBl. I, 1266. Ausführlich dazu Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Zwangsheirat und Minderjährigenehen in Deutschland (WD 7 - 3000 - 006/17), 5 ff.