© 2016 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 132/16 Fragen zum marokkanischen Staatsangehörigkeitsrecht Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 132/16 Seite 2 Fragen zum marokkanischen Staatsangehörigkeitsrecht Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 132/16 Abschluss der Arbeit: 11.05.2016 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 132/16 Seite 3 1. Fragestellung Vor dem Hintergrund der anstehenden Einstufung von Marokko als sicherer Herkunftsstaat1 wird gefragt, unter welchen Voraussetzungen Kinder ausländischer Eltern durch Geburt und Ausländer durch Einbürgerung die marokkanische Staatsangehörigkeit erwerben können und welche Umstände zum Verlust der marokkanischen Staatsangehörigkeit führen. Ferner wird darum gebeten zu erläutern, inwiefern das marokkanische Staatsangehörigkeitsrecht in dem Gebiet der Westsahara, in dem Marokko die Hoheitsgewalt ausübt, gilt. Die folgenden Ausführungen basieren auf einer Auswertung des marokkanischen Staatsangehörigkeitsgesetzes (Dahir n° 1-58-250).2 Informationen zur Praxis der Rechtsanwendung sind über allgemein zugängliche Quellen – soweit ersichtlich – nicht verfügbar. 2. Erwerb der marokkanischen Staatsangehörigkeit Das marokkanische Staatsangehörigkeitsrecht ist geprägt durch das Abstammungsprinzip (ius sanguinis). Nach der Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes im Jahr 2007 sind nicht nur Kinder von einem marokkanischen Vater, sondern auch Kinder einer marokkanischen Mutter marokkanische Staatsangehörige, Art. 6 Dahir n° 1-58-250. Die durch Abstammung vermittelte Staatsangehörigkeit gilt als originäre Staatsangehörigkeit. Daneben gibt es die erworbene Staatsangehörigkeit , und zwar u.a. durch Gesetz (z.B. durch Geburt in Marokko – ius soli) und durch Einbürgerung.3 2.1. Kinder ausländischer Eltern Der Staatsangehörigkeitserwerb durch Geburt und Aufenthalt in Marokko ist in Art. 9 Nr. 1 Dahir n° 1-58-250 geregelt. Kinder ausländischer Eltern können die marokkanische Staatsangehörigkeit danach in zwei Varianten erwerben, und zwar als „double ius soli“ in Bezug auf die Eltern oder in Bezug auf den Vater mit arabischer oder islamischer Kulturzugehörigkeit . Der Staatsangehörigkeitserwerb in der Variante des „double ius soli“ in Bezug auf die Eltern setzt nach Art. 9 Nr. 1 Abs. 1 Dahir n° 1-58-250 voraus: – Geburt des Kindes ausländischer Eltern in Marokko, – Geburt der Eltern in Marokko nach Inkrafttreten des Gesetzes (1958), – Erklärung des Kindes während der zwei dem Erreichen der Volljährigkeit (18 J.) vorangehenden Jahre, die marokkanische Staatsangehörigkeit erwerben zu wollen, 1 Vgl. dazu den Entwurf eines Gesetzes zur Einstufung der Demokratischen Volksrepublik Algerien, des Königreichs Marokko und der Tunesischen Republik als sichere Herkunftsstaaten, BT-Drs. 18/1839. 2 Dahir n° 1-58-250 du 21 safar 1378, in der konsolidierten Fassung von 2011 in französischer Sprache abrufbar unter : http://www.refworld.org/cgi-bin/texis/vtx/rwmain?docid=501fc9822. Zur deutschen Übersetzung des marokkanischen Staatsangehörigkeitsgesetzes, die hier zugrunde gelegt wurde, siehe Nell, Marokko, in: Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht (Loseblatt-Slg., Stand: 2013/2009), 15 ff. 3 Andere Formen des Staatsangehörigkeitserwerbs durch Gesetz sind die Inpflegenahme nach Art. 9 Nr. 2 Dahir n° 1-58-250 und die Eheschließung nach Art. 10 Dahir n° 1-58-250. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 132/16 Seite 4 – gewöhnlicher und rechtmäßiger Aufenthalt des Kindes in Marokko und – kein Widerspruch des Justizministers. Der Staatsangehörigkeitserwerb in der Variante des „double ius soli“ in Bezug auf den Vater mit arabischer oder islamischer Kulturzugehörigkeit setzt nach Art. 9 Nr. 1 Abs. 2 Dahir n° 1-58-250 voraus: – Geburt des Kindes ausländischer Eltern in Marokko, – Geburt des Vaters in Marokko, – Zuordnung des Vaters zu einem Land, dessen Bevölkerung mehrheitlich von einer arabischsprachigen oder der islamischen Religion angehörenden Gemeinschaft gebildet wird, der der Vater angehört, – Erklärung des Kindes, die marokkanische Staatsangehörigkeit erwerben zu wollen, – gewöhnlicher und rechtmäßiger Aufenthalt des Kindes in Marokko und – kein Widerspruch des Justizministers. In der zweiten Variante ist die Erklärung des Kindes, die marokkanische Staatsangehörigkeit erwerben zu wollen, nicht an eine Altersgrenze gebunden. 2.2. Einbürgerung Der Abschnitt 2 des Dahir n° 1-58-250 regelt die Einbürgerung. Nach Art. 11 Abs. 1 Dahir n° 1- 58-250 muss ein Ausländer, der den Erwerb der marokkanischen Staatsangehörigkeit beantragt, das Vorliegen der folgenden Voraussetzungen belegen: – gewöhnlicher und rechtmäßiger Aufenthalt in Marokko während der letzten fünf Jahre vor Antragstellung und Aufenthalt in Marokko bis zur Entscheidung über den Antrag (Nr. 1), – Volljährigkeit bei Antragstellung (Nr. 2), – körperliche und geistige Gesundheit (Nr. 3), – guter und sittlicher Lebenswandel und keine Verurteilung wegen eines Verbrechens, einer entehrenden Straftat, eines terroristischen Vergehens, eines Verstoßes gegen die Gesetze über den rechtmäßigen Aufenthalt in Marokko oder Handlungen, welche zum Entzug der kaufmännischen Geschäftsfähigkeit führen, es sei denn, die Verurteilung ist durch Rehabilitierung getilgt (Nr. 4), – ausreichende arabische Sprachkenntnisse (Nr. 5) und – hinreichende Mittel für den Lebensunterhalt (Nr. 6). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 132/16 Seite 5 Von einigen Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 1 Dahir n° 1-58-250 kann nach Art. 12 Dahir n° 1- 58-250 abgesehen werden. So kommt eine Einbürgerung auch ohne Vorliegen der körperlichen und geistigen Gesundheit in Betracht, wenn sich der Antragsteller die Behinderung oder Krankheit im Dienst oder im Interesse Marokkos zugezogen hat, Art. 12 S. 1 Dahir n° 1-58-250. Auch kann von dem Voraufenthalt (Nr. 1), der Gesundheit (Nr. 3), den Sprachkenntnissen (Nr. 5) und dem Erfordernis der hinreichenden Mittel für den Lebensunterhalt (Nr. 6) abgesehen werden, wenn der Antragsteller für Marokko außergewöhnliche Dienste geleistet hat oder seine Einbürgerung für Marokko von außergewöhnlichem Interesse ist, Art. 12 S. 2 Dahir n° 1-58-250. Gemäß Art. 11 Abs. 2 Dahir n° 1-58-250 wird eine Kommission gebildet, die damit beauftragt ist, über Einbürgerungsanträge zu entscheiden. 3. Verlust der marokkanischen Staatsangehörigkeit Im Kapitel IV des Dahir n° 1-58-250 sind der Verlust und die Aberkennung der marokkanischen Staatsangehörigkeit geregelt. Zu den Verlustgründen nach Art. 19 Abs. 1 Dahir n° 1-58-250 gehören zunächst die folgenden Konstellationen des Verzichts auf die marokkanische Staatsangehörigkeit, wobei die Verlustwirkung aber nur eintritt, wenn der Marokkaner durch Dekret zum Verzicht ermächtigt wurde: – ein volljähriger Marokkaner, der freiwillig im Ausland eine ausländische Staatsangehörigkeit erworben hat (Nr. 1), – ein Marokkaner, auch wenn er minderjährig ist, der eine ausländische Staatsangehörigkeit durch Abstammung besitzt (Nr. 2), – eine Marokkanerin, die durch Eheschließung mit einem Ausländer dessen Staatsangehörigkeit erwirbt (Nr. 3), – ein Marokkaner, der die marokkanische Staatsangehörigkeit durch Erstreckung nach Art. 18 Dahir n° 1-58-250 erworben hat (Nr. 4). Weitere Verlustgründe nach Art. 19 Dahir n° 1-58-250 betreffen – die Ausübung eine Amtes oder einer Beschäftigung im öffentlichen Dienst oder in der Armee eines fremden Staates im Widerspruch zu den nationalen Interessen, wenn die Tätigkeit über sechs Monate beibehalten wird, obwohl der Marokkaner zu ihrer Aufgabe aufgefordert wurde (Abs. 1 Nr. 5) und – das Optionsrecht eines Kindes aus einer gemischten Ehe (Abs. 2 – 4). Der Verlust der marokkanischen Staatsangehörigkeit durch Aberkennung kommt nach Art. 22 Abs. 1 Dahir n° 1-58-250 nur bei erworbener Staatsangehörigkeit, d.h. nicht bei originärer Staatsangehörigkeit in Betracht. Die erworbene Staatsangehörigkeit kann entzogen werden, wenn die Person – verurteilt wurde (Nr. 1) wegen eines Anschlags oder Angriffs auf den Souverän oder Mitglieder der königlichen Familie, Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 132/16 Seite 6 einer Handlung, die ein Verbrechen oder ein Vergehen gegen die innere oder äußere Sicherheit des Staates darstellt, einer terroristischen Straftat, eines Verbrechens zu einer Haftstrafe von mehr als fünf Jahren; – sich ihren militärischen Verpflichten entzogen hat (Nr. 2); – zum Vorteil eines fremden Staates Handlungen ausgeführt hat, die mit der Eigenschaft als Marokkaner unvereinbar oder für die Interessen Marokkos schädlich sind (Nr. 3). Die Aberkennung kann ferner nur erfolgen, wenn sich die o.g. Verhaltensweisen innerhalb von zehn Jahren nach Erwerb der marokkanischen Staatsangehörigkeit ereignet haben, Art. 22 Abs. 2 Dahir n° 1-58-250. Sie wird in der Regel durch Dekret des Ministerrats ausgesprochen, Art. 23 Abs. 2 Dahir n° 1-58-250. 4. Verwaltungsverfahren Die Antrage und Erklärungen zum Erwerb und Verlust der marokkanischen Staatsangehörigkeit sind an den Justizminister zu richten, und zwar mit den geeigneten Beweismitteln und Urkunden zum Nachweis der gesetzlichen Voraussetzungen, Art. 25 Dahir n° 1-58-250. In Bezug auf einzelne Erwerbstatbestände informiert die marokkanische Verwaltung im Internet (service-public.ma) über konkret beizubringende Dokumente.4 Aus den dort bereit gestellten Informationen ergibt sich auch, dass für den Staatsangehörigkeitserwerb durch Einbürgerung keine Gebühren erhoben werden. Nach Art. 26 Dahir n° 1-58-250 kann der Justizminister Anträge und Erklärungen ablehnen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen nicht vorliegen, und er kann sie zurückweisen, wenn ihm eine Widerspruchsmöglichkeit eingeräumt wurde.5 5. Geltung des marokkanischen Staatsangehörigkeitsrechts Man wird davon ausgehen können, dass der Territorialitätsanspruch Marokkos in Bezug auf das besetzte Gebiet der Westsahara die normative Geltung des marokkanischen Rechts und damit auch des marokkanischen Staatsangehörigkeitsrechts mitumfasst. Ob und inwieweit dieser Geltungsanspruch auf dem Gebiet der besetzten Westsahara faktisch durchgesetzt wird, kann von hier aus nicht beurteilt werden. So lässt sich nicht sagen, ob die Bewohner der besetzten Westsahara die marokkanische Staatsangehörigkeit nach den gesetzlichen Vorgaben tatsächlich erwerben können 4 Vgl. den Internetauftritt der marokkanischen Verwaltung zu Verwaltungsverfahren, abrufbar unter: http://www.service-public.ma/en/web/guest/home?p_p_id=mmspservicepublicdiffusion_WAR_mmspservicepublicdiffusionportlet &p_p_lifecycle=0&p_p_state=normal&p_p_mode=view&p_p_col_id=column- 1&p_p_col_count=1&_mmspservicepublicdiffusion_WAR_mmspservicepublicdiffusionportlet__spage=%2Fportlet _action%2Fprocedure%2Frubrique%2Fview%3FrubriqueSelected.idRubrique%3D20429&_mmspservicepublicdiffusion _WAR_mmspservicepublicdiffusionportlet_rubriqueSelected.idRubrique=20429. 5 Eine Widerspruchsmöglichkeit besteht u.a. beim Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Geburt in Marokko, vgl. Ziff. 2.1. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 132/16 Seite 7 oder ihnen die Staatsangehörigkeit vorenthalten wird.6 Auch sind keine Aussagen darüber möglich, ob den Bewohnern der Westsahara ggf. die marokkanische Staatsangehörigkeit aufgezwungen wird. Aus den rechtlichen Grundlagen im oben erörterten marokkanischen Staatsangehörigkeitsgesetz ergeben sich jedenfalls keine Anhaltspunkte dafür, dass der Erwerb der Staatsangehörigkeit in den oben behandelten Fällen gegen den Willen der Betroffenen erfolgen könnte. Sowohl der Erwerb der Staatsangehörigkeit von Kindern ausländischer Eltern durch Geburt als auch die Einbürgerung von Ausländern setzen entsprechende Erklärungen oder Anträge voraus. Ferner bestehen – soweit ersichtlich – keine Hinweise, dass den Bewohnern der besetzten Westsahara die marokkanische Staatsangehörigkeit aufgrund eines gesonderten marokkanischen Rechtsaktes kollektiv übertragen worden wäre.7 Hier nicht weiter zu erörtern ist die völkerrechtlich umstrittene Frage, ob bei einem Gebietswechsel die neue Staatsangehörigkeit automatisch auf die Bevölkerung übergeht.8 Ende der Bearbeitung 6 In diese Richtung weist die Umfrage des Europäischen Migrationsnetzwerks bei seinen nationalen Kontaktpunkten („Is it considered possible for a person born in Western Sahara to obtain Moroccan citizenship in practice?“, „Is it considered reasonable to expect that a person born in Western Sahara obtains Moroccan citizenship?“), abrufbar unter: .http://ec.europa.eu/dgs/home-affairs/what-we-do/networks/european_migration_network/reports /docs/ad-hoc-queries/ad-hoc-queries-2015.684_fi_citizenship_of_sahrawi_wider_diss.pdf. 7 Zum Recht der Staaten, bei rechtmäßigem Gebietserwerb der Bevölkerung dieses Gebietes die Staatsangehörigkeit zu verleihen vgl. Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG (Loseblatt-Slg., Stand: Juni 2007), Rn. 30 zu Art. 16 Abs. 1. 8 Dazu Randelzhofer (Fn. 7), Rn. 27 ff. zu Art. 16 Abs. 1; Hailbronner, Staatsangehörigkeit und Völkerrecht, in: Hailbronner/Renner/Maaßen, Staatsangehörigkeitsrecht (5. Aufl., 2010), Teil I, Kapitel E, Rn. 43 ff.