© 2015 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 132/15 Regelungen zum Ausschluss des Wahlrechts Xxxxxxxx Xxxxx Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 132/15 Seite 2 Regelungen zum Ausschluss des Wahlrechts Verfasser/in: Xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx xxxxxxxxxxxxxxxxxx Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 132/15 Abschluss der Arbeit: 18. Juni 2015 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: xxxxxxxxxxxxxx Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 132/15 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Ausschluss des Wahlrechts 5 2.1. Ausschluss des Wahlrechts durch Richterspruch 5 2.2. Ausschluss des Wahlrechts bei „Totalbetreuung“ 6 3. Vereinbarkeit der Wahlrechtsausschlussregelungen mit dem Grundgesetz 7 3.1. Wahlrechtsausschluss durch Richterspruch 7 3.2. Wahlrechtsausschluss bei „Totalbetreuung“ 8 3.3. Wahlrechtsausschluss bei psychiatrischer Unterbringung 14 4. Abschließende Bemerkungen des UN-Fachausschusses 16 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 132/15 Seite 4 1. Einleitung Das Wahlrecht ist eines der elementarsten Rechte in einer freiheitlich demokratischen Grundordnung , ein „politisches Grundrecht“.1 Als wesentliches politisches Teilhaberecht ist das Wahlrecht das „vornehmste Recht des Bürgers im demokratischen Staat“.2 Durch die Beteiligungsmöglichkeit des Staatsbürgers an der politischen Willensbildung im Sinne des Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz (GG) ist das Wahlrecht ein wesentlicher Teil des Demokratieprinzips, Art. 20 Abs. 1 GG. Die Wahlrechtsgrundsätze der Gleichheit und Allgemeinheit der Wahl gemäß Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG sichern die von diesem Prinzip vorausgesetzte Egalität der Staatsbürger und damit deren Recht auf einen gleichen Anteil an der Ausübung der Staatsgewalt.3 Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl gewährleistet – ebenso wie der Grundsatz der Gleichheit der Wahl – die politischen Einflusschancen des gesamten Volkes – ungeachtet der sozialen Schichtung, der Gruppenzugehörigkeit oder sonstiger möglicher Differenzierungsmerkmale.4 Allerdings können die Wahlrechtsgrundsätze nicht immer absolut verwirklicht werden.5 Einschränkungen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl gemäß Art. 38 GG bedürfen aber stets eines besonderen rechtfertigenden Grundes.6 Differenzierungen sind nur dann gestattet, wenn sie einen verfassungsrechtlich legitimierten Zweck verfolgen und zur Verfolgung dieses Zwecks nicht nur geeignet, sondern auch erforderlich und angemessen sind (sog. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz). Art. 38 Abs. 3 GG sieht vor, dass durch Bundesgesetz nähere Bestimmungen zur Wahl getroffen werden. Diesem Auftrag ist der Gesetzgeber mit dem Bundeswahlgesetz (BWahlG) nachgekommen.7 Nach § 13 BWahlG und § 15 Abs. 2 BWahlG8 sind bestimmte Personengruppen vom aktiven bzw. passiven Wahlrecht ausgeschlossen. Für Landtagswahlen gelten identische Bestimmungen in den jeweiligen Landeswahlgesetzen der Bundesländer,9 wobei der Ausschlussgrund wegen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus in einigen Bundesländern fehlt.10 1 BVerfGE 1, 208 (242). 2 BVerfGE 1, 14 (33). 3 BVerfGE 120, 82 (102); 99, 1 (13). 4 BVerfGE 15, 165 (166); 36, 139 (141); 58, 202 (205). 5 BVerfGE 3, 19 (24), 59, 119 (124). 6 BVerfGE 121, 266 (298). 7 Schreiber, Wolfgang, Bundeswahlgesetz Kommentar, 9. Aufl. 2013, § 12 Rn. 2. 8 Wortlautidentisch mit den §§ 6a Abs. 1, 6b Abs. 3 des Gesetzes über die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland. 9 Siehe hierzu beispielsweise Art. 7 des Landeswahlgesetzes des Bundeslandes Hamburg. 10 Siehe hierzu die Landeswahlgesetze der Bundesländer Hessen und Baden-Württemberg. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 132/15 Seite 5 Nachfolgend werden die Wahlrechtsausschlussregelungen des Bundeswahlgesetzes dargestellt (2) und die Frage der Verfassungsmäßigkeit dieser Regelungen behandelt (3) sowie die Bedeutung der abschließenden Bemerkungen des UN-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 17. April 2015 erläutert (4). 2. Ausschluss des Wahlrechts 2.1. Ausschluss des Wahlrechts durch Richterspruch Nach § 13 Nr. 1 BWahlG kann das aktive Wahlrecht in den nachfolgend aufgeführten Fällen durch Richterspruch aberkannt werden (ausdrückliche Aberkennung im Einzelfall):11 - Bei Ausspruch der Verwirkung bestimmter Grundrechte, wie z.B. bei Missbrauch der Meinungs-, Lehr- und Versammlungsfreiheit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 5 i. V. m. Art. 18 GG und §§ 13 Nr. 1, 36 ff. Bundesverfassungsgerichtsgesetz - BVerfGG), kann das Bundesverfassungsgericht u.a. das Wahlrecht aberkennen (§ 39 Abs. 2 BVerfGG). - Soweit das Strafgesetzbuch (StGB) dies ausdrücklich vorsieht, kann (Ermessen des Gerichts) dem Verurteilten für die Dauer von zwei bis fünf Jahren das aktive Wahlrecht strafgerichtlich aberkannt werden, § 45 Abs. 5 StGB. Dies ist z.B. der Fall bei folgenden Straftaten: Friedensverrat, Hochverrat und Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates (§§ 80 ff. StGB i. V. m. § 92a und § 45 Abs. 5 StGB) Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit (§§ 93 ff. StGB i. V. m. § 101 und § 45 Abs. 5 StGB) Angriffe gegen Organe und Vertreter ausländischer Staaten (§ 102 Abs. 1 und 2 StGB i. V. m. § 45 Abs. 5 StGB) Bestimmte Straftaten im Zusammenhang mit Wahlen wie Wahlbehinderung, Wahlfälschung und Wahltäuschung (§§ 107, 107a, 108, 108b StGB i. V. m.§ 108c und § 45 Abs. 5 StGB) Bestechlichkeit und Bestechung von Mandatsträgern (§ 108e Abs. 1 und 2 StGB i. V. m. § 45 Abs. 5 StGB) Bestimmte Straftaten gegen die Landesverteidigung wie Sabotage an Verteidigungsmitteln und sicherheitsgefährdende nachrichtendienstliche Tätigkeit für eine ausländische Vereinigung (§§ 109e, 109f StGB i. V. m. 109i und § 45 Abs. 5 StGB) Gemäß § 15 Abs. 2 Nr. 1 BWahlG führt der Ausschluss nach § 13 BWahlG zugleich zum Verlust des passiven Wahlrechts. Nach § 15 Abs. 2 Nr. 2 BWahlG ist zudem nicht wählbar, wer infolge 11 Siehe auch: , Wählbarkeit und Mandatsverlust bei gerichtlicher Verurteilung (EZPWD-Anfrage), Wissenschaftliche Dienste des Deutsches Bundestages, Sachstand (WD 3 – 029/07). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 132/15 Seite 6 Richterspruchs von der Wählbarkeit oder der Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter ausgeschlossen wurde. Die Wählbarkeit kann in den Fällen aberkannt werden, in denen das aktive Wahlrecht aberkannt werden kann. Darüber hinaus tritt der Verlust des passiven Wahlrechts gemäß § 45 Abs. 1 StGB als automatische Folge bei Verurteilung wegen eines Verbrechens12 ein.13 2.2. Ausschluss des Wahlrechts bei „Totalbetreuung“ Gemäß § 13 Nr. 2 und § 15 Abs. 2 Nr. 1 BWahlG ist vom (aktiven und passiven) Wahlrecht ausgeschlossen , für den zur Besorgung aller seiner Angelegenheiten ein Betreuer nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt ist; dies gilt auch, wenn der Aufgabenkreis des Betreuers die in § 1896 Abs. 4 und § 1905 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) bezeichneten Angelegenheiten nicht erfasst. Der Ausschlusstatbestand des § 13 Nr. 2 BWahlG stellt auf die Bestellung eines Betreuers nach § 1896 Abs. 1 BGB für die Besorgung aller Angelegenheiten des Betreuten ab („Totalbetreuung“). Gemäß § 1896 Abs. 1 BGB kann, wenn ein Volljähriger auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine (rechtlichen) Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht zu besorgen vermag, das Vormundschaftsgericht auf seinen Antrag oder von Amts wegen für ihn einen Betreuer bestellen. Eine Betreuung für alle Angelegenheiten ist zulässig , wenn der Betroffene auf Grund seiner Krankheit oder Behinderung keine seiner Angelegenheiten mehr selbst besorgen kann. Abzustellen ist insoweit auf die konkrete Lebenssituation. Im Hinblick auf das „Erforderlichkeitsgebot“ des aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG abgeleiteten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist die Bestellung eines Betreuers für alle Angelegenheiten eine Ausnahmeentscheidung.14 2.3. Ausschluss des Wahlrechts bei psychiatrischer Unterbringung Nach § 13 Nr. 3 BWahlG und § 15 Abs. 2 Nr. 1 BWahlG ist vom (aktiven und passiven) Wahlrecht ausgeschlossen, wer aufgrund einer Entscheidung gemäß § 63 StGB anstelle bzw. neben einer an sich fälligen Freiheitstrafe zur Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus wegen einer in Schuldunfähigkeit begangenen rechtswidrigen Tat verurteilt worden ist und sich am Wahltag im Vollzug dieser Entscheidung in einem psychiatrischen Krankenhaus aufhält. § 20 StGB, der die Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen regelt, besagt, dass „ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.“ Von den Personen, die eine Straftat begangen haben, dabei aber nach soeben Gesagtem schuldunfähig waren, werden allerdings nach § 63 StGB nur diejenigen in einem psychiatrischen Krankenhaus 12 Gemäß § 12 Abs. 1 StGB sind Verbrechen rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind. Davon zu unterscheiden sind Vergehen, d. h. rechtswidrige Taten, die mit einer geringeren Freiheitsstrafe oder mit Geldstrafe bedroht sind, § 12 Abs. 2 StGB. 13 Siehe Fn. 11. 14 Schreiber, (Fn. 7), § 13 Rn. 12. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 132/15 Seite 7 untergebracht, von denen infolge ihres „Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und die deshalb für die Allgemeinheit gefährlich sind.“ 3. Vereinbarkeit der Wahlrechtsausschlussregelungen mit dem Grundgesetz 3.1. Wahlrechtsausschluss durch Richterspruch Die strafrechtliche Sanktion der richterlichen Wahlrechtsaberkennung nach § 45 Abs. 5 StGB und auch der automatische Ausschluss des passiven Wahlrechts nach § 45 Abs. 1 StGB zielen darauf ab, den durch die Ausübung eines (öffentlichen) Amtes bzw. die passive oder aktive Teilnahme an (öffentlichen) Wahlen und Abstimmungen betroffenen öffentlichen Rechtsbereich zu schützen. Die Vorschrift dient damit der „Reinhaltung“ des öffentlichen Lebens.15 Der Schutz der verfassungsrechtlich gewährleisteten Wahlen ebenso wie der Schutz des demokratischen Rechtsstaates und die Sicherheit des Staates nach außen rechtfertigen Einschränkungen des Wahlrechts bei denjenigen, die wegen Delikten gegen diese Verfassungsrechtsgüter bestraft wurden. Es soll der Widerspruch vermieden werden, dass eine Person, die eine Straftat gegen die verfassungsrechtliche Ordnung begangen hat, sich gleichzeitig auf die von der Verfassung garantierten Rechtsgrundsätze berufen darf.16 Bedenken gegen die Vereinbarkeit von § 45 Abs. 5 StGB mit Verfassungsrecht werden nicht vorgetragen . Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat bislang lediglich nationale Regelungen beanstandet, die Strafgefangene pauschal vom aktiven Wahlrecht ausschließen.17 Soweit dagegen mit dem Verlust des aktiven Wahlrechts bei Strafgefangenen legitime Ziele verfolgt werden und die Verhältnismäßigkeit gewahrt ist, werden entsprechende Regelungen als konventionskonform betrachtet.18 Da dem Ausschluss vom Wahlrecht stets eine richterliche Entscheidung zugrunde liegt, gibt es somit keinen automatischen, an die Verwirklichung eines bestimmten Straftatbestandes geknüpften Wahlrechtsverlust.19 Kritische Äußerungen finden sich allerdings in Bezug auf die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift des § 45 Abs. 1 StGB. Wer wegen eines Verbrechens zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt wird, verliert für fünf Jahre automatisch sein passives Wahlrecht. Bei einem Vergehen – also einer mit Geldstrafe oder im Mindestmaß mit einer Freiheitsstrafe von weniger als einem Jahr bedrohte Straftat – führt auch eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr nicht automatisch zum Entzug des passiven Wahlrechts. Diese Ungleichbehandlung wird zum Teil als Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG angesehen. Insbesondere sei 15 Nelles, Ursula, Statusfolgen als „Nebenfolgen“ einer Straftat, JZ 1991, S. 17 (22). 16 Dazu kritisch: Meyer, Hans, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts III, 3. Aufl. 2005, § 46 Rn. 4. 17 EGMR Urteil vom 06. 10. 2005, Rechtssache Hirst gegen Vereinigtes Königreich, 74025/01, abrufbar unter: http://hudoc.echr.coe.int/sites/eng/pages/search.aspx?i=001-101853#{"itemid":["001-101853"]}. 18 Siehe Fn. 17. 19 Schreiber, (Fn. 7), § 13 Rn. 3. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 132/15 Seite 8 zu bedenken, ob ein Entzug des Wahlrechts nicht den Fällen des Art. 18 GG vorbehalten bleiben solle, der eine Verwirkung von Grundrechten vorsieht und somit ein „milderes Mittel“ im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung in Bezug auf die Wahlrechtsbeschränkung darstelle. Eine verfassungsfeindliche Gesinnung werde schließlich auch ansonsten nicht durch den Entzug verfassungsrechtlicher Rechtspositionen sanktioniert. Warum das Wahlrecht einen Sonderfall bilde, sei im Ergebnis nicht einzusehen.20 Für die Vereinbarkeit von § 45 Abs. 1 StGB i. V. m. § 15 Abs. 2 Nr. 2 BWahlG mit Verfassungsrecht wird angeführt, dass das Ansehen des Parlamentes durch die Aberkennung des passiven Wahlrechts gewahrt werden solle.21 3.2. Wahlrechtsausschluss bei „Totalbetreuung“ In Bezug auf den Wahlrechtsausschluss bei „Totalbetreuung“ findet zunehmend eine kritische Diskussion im Hinblick auf dessen Vereinbarkeit mit dem UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13. Dezember 2006 (Behindertenrechtskonvention - BRK)22 statt.23 Die BRK ist mit dem gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG erforderlichen Zustimmungsgesetz vom 21. Dezember 2008 Bestandteil der deutschen Rechtsordnung geworden. Das Übereinkommen verfolgt das Ziel, den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern, Art. 1 BRK. Art. 29 BRK garantiert allen Menschen mit Behinderungen die politischen Rechte sowie die Möglichkeit, diese gleichberechtigt mit anderen zu genießen. In Art. 12 BRK verpflichten sich die Vertragsstaaten, geeignete Maßnahmen zu treffen, um Menschen mit Behinderungen die gleichberechtigte Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit in allen Lebensbereichen zu ermöglichen und jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu verbieten. Die BRK verfolgt das Ziel, allen Menschen mit Behinderungen unabhängig von deren Art und Schweregrad in den vollen Genuss der Menschenrechte kommen zu lassen und sie so zu gleichberechtigten und gleichwertigen Mitgliedern von Staat und Gesellschaft zu machen.24 Das Übereinkommen zielt auf die volle Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen in das gesellschaftliche und öffentliche Leben und rückt den Schutz vor Diskriminierung, Barrierefreiheit und Selbstbestimmung in den Mittelpunkt.25 20 Morlok, Martin, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar II, 2. Aufl. 2006, Art. 38 Rn. 72. 21 Schreiber, (Fn. 7), § 15 Rn. 13. 22 UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13. Dezember 2006, Ratifizierung durch die Bundesrepublik Deutschland: Bundesgesetzblatt Jahrgang 2008, Teil II Nr. 35, ausgegeben zu Bonn am 31. Dezember 2008, S. 1419. 23 Schreiber, (Fn. 7), § 13 Rn. 10 m. w. N. 24 Schulte, Bernd, Die UN- Behindertenrechtskonvention und der Ausschluss von Menschen mit Behinderungen vom Wahlrecht, ZRP 2012, S. 16. 25 Schulte, (Fn. 23), S. 16. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 132/15 Seite 9 In diesem Zusammenhang ist fraglich, ob die Anknüpfung von Wahlrechtsausschlüssen an die dauerhafte richterliche Anordnung der Betreuung in allen Angelegenheiten im Hinblick auf die BRK mit dem Grundgesetz vereinbar ist.26 Denn die BRK, die in Deutschland Gesetzeskraft hat, kann als Auslegungshilfe für Bestimmung, Inhalt und Reichweite der Grundrechte herangezogen werden und zur Beantwortung der Frage, was nach dem Grundgesetz verhältnismäßig ist, beitragen .27 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stellen die mit demokratischen Wahlen verfolgten Ziele, die Sicherung des Charakters der Wahl sowie die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung,28 einen Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes dar. Diese Willensbildung setze eine verantwortliche und selbstbestimmte Teilhabe der Bürger an der politischen Willensbildung des Volkes voraus und fordere, dass der Einzelne von den zu entscheidenden Sachfragen, von den durch die verfassten Staatsorgane getroffenen Entscheidungen, Maßnahmen und Lösungsvorschlägen genügend weiß, um sie zu beurteilen , billigen oder verwerfen zu können.29 Dabei handele es sich um eine traditionelle Begrenzung des Grundsatzes der Allgemeinheit der Wahl,30 die einen Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung darstelle.31 Die Regelung beruhe auf der Überlegung, dass das Wahlrecht ein höchstpersönliches Recht sei, das nur Personen zustehen soll, die rechtlich in vollem Umfang selbstständig handlungs- und entscheidungsfähig seien.32 Nur wer ein Mindestmaß an Einsichtsfähigkeit in Bedeutung und Reichweite der Wahl habe, mit anderen Worten, nur wer die Fähigkeit bewusster und reflektierter Wahlentscheidung besitze, soll an der Wahl teilnehmen können.33 Der Einzelne müsse sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren ziehe, vorausgesetzt, dass dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibe.34 Diese Beschränkung der freien Entfaltung der Persönlichkeit sei Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung.35 Die sich aus der Bestellung eines Betreuers ergebenden 26 Die nachfolgenden Ausführungen basieren zum Teil auf: , Wahlrecht für Menschen mit Behinderungen , Zur Vereinbarkeit der §§ 13 Nr. 2 und 3 BWahlG, 6a Abs. 1 Nr. 2 und 3 EuWG mit supranationalen Abkommen , Wissenschaftliche Dienste des Deutsches Bundestages, Ausarbeitung (WD 3 - 3000 - 350/11). 27 BVerfGE 128, 282 (306). 28 BVerfGE 95, 408 (418); 120, 82 (107); 129, 300 (320). 29 BVerfGE 44, 125 (147); 44, 125 (147). 30 BVerfGE 36, 139 (141 f.). 31 BVerfGE 67, 146 (148). 32 BT-Drs. 16/10808, S. 64. 33 Schreiber (Fn. 7), § 13 Rn. 10. 34 BVerfGE 19, 93 (96). 35 BVerfGE 67, 146 (148). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 132/15 Seite 10 Beeinträchtigungen, zu denen auch der Verlust des Wahlrechts gehört, müsse der Betroffene gegen sich gelten lassen. Demzufolge bleibe denjenigen Staatsbürgern die Wahlteilnahme versagt, die aus in ihrer Person liegenden Gründen zu einer persönlich verantwortlichen Wahlentscheidung nicht in der Lage seien.36 Insbesondere sei es verfassungsrechtlich unbedenklich, dass § 1896 Abs. 1 und 2 BGB die Voraussetzungen der Anordnung einer „alle Angelegenheiten“ umfassenden Betreuung nicht im Einzelnen normiere. Dies sei mit dem im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Gebot hinreichender Gesetzesbestimmtheit vereinbar37. Dem Gesetzgeber stehe es frei, unbestimmte Rechtsbegriffe zu verwenden, deren Ausfüllung Aufgabe der Rechtsanwendungsorgane sei.38 Das Bundesministerium des Innern hat im Rahmen des Wahlprüfungsverfahrens zu einem Einspruch zur Wahl des 18. Deutschen Bundestages betreffend den Wahlrechtsausschluss nach § 13 Nr. 2 und 3 BWahlG - nach Einbeziehung des Bundesministeriums für Justiz und Verbraucherschutz und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales - unter Bezugnahme auf Art. 29 BRK und Art. 25 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) konstatiert, dass aufgrund des Charakters der Wahl als höchstpersönliches Recht keine Unterstützung oder Vertretung durch einen etwaigen Betreuer erfolgen könne. Bei § 13 Nr. 2 BWahlG handele es sich um eine gesetzlich niedergelegte objektive und angemessene Einschränkung, die nach Art 25 IPbpR zulässig sei. Art. 29 BRK stehe dem ebenfalls nicht entgegen, da dieser keine weitergehenden politischen Rechte für Menschen mit Behinderungen begründen wolle, sondern lediglich die in Art. 25 IPbpR festgeschriebenen staatlichen Verpflichtungen wiedergebe.39 Der Deutsche Bundestag hat den Wahleinspruch gemäß Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses zurückgewiesen.40 Der Wahlprüfungsausschuss führt hierzu in seiner Beschlussempfehlung aus, dass § 13 Nr. 2 BWG verfassungskonform sei und hat sich inhaltlich im Wesentlichen der Stellungnahme des Bundesministeriums des Innern angeschlossen.41 Soweit die Einspruchsführer die UN-Behindertenrechtskonvention ansprächen, sei darauf hinzuweisen, dass die konventions- und völkerrechtliche Zulässigkeit des Wahlrechtsausschlusses nach § 13 Nr. 2 BWahlG – von der der Deutsche Bundestag in seiner Mehrheit und die Bundesregierung bislang ausgegangen seien - im Rahmen der von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen, fachlich 36 Schreiber, (Fn. 7), § 12 Rn. 4. 37 Schreiber, (Fn. 7), § 13 Rn. 12. 38 BVerfGE, Beschluss vom 23.06.1999 – 1 BvL 28 und 30/97 – sowie vom 01.08.2001 – 1 BvL 21 /99. 39 Vierte Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag am 22. September 2013, BT-Drucks. 18/2700, S. 7 unter Verweis auf BT-Drucks. 16/10808, S. 63. Eine vergleichbare Positionierung des Bundestages besteht in Bezug auf die wortlautidentischen Bestimmungen des Europawahlrechts (§ 6a Abs. 1 Nr. 2 und 3 EuWG) (siehe zur Begründung: Dritte Beschlussempfehlung und Bericht des Wahlprüfungsausschusses zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der Wahl zum 8. Europäischen Parlament am 25. Mai 2014, BT-Drucks. 18/5050, S. 62). 40 BT-PlProt 18/57, S. 5282. 41 BT-Drs. (Fn. 39), S. 9 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 132/15 Seite 11 breit angelegten Studie überprüft werde. Möglicher (gesetzgeberischer) Handlungsbedarf werde zu erörtern sein, sobald die für das Jahr 2015 erwartete Untersuchung vorliege.42 Teile der Kommentarliteratur halten die deutsche Regelung für verfassungsrechtlich unbedenklich, ohne dabei auf völkerrechtliche Bestimmungen einzugehen. Sie gehen dabei von der Prämisse aus, dass die Teilnahme an einer Wahl nur für Menschen möglich sein solle, die deren Inhalt erfassen könnten. Menschen, die durch geistige Gebrechen an der Einsicht, worum es bei der Wahl gehe, gehindert seien, sollten von der Teilnahme ausgeschlossen sein.43 Zudem lasse sich anführen, dass der Ausschlussgrund der Betreuung zur Besorgung aller Angelegenheiten („Totalbetreuung “) nach dem heutigen Betreuungsrecht nur ausnahmsweise bei entsprechender Erforderlichkeit einschlägig sei, also einen praktisch äußerst seltenen Fall darstelle, so dass wegen des Ausnahmecharakters von einer diskriminierungsfreien Beschränkung der Teilhabe am politischen Leben ausgegangen werden könne.44 Das Deutsche Institut für Menschenrechte – Monitoringstelle zur BRK – bewertet die deutsche Regelung über den Wahlrechtsausschluss hingegen als diskriminierend und unverhältnismäßig. Der Ausschluss stehe im Widerspruch zu heutigen menschenrechtlichen Standards sowie zum Grundgesetz, welches im Lichte der BRK auszulegen sei.45 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes wird kritisiert. Es handele sich um zwei veraltete Beschlüsse aus den Jahren 1973 und 1984, in denen lediglich historisch, nicht aber inhaltlich argumentiert werde.46 Die BRK unterscheide gerade nicht zwischen fähigen und unfähigen Wählern, da eine solche Differenzierung willkürlich und diskriminierend sei. Sie führe laut Einschätzung des EGMR sowie des EU-Menschenrechtskommissars des Europarates zu einer unzulässigen Stigmatisierung, die im Widerspruch zur Europäischen Menschenrechtskonvention stehe.47 Die BRK schreibe in ihren Art. 3 und 12 Abs. 3 vor, dass Menschen mit Behinderung die notwendige Unterstützung zukommen 42 BT-Drs. (Fn. 39), S. 9 f. Die Technische Universität Halle hat zwischenzeitlich vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) unter Beteiligung des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) und des Bundesministeriums des Innern (BMI) den Auftrag erhalten, eine Studie zum Wahlrecht für Menschen mit Behinderungen durchzuführen. Am 21. Mai 2015 wurden - auf Einladung des BMAS und der Universität Chemnitz - die Verbände und Fachgesellschaften über das Konzept der Studie und die Beurteilungskriterien informiert und dieses Konzept kritisch erörtert (siehe hierzu: Pressemitteilung des Paritätischen Gesamtverbandes, Studie zum Wahlrechtsausschuss von Menschen mit Behinderungen, 22. Mai 2015, abrufbar unter: http://www.der-parita etische.de/nc/fachinfos/artikel/news/studie-zum-wahlrechtsausschluss-von-menschen-mit-behinderung/). 43 Klein, Hans H., in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Loseblatt, 60. Ergänzungslieferung Oktober 2010, Art. 38 Rn. 93; Trute, Hans-Heinrich, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz Kommentar, 6. Aufl. 2012, Art. 38 Rn. 24; Kluth, Winfried, in: Schmidt-Bleibtreu/ Hofmann/ Henneke, Kommentar zum GG, 13. Auflage 2014, Art. 38 Rn. 18. 44 So , Die Bestellung eines Betreuers als Wahlrechtsausschlussgrund - Zur Vereinbarkeit des Europawahlgesetzes mit der UN-Behindertenrechtskonvention, Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Ausarbeitung (WD 3 - 3000 - 325/10). 45 Palleit, Leander, Gleiches Wahlrecht für alle? Menschen mit Behinderungen und das Wahlrecht in Deutschland, in: Policy Paper des Deutschen Instituts für Menschenrechte, Nr. 18, November 2011, S. 5. 46 Palleit, (Fn. 44), S. 12. 47 Palleit, (Fn. 44), S. 13. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 132/15 Seite 12 müsse, um ihnen aktive Partizipation als Ausdruck gleicher Rechte und gleicher Würde zu ermöglichen . Die Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sollte danach auch solchen Menschen gewährt werden, die die herkömmlichen Anforderungen an Vernunft und Normalität nicht erfüllen und gegebenenfalls Hilfe bei der Entscheidungsfindung benötigen.48 Gegen die Verhältnismäßigkeit dieses Ausschlussgrundes spreche ferner, dass das Wahlrecht eine vernünftige Entscheidung nicht verlange. Die Ausübung des Wahlrechts müsse daher nicht zwangsläufig auf einer weitsichtigen, vernunftbasierten, individuellen Entscheidung beruhen. Vielmehr sei es zulässig, aus Protest unvernünftig zu wählen oder gar der Wahl völlig fern zu bleiben . Die Wahlhandlung eines jeden Menschen müsse daher akzeptiert werden, ohne persönliche Gründe oder Motive zu hinterfragen, sogar wenn sie im Einzelfall irrational oder sachfremd sei.49 Die Tatsache, dass von der Ausschlussregelung nur ein äußerst geringer Teil der Bevölkerung betroffen ist, sieht das Institut für Menschenrechte umso mehr als Anlass, Menschen mit Behinderungen eine Wahlteilnahme zu ermöglichen. Denn die demokratische Legitimation der dann vom gesamten Volk gewählten Vertreter würde gestärkt werden, ohne dass die Funktionsfähigkeit der Demokratie bzw. ihrer Institutionen beeinträchtigt würde.50 Insbesondere seien historisch betrachtet über Art. 38 GG hinausgehende Beschränkungen des Wahlrechts (deutsche Staatsangehörigkeit und Volljährigkeit) besonders restriktiv auszulegen, weil gerade Menschen mit Behinderungen in der Vergangenheit besonders gravierenden Diskriminierungen ausgesetzt gewesen seien.51 Unter Gleichheitsgesichtspunkten sei bedenklich, dass es einerseits betreute Personen gebe, die die Bedeutung sowie die Konsequenzen eines Wahlganges begriffen, aber aufgrund der Ankopplung des Wahlrechtsausschlusses an die Betreuung nicht wählen dürften, während andererseits eine große Anzahl von Menschen nicht in der Lage sei, eigene politische Entscheidungen zu treffen, aber dennoch das Wahlrecht besitze. Dazu zählten z.B. Personen, die infolge Ihres Alters bzw. geistiger und psychischer Behinderung – beispielsweise wegen Alzheimers –, jedoch nicht unter „Totalbetreuung “ stünden.52 Zudem wird kritisiert, dass die Vorschrift des § 1896 Abs. 2 BGB, wonach ein Betreuer nur für Aufgabenkreise bestellt werden darf, in denen die Betreuung erforderlich ist, zu einer Ungleichbehandlung von Personen führte, je nachdem, ob eine Betreuung für erforderlich gehalten werde oder nicht. Nicht erforderlich sei eine Betreuung, soweit die Angelegenheiten des Volljährigen durch einen Bevollmächtigten oder durch andere Hilfen, bei denen kein gesetzlicher Vertreter 48 Palleit, (Fn. 44), S. 13. 49 Palleit, (Fn. 44), S. 14. 50 Palleit, (Fn. 44), S. 14. 51 EGMR Urteil vom 20. 05. 2010, Rechtssache Alajos Kiss gegen Ungarn, 38832/06, abrufbar unter: http://hudoc. echr.coe.int/sites/eng/pages/search.aspx?i=001-98800#{"itemid":["001-98800"]}. 52 Schulte, (Fn. 24), S. 17. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 132/15 Seite 13 bestellt werde, ebenso gut wie durch einen Betreuer besorgt werden könnten. Damit hingen die Betreuung und gegebenenfalls auch der Wahlrechtsausschluss aber im Einzelfall davon ab, inwieweit sonstige Hilfen in Gestalt von Familienangehörigen, Nachbarn und sonstigen informellen Helfern im konkreten Fall zur Verfügung stünden, – was wiederum von den vorstehend genannten, außerhalb der Person des Betroffenen liegenden Gründen abhänge. Dieser Umstand verstoße gegen das Willkürverbot und damit gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG.53 Im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz wird zum Teil bezweifelt, ob § 1896 Abs. 1 und 2 BGB, in dem die Voraussetzungen der Anordnung einer „alle Angelegenheiten“ umfassenden Betreuung nicht im Einzelnen normiert sind, mit dem im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Gebot hinreichender Gesetzesbestimmtheit in Einklang stehe.54 Denn es hänge mehr oder minder vom Belieben des Vormundschaftsgerichts ab, ob eine Betreuung für alle Angelegenheiten oder nur für bestimmte Angelegenheiten angeordnet werde.55 Gerichte würden bei der Frage, was „alle Angelegenheiten“ seien, nicht auf die abstrakt denkbaren, sondern auf die in der konkreten Lebenssituation anfallenden Angelegenheiten abstellen. Eine „Totalbetreuung“ werde beispielsweise angeordnet, wenn der Betroffene dauerhaft stationärer ärztlicher Behandlung bedürfe und die Fragen des täglichen Lebens nicht mehr selbstständig bewältigen könne. Hingegen werde eine „Totalbetreuung“ eines Schwerstbehinderten, der in einem Heim wohne, mangels Handlungsbedarfs nicht angeordnet.56 Eine auf diesen Kriterien basierende Entscheidung des Gerichts über eine „Totalbetreuung“ entscheide mithin automatisch über das grundlegende Recht des Betreuten auf sein aktives und passives Wahlrecht. In Bezug auf den Wahlrechtsausschluss des § 13 Nr. 2 BWahlG wird weiter bemängelt, dass dieser die automatische Rechtsfolge der Anordnung der „Totalbetreuung“ sei. Rechtmäßigerweise müsse der Wahlrechtsausschluss jedoch in jedem Einzelfall durch einen Richter angeordnet werden. Nur so könne auf die konkrete Urteilsfähigkeit des Betroffenen abgestellt werden. Eine pauschale Unterstellung, dass Menschen unter dauerhafter Betreuung die Einsichtsfähigkeit in Wesen und Bedeutung einer Wahl fehle, sei diskriminierend. Vor dem Hintergrund, dass die BRK als Konkretisierung der bestehenden Menschenrechte verstanden werde, setze sie neue Maßstäbe für das Ziel der Integration behinderter Menschen in die Gesellschaft. Dies gehe vor allem aus Art. 12 der BRK deutlich hervor, der jedem Menschen mit Behinderung gleichberechtigt in allen Lebensbereichen Zugang zu der Unterstützung verschaffen wolle, die zur Ausübung der Rechts- und Handlungsfähigkeit benötigt werde. Der Schwerpunkt liege somit auf der Achtung und insbesondere der Förderung der Selbstbestimmung, von Rechtsentzug sei aber gerade nicht die Rede.57 53 Schulte, (Fn. 24), S. 18. 54 Schreiber, (Fn. 7), § 13 Rn. 12. 55 Schreiber, (Fn. 7), § 13 Rn. 12. 56 Schwab, Martin, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 1896 Rn. 117. 57 Hellmann, Ulrich, Zur Vereinbarkeit des Wahlrechtsausschlusses nach § 13 Nr. 2 BWahlG mit bestehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen, in: BtPrax 2010/5, 208 (212). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 132/15 Seite 14 In Bezug auf die dargestellten kontroversen Positionen bleibt abzuwarten, wie das Bundesverfassungsgericht über die anhängige Wahlprüfungsbeschwerde von acht Betroffenen entscheidet, die aufgrund des Wahlrechtsausschlusses an der Wahl zum 18. Deutschen Bundestag am 22. September 2013 nicht teilnehmen durften.58 3.3. Wahlrechtsausschluss bei psychiatrischer Unterbringung Fraglich ist, ob die Anknüpfung des Wahlrechtsausschlusses an die richterliche Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus wegen einer im Zustand der Schuldunfähigkeit begangenen rechtswidrigen Tat und einer vom Täter aufgrund seines Zustandes ausgehenden Gefahr den qualifizierten Verhältnismäßigkeitsanforderungen für eine Einschränkung der Allgemeinheit der Wahl nach Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG genügt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts steht der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl in einem Spannungsverhältnis zu der sogenannten Kommunikationsfunktion der Wahl. Für die Wahlteilnahme sei die Möglichkeit, reflektierte Wahlentscheidungen zu treffen, unabdingbar . Der Ausschluss vom aktiven Wahlrecht könne vor diesem Hintergrund verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein, wenn bei einer bestimmten Personengruppe davon auszugehen sei, dass die Möglichkeit der Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen nicht in hinreichendem Maße bestehe.59 Dieser Ausschlussgrund greife bei § 13 Nr. 2 und 3 BWahlG.60 Das Bundesministerium des Innern hat – nach Einbeziehung des Bundesministeriums für Justiz und Verbraucherschutz und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales – in seiner Stellungnahme zu dem bereits unter 3.2 genannten Wahleinspruch zu § 13 Nr. 3 BWahlG vorgetragen, dass diese Bestimmung nicht – wie in dem vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 6. Oktober 2005 entschiedenen Fall Hirst v. The United Kingdom (Nr. 74025/01) – alle verurteilten Strafgefangenen oder alle in ein psychiatrisches Krankenhaus Eingewiesenen vom Wahlrecht ausgeschlossen seien. Vielmehr betreffe dies nur diejenigen Personen, deren Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus von einem Gericht nach § 63 StGB angeordnet worden sei, weil sie im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) eine rechtswidrige Tat begangen hätten und die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergeben habe, dass von ihnen infolge ihres Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten seien und sie deshalb für die Allgemeinheit gefährlich seien. Unter den Wahlrechtsausschluss nach § 13 Nr. 3 BWG fielen damit nicht Personen, bei denen wegen verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet worden sei und solche, bei denen die Schuldunfähigkeit im Zeitpunkt der Tat nur ein vorübergehender Zustand gewesen sei. Die tatbestandsmäßig erfasste Gruppe umfasse nur solche Personen, bei denen die Schuldunfähigkeit auf einem länger bestehenden, nicht nur vorübergehenden Zustand beruhe, der ihre Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit 58 Vgl. Lebenshilfe e.V., abrufbar unter: http://www.lebenshilfe.de/de/presse/2014/artikel/wahlpruefungsbe schwerde-beim-bundesverfassungsgericht-826308346.php; DIE WELT online, Behinderte Menschen sollen Wahlrecht erhalten, abrufbar unter: http://www.welt.de/politik/deutschland/article138851109/Behinderte- Menschen-sollen-Wahlrecht-erhalten.html (Stand: 28. März 2015). 59 BVerfGE, 132, 39 (51). 60 Siehe BT-Drucks. (Fn. 39), S. 6. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 132/15 Seite 15 nach gerichtlicher Feststellung dauerhaft beeinträchtige, weshalb auch ein Ausschluss vom Wahlrecht gerechtfertigt sei.61 Der Deutsche Bundestag hat den Wahleinspruch gemäß Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses zurückgewiesen.62 Der Wahlprüfungsausschuss führt in seiner Beschlussempfehlung aus, dass § 13 Nr. 3 BWahlG verfassungskonform sei. Er nimmt dabei – wie auch schon in Bezug auf § 13 Nr. 2 BWahlG - auf die Stellungnahme des Bundesministeriums des Innern Bezug.63 Zur völkerrechtlichen Zulässigkeit des Wahlrechtsausschlusses nach § 13 Nr. 3 BWahlG wird gleichfalls auf die von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Studie verwiesen (siehe 3.2). Das Deutsche Institut für Menschenrechte hält den Wahlausschluss des § 13 Nr. 3 BWahlG für diskriminierend, unangemessen und als mit der Verfassung für unvereinbar. Diesbezüglich wird vorgebracht, dass § 20 StGB darauf abstelle, dass solche Personen schuldunfähig seien, die „bei Begehung der Tat unfähig seien, das Unrecht der Tat einzusehen.“64 Dementsprechend befinde das Gericht im Strafprozess über die Schuldunfähigkeit nur bezogen auf den in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt der Tat, nicht aber darüber, ob die betreffende Person für die Zukunft zur politischen Willensbildung in der Lage sein werde. Die vom Gericht zu treffende Prognoseentscheidung darüber, ob der Täter „für die Allgemeinheit gefährlich ist“ und demnach gemäß § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht werden müsse, beziehe sich damit ausschließlich auf die Gefahr weiterer Straftaten.65 Insbesondere zeige ein Vergleich mit psychisch kranken Menschen, die mit gleichem Krankheitsbild in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht sind, ohne straffällig geworden zu sein, denen das Wahlrecht nicht entzogen werde, wie diskriminierend die Regelung des § 13 Nr. 3 BWahlG sei.66 Auch Menschen, die sich in Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB) befänden, dürften wählen, obwohl der Regelungszweck der Sicherungsverwahrung, gleichermaßen wie der Zweck des § 63 StGB, der Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern sei.67 Begangene Straftaten und die Gefährlichkeit für die Allgemeinheit könnten keine brauchbaren und ausreichenden Kriterien für den Entzug des aktiven Wahlrechts sein.68 61 Siehe BT-Drucks. (Fn. 39), S. 8. 62 BT-PlProt (Fn. 40), S. 5282. 63 Siehe BT-Drucks. (Fn. 39), S. 9 f. 64 Palleit (Fn. 42), S. 15. 65 Ziegler, Theo, in: v. Heintschel-Heinegg, Beck'scher Online-Kommentar StGB, § 63 Rn. 10 (Stand: 08.02.2015). 66 Palleit (Fn. 42), S. 15. 67 Ziegler, Theo, in: v. Heintschel-Heinegg, (Fn. 65), § 63 Rn. 1 (Stand: 08.02.2015); BR-Drucks. 49/13, S. 3, abrufbar unter: http://www.bundesrat.de/SharedDocs/drucksachen/2013/0001-0100/49-13.pdf;jsessionid=F73D91 F066E853842D27A3F862427784.2_cid391?__blob=publicationFile&v=6. 68 EGMR Urteil vom 23.11.2010, Rechtssache Greens und M.T. gegen Vereinigtes Königreich, 60041/08 und 60054/08, Ziff. 73-79, abrufbar unter: http://hudoc.echr.coe.int/sites/eng/pages/search.aspx?i=001-101853# {"itemid":["001-101853"]}. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 132/15 Seite 16 4. Abschließende Bemerkungen des UN-Fachausschusses Der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, der für die Auslegung der Behindertenrechtskonvention zuständig ist, hat am 17. April 2015 seine abschließenden Bemerkungen zum Staatenprüfungsverfahren Deutschlands zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtkonvention veröffentlicht.69 Der Ausschuss äußert sich besorgt über den in § 13 Nr. 2 und Nr. 3 des BWahlG und in den entsprechenden Ländergesetzen vorgesehenen Ausschluss von Menschen mit Behinderungen vom Wahlrecht sowie über die praktischen Barrieren, die Menschen mit Behinderungen an der gleichberechtigten Ausübung des Wahlrechts hindern. Der Ausschuss empfiehlt Deutschland, „alle Gesetze und sonstigen Vorschriften aufzuheben, durch die Menschen mit Behinderungen das Wahlrecht vorenthalten wird, Barrieren abzubauen und angemessene Unterstützungsmechanismen einzurichten“.70 Da die abschließenden Bemerkungen des UN-Fachausschusses lediglich empfehlender Natur sind, sind diese für die Staaten nicht bindend. Folgt man den Kritikern der Wahlrechtsausschlussregelungen , so dürften die Empfehlungen des UN-Fachausschusses umzusetzen sein, um den Rechten von Menschen mit Behinderungen und Strafgefangenen in vollem Maße Geltung zu verschaffen. Nach gegenteiliger Auffassung besteht kein derartiger Handlungsbedarf.71 XXxxxxx XxxxxxX Xxxxx Xxxxxxx Xxxxxxx 69 Bericht abrufbar unter: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/aktuell/news/meldung/article/pressemittei lung-un-ausschuss-kritisiert-gesellschaftliche-ausgrenzung-von-menschen-mit-behinderung/. (Stand: 04.05.2015). 70 Bericht, (Fn. 64), S. 10. 71 Siehe Diskussionsstand unter 3.2 und 3.3.