Deutscher Bundestag Der Grundsatz der Diskontinuität und die Frage der Verbindlichkeit von Parlamentsbeschlüssen für nachfolgende Bundesregierungen Sachstand Wissenschaftliche Dienste WD 3 – 3000 – 132/11 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 – 3000 – 132/11 Seite 2 Der Grundsatz der Diskontinuität und die Frage der Verbindlichkeit von Parlamentsbeschlüssen für nachfolgende Bundesregierungen Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 – 3000 – 132/11 Abschluss der Arbeit: 13. April 2011 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 – 3000 – 132/11 Seite 3 1. Einleitung Der Deutsche Bundestag wird gemäß Art. 39 Abs. 1 S. 1 des Grundgesetzes (GG) für die Dauer von vier Jahren gewählt. Mit Ablauf der „Wahlperiode“ findet zwar nicht der Bundestag im Sinn der verfassungsrechtlichen Institution sein Ende, es besteht „Organkontinuität“1, wohl aber der durch seine konkret-personelle Zusammensetzung bestimmte Bundestag („personelle Diskontinuität “).2 Unterscheiden lassen sich weiter die „institutionelle“ und „sachliche“ Diskontinuität. Die institutionelle Diskontinuität bewirkt die Beendigung der Amtszeit der Gremien und Amtsträger . Die sachliche Diskontinuität ist auf die Entscheidungskompetenz des auf Zeit gewählten Parlaments bezogen. Sie bewirkt die automatische Erledigung der zum Ende der Wahlperiode noch nicht abgeschlossenen Beratungsgegenstände. Die sachliche Diskontinuität umfasst alle „Vorlagen“ (siehe § 75 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GOBT)3), die im „alten “ Bundestag eingebracht und noch nicht erledigt sind, mit Ausnahme von Petitionen und der Vorlagen, die keiner Beschlussfassung bedürfen (§ 125 GOBT).4 Entschließungsanträge (§ 75 Abs. 2 Buchst. c GOBT) sind unselbständige Vorlagen, d.h. sie müssen sich auf einen Verhandlungsgegenstand beziehen5. Sie sind gemäß § 75 Abs. 2 Buchst. c GOBT nicht nur zu Gesetzentwürfen , sondern auch zu Unterrichtungen, Regierungserklärungen, Großen Anfragen, Entschließungen des Europäischen Parlaments, EG-Vorlagen, Stabilitätsvorlagen und Rechtsverordnungen zulässig. Noch nicht erledigte Entschließungsanträge unterliegen der Diskontinuität nach § 125 S. 1 GOBT.6 Entsprechend der Organkontinuität bleiben dagegen alle Rechtshandlungen des Bundestages mit Außenwirkung, wie etwa Verträge mit Dritten oder Prozesshandlungen, auch nach dem Ende der Wahlperiode wirksam.7 Fraglich ist, ob Beschlüsse des Parlaments für nachfolgende Bundesregierungen Wirkung entfalten . Dies wäre der Fall, wenn diese Rechtshandlungen der Diskontinuität nicht unterliegen. 1 BVerfGE 4, 144, 152, führt aus, dass „die Identität einer gesetzgebenden Körperschaft durch die Neuwahl ihrer Mitglieder nicht berührt wird“. 2 Maunz, Theofor/Klein, Hans in: Maunz, Theodor/Dürig, Günter, Grundgesetz, 60. Ergänzungslieferung, München 2010, Art. 39 Rn. 48 f. 3 Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Juli 1980, BGBl. I S. 1237, zuletzt geändert durch Bek. vom 17. Dezember 2010, BGBl. I S. 2199. 4 Maunz (Fn. 2). 5 Roll, Hans-Achim in: Nomos – Erläuterungen zum Deutschen Bundesrecht, Band I A 18 – Erläuterungen zur Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, § 88 (abzurufen unter: http://nomos.beck.de/ (Stand: 12. April 2011)). 6 Stern, Klaus, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band II, München 1980, § 26 II 2c. 7 BVerfGE 79, 311, 327; Magiera, Siegfried in: Sachs, Michael, Grundgesetz, 5. Auflage, München 2009, Art. 39 Rn. 14. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 – 3000 – 132/11 Seite 4 2. Besteht Diskontinuität von Rechtshandlungen des Bundestages, die sich auf die Bundesregierung beziehen? Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass Entscheidungen des Bundestages, die seinen Willensbildungsprozess endgültig durchlaufen haben und ihren außerparlamentarischen Adressaten zugeleitet wurden, dem Bundestag als Verfassungsorgan zuzurechnen und von der Autorität der Volksvertretung (bis zu einem abändernden Parlamentsbeschluss oder Verfassungsgerichtsurteil) auf Dauer getragen sind.8 Sie unterliegen nicht dem Bereich der Diskontinuität. Demzufolge entfalten die aus dem innerparlamentarischen Willensbildungsprozess entlassenen parlamentarischen Entscheidungen Gültigkeit sowohl für amtierende als auch für nachfolgende Bundesregierungen . Ob ihnen eine rechtliche Verbindlichkeit beizumessen ist, bzw. ob die darin gefassten Aufträge von nachfolgenden Bundesregierungen auszuführen sind, hängt von der Rechtsnatur der jeweiligen parlamentarischen Entscheidung ab. Der Bundestag entscheidet durch Beschluss (vgl. Art. 42 Abs. GG). Die herrschende Lehre unterscheidet grundsätzlich zwischen echten und schlichen Parlamentsbeschlüssen. Echte Parlamentsbeschlüsse sind diese, die für die Bundesregierung rechtlich verbindlich sind9. Dazu zählen nicht nur Gesetzesbeschlüsse, sondern auch die Zustimmung des Bundestages in Bezug auf den Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte im Ausland (§§ 3 Abs. 3, 5 Abs. 3, 7 Abs. 2 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes). Dagegen sind schlichte Parlamentsbeschlüsse bloße Willens- und Meinungskundgebungen, für die eine ausdrückliche verfassungsrechtliche oder einfachgesetzliche Grundlage nicht vorhanden ist. Zu nennen sind beispielsweise allgemeine politische Entschließungen und Absichtserklärungen. Die herrschende Meinung10 lässt diese Handlungen zu, da der Bundestag das einzige unmittelbar demokratisch legitimierte Staatsorgan sei und damit das Recht habe, zu der Politik der Regierung Stellung zu nehmen. Jedoch seien schlichte Parlamentsbeschlüsse aus Gründen der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 GG) für amtierende und nachfolgende Bundesregierungen rechtlich unverbindlich . 8 Kretschmer, Gerald in: Schmidt-Bleibtreu, Bruno/Klein, Franz, Kommentar zum Grundgesetz, 12. Auflage, Berlin /Bonn 2011, Art. 39 Rn. 5. 9 Stern (Fn. 6) 10 Stern (Fn. 6); Degenhart, Christoph, Staatsrecht I: Staatsorganisationsrecht, 25. Auflage, Heidelberg 2009, Rn. 690.