© 2019 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 129/19 Online-Stimmabgabe bei Sozialwahlen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 129/19 Seite 2 Online-Stimmabgabe bei Sozialwahlen Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 129/19 Abschluss der Arbeit: 28. Mai 2019 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 129/19 Seite 3 1. Fragestellung Es stellt sich die Frage, welche Grundsätze das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) für die elektronische Stimmabgabe über eine Netzverbindung („Online“) bei Sozialwahlen aufstellt. Dabei ist insbesondere der Öffentlichkeitsgrundsatz von Interesse. 2. Wahlcomputer-Urteil des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht hat 2009 in seinem Wahlcomputer-Urteil1 die Möglichkeit von elektronischen Stimmabgaben über das Netz nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Gleichwohl fordert das Gericht, dass der Bürger die wesentlichen Schritte der Wahlhandlung und der Auszählung zuverlässig und ohne besondere Sachkenntnis überprüfen kann. Dies folge aus dem Öffentlichkeitsgrundsatz der Wahl, der auf den „verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen für Demokratie, Republik und Rechtsstaat (Art. 38 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG [Grundgesetz])“ beruhe: „In der Republik ist die Wahl Sache des ganzen Volkes und gemeinschaftliche Angelegenheit aller Bürger. Dem entspricht es, dass auch die Kontrolle des Wahlverfahrens eine Angelegenheit und Aufgabe der Bürger sein muss. Jeder Bürger muss die zentralen Schritte der Wahl ohne besondere technische Vorkenntnisse zuverlässig nachvollziehen und verstehen können. Die Öffentlichkeit der Wahl ist auch im Rechtsstaatsprinzip angelegt. Rechtsstaatlich begründete Öffentlichkeit dient der Transparenz und Kontrollierbarkeit staatlicher Machtausübung.“2 Bei der elektronischen Datenverarbeitung ziehe die Frage der Nachvollziehbarkeit besondere Anforderungen nach sich: „Die Notwendigkeit einer solchen Kontrolle ergibt sich nicht zuletzt im Hinblick auf die Manipulierbarkeit und Fehleranfälligkeit elektronischer Wahlgeräte. […] Dies ist beispielsweise bei elektronischen Wahlgeräten möglich, die zusätzlich zur elektronischen Erfassung der Stimme ein für den jeweiligen Wähler sichtbares Papierprotokoll der abgegebenen Stimme ausdrucken, das vor der endgültigen Stimmabgabe kontrolliert werden kann und anschließend zur Ermöglichung der Nachprüfung gesammelt wird.“3 Die Wissenschaft diskutiert seither verschiedene Möglichkeiten einer nachprüfbaren Stimmabgabe im Netz.4 1 BVerfG, Urteil vom 3. März 2009, 2 BvC 3/07, 2 BvC 4/07, https://www.bundesverfassungsgericht.de/Shared- Docs/Entscheidungen/DE/2009/03/cs20090303_2bvc000307.html. 2 BVerfG, Urteil vom 3. März 2009, 2 BvC 3/07, 2 BvC 4/07, Rn. 109-110. 3 BVerfG, Urteil vom 3. März 2009, 2 BvC 3/07, 2 BvC 4/07, Rn. 118. 4 Nachweise bei Butzer, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 40. Edition, Stand: 15. Februar 2019, Rn. 80.2. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 129/19 Seite 4 3. Übertragbarkeit auf Sozialwahlen? § 45 Abs. 2 S. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) IV lautet: „Die Wahlen sind frei und geheim; es gelten die Grundsätze der Verhältniswahl.“ Die Kommentierung hierzu geht zum Teil davon aus, dass die Wahlrechtsgrundsätze von Art. 38 GG auf Sozialwahlen übertragbar sind.5 Dieser Lesart hat das BVerfG mit einem Beschluss im Jahr 2017 eine Absage erteilt: „Auch ist Art. 38 GG ersichtlich keine Norm, die Wahlen von Sozialversicherungsträgern regelt.“6 Hierfür spricht schon der Wortlaut von Art. 20 Abs. 1 S. 1 GG: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner , unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt“ (Hervorhebung durch Autor). 4. Gleichheitsgrundsatz Bereits im Jahr 1971 hat das BVerfG klargestellt, dass der Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3 GG auf Sozialwahlen anwendbar ist: „Der Grundsatz der Wahlgleichheit lässt eine Differenzierung nur aufgrund wesentlicher Unterscheidungsmerkmale oder bei Vorliegen zwingender Gründe zu […]. Das gilt auch für die Wahlen im Bereich der Sozialversicherung und auch dort nicht nur für die Wahl selbst, sondern auch für das Wahlvorbereitungsverfahren und damit für das Einreichen von Vorschlagslisten .“7 Die Manipulierbarkeit elektronischer Wahlgeräte hat nicht nur Auswirkungen auf die Öffentlichkeit der Wahl, sondern auch auf die Gleichheit der Wahl: Wo „elektronische Geräte […] mit großer Breitenwirkung manipuliert werden können (sog. Blackbox-Effekt) […] [schlägt dies] auf die Grundsätze der Allgemeinheit, Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl“ durch.8 Eher fraglich ist aber, ob das BVerfG an die Nachprüfbarkeit einer über das Netz erfolgten Sozialwahl ähnlich hohe Anforderungen stellen würde, wie an eine Wahl zum Bundestag. Gegen eine Gleichstellung spricht bereits, dass die Sozialwahl schon jetzt als reine Briefwahl ausgestaltet ist,9 bei der grundsätzlich ein höheres Risiko der Manipulierbarkeit besteht. Die Wahl zum Bundestag hingegen geht aus Gründen der Sicherheit vom „verfassungsrechtlichen Leitbild der Urnenwahl“10 aus und macht die Briefwahl zur Ausnahme. 5 Zabre, in: Kreikebohm, SGB IV, Vor § 45, Rn. 3: „Weitere allgemein gültige Wahlrechtsgrundsätze sind Allgemeinheit , Unmittelbarkeit und Gleichheit, wie sie nach Art 38 I GG für die Wahlen zum Bundestag gelten, aber auch für die Wahlen in der SV Gültigkeit haben […]“ (mit weiteren Nachweisen). 6 Beschluss vom 9. Mai 2017, 1 BvR 943/17, https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen /DE/2017/bvg17-037.html. 7 BVerfG, Beschluss vom 24. Februar 1971, 1 BvR 438, 456, 484/68 und 1 BvL 40/69. 8 Butzer, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 40. Edition, Stand: 15. Februar 2019, Rn. 80.2 (Hervorhebung durch Autor); ähnlich Morlok, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2015, Art. 38 Rn. 126. 9 § 54 Abs. 1 SGB IV: „Die Wahlberechtigten wählen durch briefliche Stimmabgabe“. 10 BVerfG, Beschluss vom 9. Juli 2013, 2 BvC 7/10, Rn. 16: „verfassungsrechtliches Leitbild der Urnenwahl“. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 129/19 Seite 5 Die relativ geringere verfassungsrechtliche Bedeutung einer Sozialwahl könnte ein Argument dafür sein, auf die Nachprüfbarkeit einer Wahl durch jeden Bürger zu verzichten. Dabei müsste gleichwohl eine Manipulierbarkeit der elektronischen Stimmabgabe auf andere Weise in einem Maße ausgeschlossen sein, das eine Verletzung der Gleichheit der Sozialwahl hinreichend sicher ausschließt. Die Literatur sieht in einer höheren Wahlbeteiligung die Rechtfertigung für die Möglichkeit einer Stimmabgabe im Internet: „Bestätigt sich jedoch die Annahme, dass die Etablierung von Internetwahlen zu einer Steigerung des gesellschaftlichen Interesses an den Sozialwahlen und auf Grund dessen zu einer gesteigerten Wahlbeteiligung führen wird, so kann den verfassungsrechtlichen Bedenken insoweit begegnet werden. Die Organe der Sozialversicherungsträger wären durch eine hohe Wahlteilnahme in ausreichender Weise demokratisch legitimiert, da eine im Rahmen der Selbstverwaltung zulässige und ausreichende mitgliedschaftliche Willensbildung erfolgt wäre.“11 Die Literatur weist dabei zugleich darauf hin, dass „geeignete technische Wahlsysteme gefunden werden [müssen]. Hierzu muss eine intensive Zusammenarbeit mit IT-Spezialisten angestrebt werden.“12 Bei einer Anhörung von Sachverständigen im Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales am 2. Februar 2015 haben Sachverständige zum Teil Zweifel an der Datensicherheit von Sozialwahlen im Netz geäußert, während andere Sachverständige die Einführung der Stimmabgabe im Netz gefordert haben.13 *** 11 Kahlert, NZS 2014, 56 (59). 12 Kahlert, NZS 2014, 56 (61). 13 https://arbeitsmarkt-und-sozialpolitik.verdi.de/ueber-uns/nachrichten/++co++9b585f88-ab01-11e4-a2ae- 525400248a66; siehe auch BT-Drs. 18/4114, S. 22, http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/18/041/1804114.pdf.