© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 127/20 Fragen zur Verfassungsmäßigkeit von Schulschließungen und dadurch bedingtes Homeschooling zwecks Infektionsschutz Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 127/20 Seite 2 Fragen zur Verfassungsmäßigkeit von Schulschließungen und dadurch bedingtes Homeschooling zwecks Infektionsschutz Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 127/20 Abschluss der Arbeit: 29. Mai 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 127/20 Seite 3 1. Einleitung und Fragestellung Zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus (SARS-CoV-2) folgten alle Bundesländer einer Empfehlung von Bund und Ländern vom 12. März 20201 und schlossen Schulen und ihre Nachmittagsbetreuung (Hort) sowie Kindertagesstätten.2 Anstelle vom regulären Präsenzunterricht in der Schule sollten und sollen Schülerinnen und Schüler zu Hause lernen; Eltern kam und kommt die Aufgabe zu, ihre Kinder dabei zu unterstützen (Homeschooling). Zunächst wurde eine Notbetreuung für jüngere Schulkinder (in Berlin bis zum Alter von 12 Jahren) angeboten, deren Elternteile beide in bestimmten, für systemrelevant befundenen Berufen arbeiteten und deren Betreuung nicht anders sichergestellt werden konnte. Der Kreis der Berechtigten wurde im April 2020 in vielen Bundesländern erweitert; insbesondere Alleinerziehende können nunmehr von der Notbetreuung in den Schulen Gebrauch machen.3 Die Aufgaben und Unterstützungsleistungen für das Homeschooling seitens der Schule waren und sind sowohl im Umfang als auch in Art und Weise stark von den einzelnen Lehrkräften abhängig und unterscheiden sich nicht nur von Schule zu Schule, sondern auch von Klasse zu Klasse. Zunehmend wurde und wird auf digitale Angebote für den Unterricht, etwa durch digitale Lernprogramme sowie Videokonferenzen gesetzt. Ende April 2020 haben Bund und Länder eine schrittweise Öffnung der Schulen beschlossen. Die Kultusministerkonferenz wurde beauftragt, ein Konzept für weitere Schritte vorzulegen, wie der Unterricht unter besonderen Hygiene- und Schutzmaßnahmen insgesamt wieder aufgenommen werden kann.4 Im Hinblick auf die Umsetzung der schrittweisen Schulöffnungen gibt es große Unterschiede zwischen den Bundesländern. In einigen Bundesländern findet bereits seit Ende April 2020 für einzelne Jahrgänge wieder eingeschränkter Präsenzunterricht statt, andere Bundesländer haben erst im Mai 2020 die Schulen wieder geöffnet. Unterschiede gibt es auch darin, in welcher Reihenfolge die Klassen wieder unterrichtet werden. Die konkrete Umsetzung, an wie vielen Tagen und mit wie vielen Stunden Präsenzunterricht stattfindet, unterscheidet sich zudem von Schule zu Schule. Diesbezüglich besteht eine Abhängigkeit von den der jeweiligen Schule zur Verfügung stehenden Ressourcen an einsatzfähigem Personal und Raumkapazitäten für verkleinerte Gruppen. Erschwerend kommt der Umstand hinzu, dass bisher in vielen Bundesländern vorerkrankte , ältere sowie schwangere Lehrkräfte pauschal vom Präsenzunterricht befreit sind. Presseberichten zufolge hat dies dazu geführt, dass an etlichen Schulen 30 bis 40 Prozent der Lehrkräfte nicht im Präsenzunterricht eingesetzt werden können. Mehrere Bundesländer haben mittlerweile angekündigt, von dieser pauschalen Regelung abzukehren und zukünftig nur solche Lehrkräfte vom 1 Vgl. Informationen der Bundesregierung zur Besprechung der Bundekanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder am 12. März 2020, abrufbar unter https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen /coronavirus/beschluss-zu-corona-1730292. 2 Bspw. für das Bundesland Berlin erfolgte die Schulschließung ursprünglich auf Grund von § 8 Abs. 1 SARS- CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung in der Fassung vom 22. März 2020. 3 Für das Bundesland Berlin siehe bspw. die Informationen der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Schule, abrufbar unter: https://www.berlin.de/sen/bjf/coronavirus/aktuelles/schrittweise-schuloeffnung/. 4 Vgl. Mitteilung der Bundesregierung, abrufbar unter: https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/bundlaender -corona-1744306. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 127/20 Seite 4 Präsenzunterricht zu befreien, deren Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe durch ärztliches Attest bestätigt wird.5 Gefragt wird nach der Verfassungsmäßigkeit der Schulschließungen und des damit verbundenen Homeschoolings unter besonderer Berücksichtigung alleinerziehender, erwerbstätiger Eltern. Dabei soll geprüft werden, ob der Staat seinem Verfassungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 Grundgesetz (GG) ausreichend nachkommt. 2. Zum Umfang des Verfassungsauftrages aus Art. 7 Abs. 1 GG Art. 7 Abs. 1 GG unterstellt das gesamte Schulwesen der Aufsicht des Staates. Nach einhelliger Ansicht enthält Art. 7 Abs. 1 GG kein Grundrecht auf Bildung, sondern stellt eine organisatorische Vorschrift dar, deren Adressat ausschließlich der Staat ist.6 Art. 7 Abs. 1 GG überträgt dem Staat einen eigenständigen Bildungs- und Erziehungsauftrag im Schulbereich.7 Die Verantwortung und Gewährleistung des Staates für Erziehung, Bildung und Schule „tritt in einen – nicht konfliktfreien – Zusammenhang mit dem „natürlichen“ Recht der Eltern (Art. 6 Abs. 2 GG), der „pädagogischen Freiheit“ der Lehrer, der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) und den staatskirchlichen Garantien der Religionsgemeinschaften (Art. 140 GG) und nicht zuletzt mit den Grundrechten der Schüler“8. Auch wenn die Reichweite des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrages im Einzelnen in diesen Spannungsverhältnissen kontrovers diskutiert wird,9 besteht kein Zweifel daran, dass dem Staat einerseits eine umfassende Ordnungs- und Gestaltungsmacht im Schulbereich zukommt und er anderseits in der Verantwortung steht, ein leistungsfähiges öffentliches Schulwesen zu schaffen und vorzuhalten.10 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat der Staat ein funktionierendes Schulsystem zu gewährleisten, das jedem Schüler entsprechend seiner Begabung eine Schulausbildung 5 Siehe hierzu bspw. den Presseartikel im Tagesspiegel vom 26. Mai 2020, abrufbar unter: https://www.tagesspiegel .de/berlin/attestpflicht-fuer-berliner-lehrer-schluss-mit-dem-pauschalen-homeoffice-fuer-schwangere-undaeltere /25862054.html sowie den Presseartikel in der Süddeutschen Zeitung vom 15. Mai 2020, abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/bildung/schulen-duesseldorf-nrw-prueft-einsatz-von-lehrern-keine-ausnahmenmehr -dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-200515-99-72791. 6 Statt vieler Uhle, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, 42. Edition, Stand: 1. Dezember 2019, Art. 7 Rn. 6. 7 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 15. Auflage 2018, Art. 7 Rn. 1; Uhle, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, 42. Edition, Stand: 1. Dezember 2019, Art. 7 Rn. 22. 8 Badura, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 89. EL Oktober 2019, Art. 7 Rn. 1. 9 Badura, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 89. EL Oktober 2019, Art. 7 Rn. 1; Thiel, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 6 Rn. 23 ff. und 35 ff. (zum Verhältnis zum Erziehungsrecht der Eltern). 10 Stern/Sachs/Dietlein, in: Stern, Staatsrecht: Die einzelnen Grundrechte Bd. IV/2, 1. Auflage 2011, § 116 IV 3. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 127/20 Seite 5 ermöglicht.11 Insbesondere hat der Staat im Rahmen seiner finanziellen und organisatorischen Möglichkeiten eine ausreichende Chancengleichheit sicherzustellen.12 Zu prüfen ist, ob der Staat diesem Auftrag noch ausreichend nachkommt, wenn er zum Zwecke des Infektionsschutzes Schulen schließt und den Präsenzunterricht durch Homeschooling ersetzt. Allgemein wird befürchtet und kritisiert, dass dieses Vorgehen zu einem massiven Rückgang der Betreuungs-, Lehr- und Lernleistungen führe und so die soziale Ungleichheit verschärfe.13 Die Fähigkeit, sich an die neuen Lernbedingungen anzupassen, hänge mehr denn je von familiären, herkunftsbedingten und finanziellen Verhältnissen ab. Beengter Wohnraum sowie fehlende technische Ausstattung, etwa um auf digitale Lernprogramme auf Online-Plattformen zugreifen oder sich Arbeitsblätter ausdrucken zu können, erschwerten das Lernen für Kinder aus einkommensschwachen Haushalten.14 Für Alleinerziehende stellt das Homeschooling häufig in ganz besonderen Maßen eine Herausforderung dar, insbesondere wenn diese erwerbstätig sind. Kinderhilfsverbände weisen darauf hin, dass schon zu „Normalzeiten“ die wenigsten Alleinerziehenden eine tragfähige Erziehungsallianz mit dem getrenntlebenden Elternteil hätten, bei dem sich beide die Aufgaben der Kinderbetreuung teilen würden. Dies würde zu Corona-Zeiten noch seltener der Fall sein.15 Aus dem Verfassungsauftrag des Art. 7 Abs. 1 GG lässt sich jedoch kein bestimmtes Vorgehen für die Bewältigung einer bisher beispiellosen Krisensituation durch die SARS-CoV-2-Pandemie herleiten. Dem Staat kommt auch hier vielmehr ein großer Gestaltungsspielraum zu, um auf die unsicheren Informationen über das Infektionsgeschehen und seinen Verlauf zu reagieren. Diesen hat der Gesetzgeber auch genutzt. Die Beschulung der Schülerinnen und Schüler wurde durch den Wegfall des Präsenzunterrichts zwar eingeschränkt, fand aber über das Homeschooling weiterhin statt. Mittlerweile findet auch für viele Jahrgänge wieder eingeschränkter Unterricht in der Schule statt, wobei allerdings noch kein regulärer Schulbetrieb absehbar ist. Aus dem Verfassungsauftrag lassen sich Maßnahmen begründen, die Benachteiligungen, die Schülerinnen und Schülern im Zusammenhang mit dem Homeschooling entstanden sind, ausgleichen und/oder die Eltern beim Homeschooling ihrer Kinder unterstützen. Das Bundesland Berlin hat bspw. angekündigt, in den Sommerferien eine Sommerschule anzubieten, mit der Lernnachteile 11 BVerfGE 138, 1 (Rn. 80). 12 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 15. Auflage 2018, Art. 7 Rn. 3 mit Rechtsprechungsnachweisen. 13 Vgl. Dritte Ad-hoc Stellungnahme: Coronavirus-Pandemie – Die Krise nachhaltig überwinden, der Arbeitsgruppe der Leopoldina Nationale Akademie der Wissenschaften vom 13. April 2020, 13, abrufbar unter: https://www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2020_04_13_Coronavirus-Pandemie-Die_Krise_nachhaltig _%C3%BCberwinden_final.pdf. 14 Ausführlich dazu siehe die Stellungnahme des Kinderhilfswerks, Kinderrechte in Zeiten von Corona wichtiger denn je!, 8, abrufbar unter: https://www.dkhw.de/fileadmin/Redaktion/1_Unsere_Arbeit/1_Schwerpunkte /2_Kinderrechte/2.3_Kinderrechte_in_Deutschland/Positionspapier_Kinderrechte_Corona.pdf. 15 Dazu Stellungnahme der Deutschen Liga für das Kind, Junge Kinder und ihre Eltern in der Corona-Zeit vom 20. April 2020, abrufbar unter: http://liga-kind.de/wordpress/wp-content/uploads/2020/04/Liga-Stellungnahme- Corona_200420_final13.pdf. Zur Situation von Alleinerziehenden siehe auch die Informationen der Diakonie, abrufbar unter: https://www.diakonie.de/journal/nachgefragt-corona-pandemie-wird-fuer-alleinerziehende-undderen -kinder-zur-belastungsprobe. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 127/20 Seite 6 ausgeglichen werden, die bei Schülerinnen und Schülern beim Lernen zuhause während der Schulschließungen entstanden sind. Primär sollen und können Schülerinnen und Schüler teilnehmen, die Lernrückstände haben und deren Eltern Sozialhilfe, Grundsicherung für Arbeitssuchende, Wohngeld, BAföG bzw. Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen oder die die spezifischen Bildungs- und Teilhabebedarfe des Kindes nicht decken können.16 Wie der Gestaltungsspielraum auszufüllen ist, ist letztlich vor allem eine politische Entscheidung. 3. Zur Vereinbarkeit mit den Grundrechten der Schülerinnen und Schüler aus Art. 2 Abs. 1 GG und ihrer Eltern aus Art. 12 Abs. 1 GG Es stellt sich die Frage, ob die Schulschließung und das damit verbundene Homeschooling mit den Grundrechten der Schülerinnen und Schüler und ihrer Eltern vereinbar sind. Durch diese Maßnahmen können verschiedene Grundrechte betroffen sein. Neben dem Recht des Kindes auf Bildung bzw. freie Entfaltung seiner Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 GG kommt eine Betroffenheit der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG der Eltern in Betracht. 3.1. Schutzbereich und Eingriffe 3.1.1. Art. 2 Abs. 1 GG Art. 2 Abs. 1 GG schützt das Recht des Kindes auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, das unter dem besonderen Schutz des Staates steht.17 In der Literatur wird vertreten, dass sich wegen des Einflusses des Verfassungsauftrags aus Art. 7 Abs. 1 GG aus Art. 2 Abs. 1 GG ein Recht des Kindes auf Bildung ergeben würde. Dieses wird als ein Anspruch auf Teilhabe an bestehenden Schulen der öffentlichen Hand verstanden.18 Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts , wonach Kinder nach Art. 2 Abs. 1 GG ein Recht auf eine möglichst ungehinderte Entfaltung ihrer Persönlichkeit auch im Bereich der Schule und damit Anspruch auf eine Entfaltung ihrer Anlagen und Befähigungen im Rahmen schulischer Ausbildung und Erziehung haben.19 Die Erfahrungen mit dem derzeitigen Homeschooling zeigen, dass das Lernen zu Hause für viele Schülerinnen und Schüler weniger effektiv als das Lernen in Schulen ist und zu einem Rückgang der Lernleistung führt. Es entstehen mit der Zeit immer größere Lücken im vorgesehenen Lernstoff , auf den weiterführende Klassenstufen aufbauen, und die immer schwerer aufzuholen sein werden. Es wird darauf hingewiesen, dass Homeschooling drei wesentliche Funktionen der Schule außer Kraft setzt, und zwar die Strukturierung des Lernens im Alltag, der das Lernen unterstützende und die gesellschaftliche Teilhabe einübende soziale Austausch mit Gleichaltrigen und Lehrkräften 16 Siehe dazu die Informationen auf https://www.berlin.de/sen/bjf/coronavirus/aktuelles/schrittweise-schuloeffnung /#sommerschule. Zu weiteren Vorschlägen siehe auch Friederich-Ebert-Stiftung, Schule in Zeiten der Pandemie Empfehlungen für die Gestaltung des Schuljahres 2020/21 vom 28. Mai 2020, abrufbar unter: http://library.fes.de/pdf-files/studienfoerderung/16228.pdf. 17 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 15. Auflage 2018, Art. 2 Rn. 30. 18 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 15. Auflage 2018, Art. 7 Rn. 1 und Art. 2 Rn. 31. 19 BVerfGE 98, 218 (257). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 127/20 Seite 7 sowie die professionelle Rückmeldung auf Lernfortschritte.20 Auch wenn alle Schülerinnen und Schüler derzeit in mehr oder weniger großem Umfang vom Homeschooling betroffen und damit Teil einer Schicksalsgemeinschaft sind, schränken sowohl die Schulschließungen als auch das begrenzte Angebot an Präsenzunterricht die Entfaltungsmöglichkeiten im schulischen Bereich ein und stellen damit einen Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG dar. 3.1.2. Art. 12 Abs. 1 GG Art. 12 Abs. 1 GG enthält ein für das Arbeits- und Wirtschaftsleben zentrales Freiheitsrecht, das dem Einzelnen die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit zur materiellen Sicherung seiner individuellen Lebensgestaltung ermöglicht.21 Für erwerbstätige Eltern bedeuten die Schulschließung und das damit verbundene Homeschooling, dass sie ihre Kinder bei der Strukturierung ihres Lernalltags unterstützen sowie die eingeschränkte oder fehlende Anleitung und Unterstützung beim Lernen und bei der Kontrolle des Lernerfolges durch die Lehrkräfte ausgleichen müssen. Homeschooling und Kinderbetreuung neben dem Beruf stellen damit eine immense Anstrengung dar. Gerade jüngere Grundschülerinnen und Grundschüler bedürfen ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, Zuwendung und Unterstützung durch die Eltern, sodass die Berufsausübung häufig nur eingeschränkt möglich ist, etwa aus dem Homeoffice (soweit die Verlagerung der Tätigkeit überhaupt möglich ist) oder durch Verlegung der Arbeitszeiten in die Schlafenszeiten der Kinder. Viele erwerbstätige Eltern sahen bzw. sehen sich gezwungen, Urlaub zu nehmen, Überstunden auszugleichen oder ihre Arbeitszeit zu reduzieren, um die Betreuung ihrer Kinder sicherzustellen.22 Fraglich ist, ob dies einen Eingriff in die Berufsfreiheit darstellt. Ein solcher setzt zunächst eine Regelung mit Berufsbezug voraus.23 Die Anordnung von Schulschließungen sowie eines nur eingeschränkten Präsenzunterrichts und nachmittäglichen Betreuungsangebots treffen aber keine unmittelbaren Regelungen für die Berufsausübung der Eltern (soweit diese nicht selbst als Lehrkräfte betroffen sind). Die Einschränkungen für die Eltern, ihren Beruf nicht wie gewohnt nachgehen zu können, sind vielmehr eine mittelbare Folge der fehlenden Betreuung durch die Schule. Auch faktische Beeinträchtigungen der beruflichen Betätigung können einen Eingriff in die Berufsfreiheit darstellen. Dies ist allgemein dann anerkannt, wenn ein enger Zusammenhang mit der Ausübung des Berufs besteht und eine objektiv berufsregelnde Tendenz erkennbar ist.24 Die hier zu prüfenden 20 Vgl. Dritte Ad-hoc Stellungnahme: Coronavirus-Pandemie – Die Krise nachhaltig überwinden, der Arbeitsgruppe der Leopoldina Nationale Akademie der Wissenschaften vom 13. April 2020, 13, abrufbar unter: https://www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2020_04_13_Coronavirus-Pandemie-Die_Krise_nachhaltig _%C3%BCberwinden_final.pdf. 21 Mann, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 12 Rn. 16. 22 Siehe dazu bspw. die Stellungnahme der Deutschen Liga für das Kind, Junge Kinder und ihre Eltern in der Corona-Zeit vom 20. April 2020, abrufbar unter: http://liga-kind.de/wordpress/wp-content/uploads /2020/04/Liga-Stellungnahme-Corona_200420_final13.pdf. 23 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 15. Auflage 2018, Art. 12 Rn. 14. 24 Mann, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 12 Rn. 95. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 127/20 Seite 8 Maßnahmen haben – wie beschrieben – massive Auswirkungen auf die Möglichkeit der Eltern, ihren Arbeitsalltag zu organisieren und in welchem Umfang sie überhaupt ihrer Tätigkeit nachkommen können. Diese Folgen stehen in einem engen Zusammenhang mit den Maßnahmen und waren absehbar . Insofern ist davon auszugehen, dass hier ein Eingriff in die Berufsfreiheit vorliegt. 3.2. Schranken Ein Eingriff in die vorgenannten Grundrechte bedarf einer gesetzlichen Grundlage, vgl. Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG. Die bisherige Rechtsprechung hat die alte Fassung des § 28 Abs. 1 IfSG als ausreichende Rechtsgrundlage für Allgemeinverfügungen zum Infektionsschutz angesehen.25 Dies gilt auch für Verordnungen nach § 32 IfSG i.V.m. § 28 Abs. 1 IfSG. Der Bundestag hat am 25. März 2020 Änderungen des Infektionsschutzgesetzes beschlossen.26 Die Änderungen des § 28 IfSG sind am Tag nach der Verkündung in Kraft getreten, mithin am 28. März 2020.27 Die Änderungen bieten weitere Anhaltspunkte dafür, dass § 28 Abs. 1 IfSG grundsätzlich eine gesetzliche Grundlage für notwendige Schutzmaßnahmen bietet.28 Im Übrigen wird im Folgenden unterstellt, dass die Rechtsgrundlagen formell ordnungsgemäß zustande gekommen sind und das Zitiergebot (Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG) einhalten. 3.3. Verhältnismäßigkeit Ein Eingriff in Grundrechte muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Dies setzt voraus, dass der Eingriff ein legitimes Ziel in geeigneter, erforderlicher und angemessener Weise verfolgt. 3.3.1. Legitimes Ziel Der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung durch die Eindämmung weiterer Infektionen mit dem hochansteckenden Coronavirus SARS-CoV-2 und insbesondere eine Verhinderung der Überlastung des Gesundheitssystems sind ein legitimes Ziel für Grundrechtseingriffe.29 25 Näher hierzu: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, WD 3 - 3000 - 086/20, Ausgangsbeschränkungen gemäß § 28 Infektionsschutzgesetz. 26 BT-Drs. 19/18111, Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite. 27 Gesetz vom 27. März 2020, Bundesgesetzblatt Teil I 2020 Nr. 14 vom 27. März 2020, S. 587. 28 Näher hierzu: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, WD 3 - 3000 - 086/20, Ausgangsbeschränkungen gemäß § 28 Infektionsschutzgesetz. 29 So auch VG Berlin, Beschluss vom 24. April 2020, 14 L 45/20, juris, Rn. 30; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 30. März 2020, 20 NE 20.632, juris, Rn. 34. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 127/20 Seite 9 3.3.2. Geeignetheit Das „Corona-Virus“ überträgt sich wohl vor allem durch soziale Kontakte. Daher sind Maßnahmen , die darauf gerichtet sind, soziale Kontakte zu verringern oder zu verhindern, geeignet, die Gesundheit der Bevölkerung und das Funktionieren des Gesundheitssystems zu schützen. Bei der Beurteilung der Geeignetheit staatlicher Maßnahmen, steht Gesetzgeber und Exekutive ein Einschätzungsspielraum zu. Bezogen auf die Geeignetheit von Schulschließungen, eingeschränktem Präsenzunterricht und einer eingeschränkten Notbetreuung kommt die Rechtsprechung bisher zu der Einschätzung, dass diese gegeben ist: „Anders als die Antragsteller […] ist die Kammer nach derzeitigem Erkenntnislage der Auffassung , dass die Schließung von Schulen und Kindertagesstätten geeignet ist, zur Erreichung dieses Ziels einer (deutlichen) Verlangsamung und Entzerrung des Infektionsgeschehens beizutragen. Die Kammer folgt im Rahmen der hier allein möglichen summarischen Prüfung insoweit der Einschätzung des fachkundigen Robert-Koch-Instituts, welches nach § 4 IfSG zentrale Aufgaben im Zusammenhang mit der Vorbeugung übertragbarer Krankheiten und der Verhinderung ihrer Weiterverbreitung zu erfüllen hat […]. Danach kommt, wie gesagt, der Reduzierung der Ansteckungsrate durch Vermeidung sozialer Kontakte entscheidende Bedeutung zu, um die Überlastung und den Zusammenbruch des Gesundheitssystems und in der Folge erhebliche Gesundheitsschäden und den Tod einer Vielzahl von Menschen zu verhindern . Hierzu trägt es danach auch bei, wenn jedenfalls vorübergehend die besonders zahlreichen und engen, gerade bei besonders jungen Kindern kaum zu kontrollierenden physischen Kontakte zu anderen Kindern so weit wie möglich unterbunden werden. Zwar erscheint die Datenlage im Moment den Schluss zu erlauben, dass jedenfalls die Symptomatik von COVID-19 bei Kindern häufig deutlich geringer ausgeprägt ist als bei Erwachsenen. Die von den Antragstellern unter Bezugnahme auf eine englischsprachige Studie vom 6. April 2020 […] aufgestellte These, dass dies zugleich bedeute, dass auch die Infektionsrate unter Kindern regelmäßig besonders niedrig sei - und damit die Möglichkeit der fortgesetzten Übertragung durch Klein- und Grundschulkinder ebenfalls sehr gering, wenn nicht sogar vernachlässigbar sei -, scheint hingegen durch die derzeit unbestritten begrenzte Datenlage nicht hinreichend belegt. Zumindest wird man hieraus angesichts entgegenstehender Ansichten in Medizin und Wissenschaft […] keine generelle Ungeeignetheit von zeitweisen Schulschließungen herleiten können. Der Umstand, dass bisher wissenschaftlich nicht im Einzelnen belegt ist, in welchem genauen Umfang Schul- und Kitaschließungen zur Verlangsamung des Infektionsgeschehens beitragen können, ändert nichts an dieser grundsätzlich anzunehmenden Geeignetheit.“30 30 VG Berlin, Beschluss vom 24. April 2020, 14 L 45/20, juris, Rn. 30; diese Einschätzung aufrechterhaltend: VG Berlin, Beschluss vom 7. Mai 2020, 3 L 167/20, juris, Rn. 30 f.; so auch Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 18. Mai 2020, 20 CS 20.1056, juris, Rn. 7. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 127/20 Seite 10 3.3.3. Erforderlichkeit Die Maßnahme müsste zudem erforderlich sein. Dies ist der Fall, wenn kein anderes Mittel verfügbar ist, das in gleicher Weise geeignet ist, den Zweck zu erreichen, aber den Betroffenen und die Allgemeinheit weniger belastet.31 Auch hier steht der Exekutive ein Einschätzungsspielraum zu. Als milderes Mittel kommt zum einen die Möglichkeit eines abgestuften Schulalltages für alle Kinder in Betracht, bei dem jedem Kind gewährt wird, einige Stunden in der Woche in die Schule kommen zu dürfen. Die Gruppengrößen wären dadurch überschaubar und Infektionsketten blieben nachverfolgbar. Dadurch würde es zu einer Entlastung aller Eltern unter gleichzeitiger Sicherstellung des Gesundheitsschutzes kommen. Alle Kinder hätten Zugang zum Lernen in der Schule. Zum anderen wäre die Durchführung von regelmäßigen Tests denkbar, um so Infektionsketten frühzeitig unterbrechen zu können. Ein solcher abgestufter Schulalltag erscheint aber erst auf der Grundlage massiv gesunkener Fallzahlen an Neuansteckungen mit dem Covid-19-Virus möglich. Zu Beginn der Krise im März 2020 lag die Zahl der täglichen Neuansteckungen um ein Vielfaches höher als dies mittlerweile der Fall ist. Zudem ist zu beachten, dass gerade im Bereich des Infektionsschutzes die Verwaltung Entscheidungen unter Zeitdruck und sich ständig wandelnden Bedingungen zu treffen hat. Ein Gebot der inneren Folgerichtigkeit kann es deswegen gerade nicht geben.32 Der weitere Verlauf der Pandemie war besonders im Anfangsstadium nicht absehbar. Infolge sinkender Fallzahlen ist die jeweils für die Schulschließung zuständige Behörde aber verpflichtet, zu prüfen, ob nicht eine stufenweise Rückkehr zum Normalbetrieb unter Wahrung des Gesundheitsschutzes möglich ist. Hierzu kommt die Rechtsprechung bei summarischer Prüfung derzeit jedoch zu folgender Einschätzung : „Ebenso wenig überzeugt die Ansicht der Antragsteller, die angeordneten Schul- und Kitaschließungen seien zur Erreichung des angestrebten Zwecks nicht erforderlich. Insoweit ist schon nicht ersichtlich, wie die von ihnen als milderes Mittel vorgeschlagene Zulassung von ‚kleinen Betreuungsgruppen mit festem Mitgliederbestand für Alleinerziehende oder beiderseits berufstätige Eltern‘ […] bei einer generellen Offenhaltung der Schulen und Kitas hätte realisiert werden können. Vielmehr entspricht dieses angeblich weniger einschneidende Mittel nach Auffassung der Kammer im Wesentlichen der derzeit (noch) geltenden Regelung zur Notbetreuung, denn auch die von den Antragstellern vorgeschlagene Umorganisation hätte eines Auswahlverfahrens nach bestimmten Kriterien bedurft.“33 31 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 15. Auflage 2018, Art. 20 Rn. 119. 32 OVG Hamburg vom 26. März 2020 – 5 Bs 48/20, Rn. 13. 33 VG Berlin, Beschluss vom 24. April 2020, 14 L 45/20, juris, Rn. 32.; so auch Berlin, Beschluss vom 7. Mai 2020, 3 L 167/20, 27 und Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 18. Mai 2020, 20 CS 20.1056, juris, Rn. 6. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 127/20 Seite 11 3.3.4. Angemessenheit Die Angemessenheit ist gewahrt, wenn der Grundrechtseingriff nicht außer Verhältnis zum verfolgten Zweck steht.34 Für die verschiedenen betroffenen Grundrechte gelten dabei entsprechend den betroffenen Rechtsgütern unterschiedliche Abwägungsmaßstäbe. Bei Eingriffen in die Berufsfreiheit gilt es insbesondere, die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Stufenlehre zu beachten .35 Diese Unterschiede können letztlich dahingestellt bleiben, da die Ausgangsbeschränkungen Leben und Gesundheit der Bevölkerung, und damit höchste Rechtsgüter36 schützen sollen. Soweit ersichtlich kommt die Rechtsprechung bisher zu der Einschätzung, dass gegenüber den bestehenden Gefahren für Leib und Leben die Beeinträchtigungen von Schülerinnen und Schülern und deren Eltern zurücktreten müssen.37 In die Abwägung wurde einbezogen, ob Angebote für Homeschooling in angemessener Art und angemessenem Umfang gewährleistet werden, was in den konkreten Fällen, die den Beschlüssen zugrunde lagen, gegeben war.38 Im Hinblick auf die Eltern wird festgestellt, dass diese „nur mittelbar und am Rande in ihrer Berufsausübung betroffen [sind], nämlich in der Freiheit, ihre Berufsausübung in zeitlicher und örtlicher Hinsicht nach ihren persönlichen Vorstellungen zu organisieren. Diese auch unter Berücksichtigung des zeitlich befristeten Charakters der Schließungsanordnungen vergleichsweise geringfügige Beeinträchtigung der Antragsteller […] erscheint angesichts des mit der SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung unstreitig bezweckten Schutzes der überragend wichtigen Rechtsgüter Leben und Gesundheit (Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG) derzeit (noch) gerechtfertigt und auch verhältnismäßig .“39 Zudem würden wirtschaftliche Folgen für die Betroffenen durch Hilfsprogramme der staatlichen Stellen abgemildert.40 In die Abwägung einbezogen wurde auch, dass die Maßnahmen zeitlich nur 34 BVerfGE 50, 217 (227); 80, 103 (107); 99, 202 (212 f.). 35 Dazu Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 15. Auflage 2018, Art. 12 Rn. 33 ff. 36 BVerfGE 39, 1 (42): „Das menschliche Leben stellt, wie nicht näher begründet werden muss, innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar; es ist die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte.“ 37 Vgl. VG Berlin, Beschlüsse vom 24. April 2020, 14 L 45/20 und vom 7. Mai 2020, 3 L 167/20, beide juris; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 18. Mai 2020, 20 CS 20.1056, juris, Rn. 7; siehe auch die Presseberichterstattung über den Beschluss des Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg vom 18. Mai 2020, Az. 1 S 1357/20, abrufbar unter https://verwaltungsgerichtshof-baden-wuerttemberg.justiz-bw.de/pb/,Lde/6304767/?LIST- PAGE=1213200; zur Berufsfreiheit siehe auch BVerfG, Beschluss vom 28. April 2020, 1 BvR 899/20, juris. 38 Ebenda. 39 VG Berlin, Beschluss vom 24. April 2020, 14 L 45/20, juris, Rn. 33. 40 Vgl. die Presseberichterstattung über den Beschluss des Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg vom 18. Mai 2020, Az. 1 S 1357/20. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 127/20 Seite 12 befristet angeordnet worden sind.41 Das Bundesverfassungsgericht hat darauf hingewiesen, dass der Staat bei Fortdauer der einschränkenden Maßnahmen eine strenge Prüfung der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen und zu untersuchen habe, ob es angesichts neuer Erkenntnisse etwa zu den Verbreitungswegen des Virus oder zur Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems verantwortet werden kann, die Einschränkungen aufzuheben oder begrenzt zu lockern.42 Je länger die Maßnahmen andauern, umso strengere Verhältnismäßigkeitsanforderungen gilt es zu berücksichtigen. 4. Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz Erörterungsbedürftig erscheint in diesem Zusammenhang darüber hinaus, ob die umfassenden Schulschließungen und das damit einhergehende Homeschooling mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar sind. 4.1. Schutzbereich Art. 3 Abs. 1 GG verbietet die Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem sowie die Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem.43 4.2. Vergleichsgruppe Zwischen zwei Sachverhalten oder Gruppen wird es immer auch Unterschiede geben, anderenfalls läge ein identischer Sachverhalt bzw. eine identische Gruppe vor; maßgeblich ist daher, welche Merkmale als im konkreten Fall wesentlich für die Vergleichbarkeit anzusehen sind.44 Ausschlaggebend für die Vergleichbarkeit der Sachverhalte ist folglich der Faktor, unter welchem der Vergleich angestellt wird.45 Von den Schulschließungen sind alle Eltern schulpflichtiger Kinder sowie die schulpflichtigen Kinder selbst betroffen. Bei der Bildung von Vergleichsgruppen kann bezogen auf die konkrete Fragestellung hinsichtlich der Bekämpfungsmaßnahmen der Covid- 19-Pandemie exemplarisch zwischen drei Sachverhalten differenziert werden: 4.2.1. Vergleichsgruppe der Eltern in systemrelevanten Berufen und nicht systemrelevanten Berufen Anfangs der Krise wurde eine Notbetreuungsmöglichkeit einzig für Kinder von Eltern aus systemrelevanten Berufen geschaffen. Alle anderen Eltern waren von den Schulschließungen und dem damit einhergehenden Homeschooling uneingeschränkt betroffen. Als Vergleichsgruppe dienen damit zum einen Eltern in systemrelevanten Berufen und Eltern in nicht systemrelevanten Berufen. 41 Zur Notwendigkeit einer Befristung siehe auch Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, WD 3 - 3000 - 079/20, Kontaktbeschränkungen zwecks Infektionsschutz: Grundrechte, 24 f. 42 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. April 2020, 1 BvQ 28/20, juris (zum Gottesdienstverbot). 43 Ständige Rechtsprechung des BVerfG, siehe bspw. BVerfGE 103, 242 (258). 44 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts für die Bundesrepublik Deutschland, 20. Auflage 1999, § 12, Rn. 432. 45 Ebenda. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 127/20 Seite 13 4.2.2. Vergleichsgruppe der alleinerziehenden Eltern und nicht alleinerziehenden Eltern Eine weitere Vergleichsgruppe bilden alleinerziehende Eltern und Eltern, die ihr Kind gemeinsam erziehen. Beide Vergleichsgruppen sind von den Schulschließungen betroffen. Mittlerweile besteht auch für alleinerziehende Eltern die Möglichkeit der Notbetreuung, die aber nicht in allen Fällen mit der Betreuung im regulären Schulbetrieb vergleichbar ist. 4.2.3. Vergleichsgruppe der Schülerinnen und Schüler, die (bereits) am Präsenzunterricht und der Notbetreuung teilnehmen können und solcher, die weiter zu Hause lernen müssen Eine weitere Vergleichsgruppe bilden Schülerinnen und Schüler, für die aufgrund der eingeschränkten Schulöffnungen wieder Präsenzunterricht stattfindet und die an der Notbetreuung teilnehmen können und solcher Schülerinnen und Schüler, die weiter zu Hause lernen müssen und für die keine Betreuung in der Schule stattfindet. 4.3. Ungleichbehandlung Maßgeblich für die Eröffnung des Schutzbereiches ist, ob es zu einer Ungleichbehandlung im Rahmen der jeweiligen Vergleichsgruppen gekommen ist. Eine Ungleichbehandlung liegt im Falle einer zwischen Personengruppen oder Sachverhalten differenzierenden Behandlung vor. Ob es zu einer Differenzierung gekommen ist, ist anhand der jeweiligen Rechtsfolgen zu beurteilen. 46 In der ersten Vergleichsgruppe (Eltern mit und ohne systemrelevanten Beruf) ist eine unmittelbare Ungleichbehandlung durch die Privilegierung der Eltern mit systemrelevanten Berufen offenkundig. Gleiches gilt für die dritte Vergleichsgruppe, in der Kinder bereits wieder in der Schule lernen können und betreut werden, gegenüber Kindern aus anderen Klassenstufen, denen die schrittweise Schulöffnung nicht zuteilwird. In der zweiten Variante (alleinerziehende und nicht alleinerziehende Eltern in nicht systemrelevanten Berufen) liegt hingegen keine unmittelbare Ungleichbehandlung vor. Die Schulschließung betrifft alle Eltern in nicht systemrelevanten Berufen gleichermaßen. Alleinerziehende Eltern sind von den Schulschließungen indes in einem ungleich höheren Ausmaße betroffen, da die Betreuung des Kindes nicht aufgeteilt werden kann. Der berufliche und private Alltag alleinerziehender Eltern ist durch die Schulschließung somit zu 100 Prozent beeinträchtigt. Bei gemeinsam erziehenden Elternteilen ist der berufliche und private Alltag je nach Aufteilung der Erziehung für zumindest ein Elternteil gar nicht oder nur zu einem geringeren Anteil als 100 Prozent tangiert. Somit tritt die Ungleichbehandlung in dieser Vergleichsgruppe erst mittelbar ein. Eine Ungleichbehandlung kann sich auch aus den praktischen Auswirkungen eines Gesetzes oder einer Rechtsverordnung ergeben.47 Nur wenn die mittelbare Diskriminierung als von Art. 3 Abs. 1 GG erfasst angesehen wird, kann der Gleichheitssatz seine volle Wirkung entfalten.48 Insoweit mittlerweile die Notbetreuung auch auf alleinerziehende Eltern ausgeweitet worden ist, fehlt es allerdings an einer Ungleichbehandlung . 46 Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK, 42. Edition, Art. 3 Rn. 15. 47 BVerfGE 49, 148, (165). 48 Wollenschläger, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Auflage 2018, Art. 3 Rn. 429. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 127/20 Seite 14 4.4. Rechtfertigung Der Staat ist unterdessen nicht verpflichtet, jeglichen Sachverhalt oder jede Personengruppe gleich zu behandeln. Eine Ungleichbehandlung kann daher gerechtfertigt werden. Nur wenn eine solche Rechtfertigung nicht gelingt, liegt ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vor. Bei der Ungleichbehandlung kommt dem Gesetzgeber ein Ermessensspielraum zu, der keiner vollständigen gerichtlichen Kontrolle hinsichtlich der Zweckmäßigkeit unterliegt.49 Im Einzelnen besteht in der Literatur und der Rechtsprechung keine Einigkeit bezüglich des exakten Prüfungsmaßstabes, der auf Rechtfertigungsebene zugrunde zu legen ist.50 Der Maßstab kann nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen.51 Die Grenzen, die sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ergeben, sind jedenfalls abhängig von dem konkreten Regelungsgegenstand – die konkret an die Rechtfertigung zu stellenden Anforderungen sind anhand der Eigenheiten des zu regelnden Sachverhalts zu bestimmen .52 Differenzierungen sind in jedem Fall nur auf der Grundlage von Sachgründen zulässig.53 Eine gesetzliche Differenzierung ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dabei umso schwieriger zu rechtfertigen, je weiter die Auswirkungen der Ungleichbehandlung auf die Freiheitsausübung sein können.54 Der der Rechtfertigungsprüfung zugrundzulegende Maßstab ist zudem umso strenger, je stärker die Differenzierungskriterien in der Person des Betroffenen liegen.55 Im Gefahrenabwehrrecht sind dabei jedenfalls besonders die Unvorhersehbarkeit sowie die Variabilität des Geschehensablaufs zu berücksichtigen.56 Im Falle der Schulschließungen bzw. des nur eingeschränkten Angebots von Präsenzunterricht und Notbetreuung sprechen die Umstände für einen strengen Maßstab an die Rechtfertigung: Die besonders von den Schulschließungen betroffenen Personen, alleinerziehende Eltern in nicht systemrelevanten Berufen, werden durch das aus der Schulschließung resultierende Homeschooling in ihren Freiheitsrechten (Art. 12 GG, siehe oben unter 3.1.2) beschnitten. Die Schülerinnen und Schüler sind in ihrem Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs.1 GG betroffen. Der Ausbruch der Corona- Pandemie stellt ein völlig unvorhersehbares Ereignis dar; die Betroffenen hatten und haben im maßgeblichen Zeitpunkt der Grundrechtseinschränkung keine Möglichkeit mehr, ihre Betroffenheit 49 BVerfGE 3, 162 (182). 50 Siehe hierzu Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK, 42. Ed., Art. 3 Rn. 24 u. 34-36; Wollenschläger, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Auflage 2018, Art. 3 Rn. 53; zu dem „gleitenden Rechtfertigungsmaßstab“ des BVerfG siehe Boysen, in: von Münch/Kunig, GG-Kommentar, 6. Auflage 2012, Art. 3 Rn. 103 f. 51 BVerfGE 117, 1 (30). 52 BVerfG vom 19. November 2019 – 2 BvL 22/14, Rn. 96 = NJW 2020, 451-458. 53 Ebenda. 54 BVerfG, vom 9. Dezember 2008 – 2 BvL 1/07 –, Rn. 56. 55 Boysen, in: von Münch/Kunig, GG-Kommentar, 6. Auflage 2012, Art. 3 Rn. 105. 56 OVG Hamburg vom 26. März 2020 – 5 Bs 48/20, Rn. 13. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 127/20 Seite 15 von der gesetzlichen Regelung zu beeinflussen. Daraus folgt, dass die Differenzierung einen legitimen Zweck verfolgen, geeignet, erforderlich und angemessen sein muss. Die Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit unter 3.3 lassen sich auf die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung übertragen. Die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte kommt auch hier im Rahmen ihrer summarischen Prüfung überwiegend zu der Einschätzung, dass die gerügten Ungleichbehandlungen gerechtfertigt sind.57 *** 57 Vgl. VG Berlin, Beschlüsse vom 24. April 2020, 14 L 45/20 und vom 7. Mai 2020, 3 L 167/20, beide juris; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 18. Mai 2020, 20 CS 20.1056, juris, Rn. 7; siehe auch die Presseberichterstattung über den Beschluss des Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg vom 18. Mai 2020, Az. 1 S 1357/20, abrufbar unter https://verwaltungsgerichtshof-baden-wuerttemberg.justiz-bw.de/pb/,Lde/6304767/?LIST- PAGE=1213200; zur Berufsfreiheit siehe auch BVerfG, Beschluss vom 28. April 2020, 1 BvR 899/20, juris; anders allerdings der Hessische Verwaltungsgerichtshof (VGH), Beschluss vom 24. April 2020, 8 B 1097/20.N, der auf Antrag einer Schülerin die Pflicht zum Schulbesuch für die in Hessen oberste Grundschulklasse vier ausgesetzt hat, da er für eine Ungleichbehandlung gegenüber den anderen Jahrgängen "keinen sachlichen Grund" gesehen hat, abrufbar unter: https://verwaltungsgerichtsbarkeit.hessen.de/pressemitteilungen/schulpflicht-z-t-au%C3%9Ferkraft -gesetzt.