© 2018 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 127/18 Ratifikation einer Änderung des Direktwahlakts Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 127/18 Seite 2 Ratifikation einer Änderung des Direktwahlakts Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 127/18 Abschluss der Arbeit: 26. April 2018 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 127/18 Seite 3 1. Einleitung und Fragestellung Das Wahlrecht zum Europäischen Parlament ist europarechtlich nur unvollständig geregelt. Neben den grundlegenden Vorschriften in Art. 14 Abs. 2, 3 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) und im Direktwahlakt (DWA)1, der lediglich einen Rahmen vorgibt, ist in jedem Mitgliedstaat das nationale Europawahlrecht maßgeblich, in Deutschland insbesondere das Europawahlgesetz (EuWG). Zu dem primärrechtlich in Art. 223 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) vorgesehenen Beschluss eines einheitlichen europäischen Wahlrechts kam es bislang nicht. Derzeit stellt Art. 3 DWA den Mitgliedstaaten die Einführung einer Sperrklausel frei: „Für die Sitzvergabe können die Mitgliedstaaten eine Mindestschwelle festlegen. Diese Schwelle darf jedoch landesweit nicht mehr als 5 % der abgegebenen Stimmen betragen.“ Von dieser Möglichkeit hatte Deutschland mit einer 5 %-Sperrklausel in § 2 Abs. 7 EuWG a.F. Gebrauch gemacht. Nachdem das Bundesverfassungsgericht diese Sperrklausel 1979 noch für verfassungskonform gehalten hatte,2 erklärte es sie im Jahr 2011 wegen eines nicht gerechtfertigten Eingriffs in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien für verfassungswidrig.3 Aus verschiedenen strukturellen Unterschieden zwischen dem Deutschen Bundestag und dem Europäischen Parlament folgerte das Gericht, dass eine national zulässige Sperrklausel auf europäischer Ebene derzeit nicht erforderlich sei, um die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu gewährleisten. Mit entsprechender Begründung erklärte das Gericht 2014 auch eine 3 %-Sperrklausel für verfassungswidrig.4 Gefragt wird nun nach der Einführung einer verbindlichen 2 %-Sperrklausel im europäischen Recht durch eine Reform des DWA. Die Ausarbeitung untersucht die Ratifikation einer solchen DWA-Änderung und geht auf den Rechtsschutz ein. 2. Verfassungskonformität der Ratifikation In der Literatur wird zumeist nur die Möglichkeit der europarechtlich verbindlichen Einführung einer Sperrklausel durch Bestimmungen über ein einheitliches Wahlrecht im Sinne des Art. 223 Abs. 1 AEUV angedeutet.5 Die Ratifikation eines solchen einheitlichen Wahlrechts unterfiele 1 Beschluss und Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments vom 20. September 1976 (BGBl. 1977 II S. 733), zuletzt geändert durch Beschluss des Rates vom 25. Juni 2002 und 23. September 2002 (BGBl. 2003 II S. 810; 2004 II S. 520). 2 BVerfGE 51, 222. 3 BVerfGE 129, 300. 4 BVerfGE 135, 259. 5 Roßner, Verfassungswidrigkeit der Fünf-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht, NVwZ 2012, 22, 25; Grzeszick, Weil nicht sein kann, was nicht sein darf: Aufhebung der 3 %-Sperrklausel im Europawahlrecht durch das BVerfG und dessen Sicht auf das Europäische Parlament, NVwZ 2014, 537, 541; Wernsmann, Verfassungsfragen der Drei- Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht, JZ 2014, 23, 28; Will, Nichtigkeit der Drei-Prozent-Sperrklausel bei Europawahlen, NJW 2014, 1421, 1424; Rathke, in: von Arnauld/Hufeld (Hrsg.), Systematischer Kommentar zu den Lissabon-Begleitgesetzen, 2. Aufl. 2018, § 7 Rn. 115; eine Änderung des DWA untersucht dagegen Heinig, Sperrklausel im Direktwahlakt: Darf der Deutsche Bundestag zustimmen?, DVBl. 2016, 1141. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 127/18 Seite 4 Art. 23 Abs. 1 Grundgesetz (GG).6 Für die Ratifikation einer Änderung des DWA gilt jedoch dasselbe : Zwar ist der DWA nicht mit einem einheitlichen Wahlrecht gleichzusetzen;7 es handelt sich um einen vom Rat einstimmig beschlossenen und von den Mitgliedstaaten ratifizierten gemischten Rechtsakt, der Teil des europäischen Primärrechts ist.8 Anders als zuletzt in der Staatspraxis, die – noch vor dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts – einen völkerrechtlichen Vertrag im Sinne des Art. 59 Abs. 2 GG annahm,9 ist von einer Übertragung von Hoheitsrechten an die Europäische Union mit Verfassungsrelevanz im Sinne des Art. 23 Abs. 1 GG auszugehen. Maßgeblich ist nicht die formale Unterscheidung zwischen einem Beschluss nach Art. 223 Abs. 1 AEUV und dem DWA, der nicht auf dieser Ermächtigung beruht. Vielmehr kommt es auf den materiellen Regelungsgehalt an. Das im DWA geregelte Wahlrecht kann sich, wie gerade das Beispiel einer verbindlichen Sperrklausel zeigt, einem einheitlichen Europawahlrecht annähern. Es ist daher integrationsverfassungsrechtlich entsprechend zu behandeln. Anders als in den Urteilen, mit denen das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit der nationalen Sperrklauseln des EuWG festgestellt hat,10 ist der Prüfungsmaßstab im Rahmen des Art. 23 Abs. 1 GG reduziert: Er beschränkt sich auf die Vereinbarkeit mit der sogenannten Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG, hier insbesondere mit den Grundsätzen des Art. 20 GG. Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit wird bei der Wahl zum Europäischen Parlament aus Art. 3 Abs. 1 GG abgeleitet, der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG.11 Zwar besteht bei beiden Grundsätzen ein Bezug zum Demokratieprinzip: Die Wahlrechtsgleichheit „sichert die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Bürger“, die Chancengleichheit der Parteien „hängt eng mit den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl zusammen, die ihre Prägung durch das Demokratieprinzip erfahren“.12 Das bedeutet jedoch nicht, dass bei der Prüfung am Demokratieprinzip nach Art. 79 Abs. 3, Art. 20 Abs. 1, 2 GG dieselben Standards anzuwenden wären wie bei der Prüfung der Art. 3 und 21 GG. Die Ewigkeitsgarantie schützt lediglich die „in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze“. Dieser dem verfassungsändernden Gesetzgeber entzogene Verfassungskern wäre wohl bei einer moderaten Sperrklausel noch nicht berührt. 6 Vgl. § 3 Abs. 2 IntVG; BVerfGE 123, 267, 387; Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 63. Lfg. 2017, Art. 223 AEUV Rn. 17. 7 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. November 2001, Az. 2 BVB 1/01, 2 BVB 2/01, 2 BVB 3/01, Rn. 20. 8 Kluth, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 223 Rn. 4; Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Recht der EU, Art. 223 AEUV Rn. 19. 9 Vgl. den Gesetzentwurf zur letzten Änderung des DWA, BT-Drs. 15/1059, S. 1, 6. 10 Vgl. zum Prüfungsmaßstab hier BVerfGE 120, 82, 102 ff.; 135, 259, 282 ff. 11 BVerfGE 129, 300, 317 ff. 12 BVerfGE 129, 300, 317, 319. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 127/18 Seite 5 3. Rechtsschutz Geeigneter Rechtsbehelf, um ein Ratifikationsgesetz dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorzulegen, wäre das Organstreitverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG), das insbesondere von einer politischen Partei angestrengt werden könnte.13 *** 13 Vgl. prozessual BVerfGE 135, 259.