© 2016 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 127/16 Ratifikation von Regelungen zum Europawahlrecht nach Art. 223 Abs. 1 AEUV Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 127/16 Seite 2 Ratifikation von Regelungen zum Europawahlrecht nach Art. 223 Abs. 1 AEUV Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 127/16 Abschluss der Arbeit: 18. April 2016 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 127/16 Seite 3 1. Einleitung Regelungen zum Europawahlrecht sind gegenwärtig im Primärrecht der Europäischen Union in Grundsatzvorschriften der Verträge (insbes. Art. 14 Abs. 2 und 3 Vertrag über die Europäische Union - EUV und Art. 223 Abs. 1 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union - AEUV) und im Direktwahlakt (Beschluss und Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments vom 20. September 1976 - DWA1) enthalten, welcher Rahmenbedingungen zur Wahl und zur Rechtsstellung der Abgeordneten des Europäischen Parlaments festsetzt. 2 Soweit der DWA keine Regelungen trifft, ist das Wahlverfahren im nationalen Recht der Mitgliedstaaten konkretisiert (vgl. Art. 8 DWA). In Deutschland finden sich entsprechende Vorschriften im Europawahlgesetz. Art. 223 Abs. 1 AEUV lautet: „Das Europäische Parlament erstellt einen Entwurf der erforderlichen Bestimmungen für die allgemeine unmittelbare Wahl seiner Mitglieder nach einem einheitlichen Verfahren in allen Mitgliedstaaten oder im Einklang mit den allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsätzen. Der Rat erlässt die erforderlichen Bestimmungen einstimmig gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments, die mit der Mehrheit seiner Mitglieder erteilt wird. Diese Bestimmungen treten nach Zustimmung der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften in Kraft.3“ Ein auf der Grundlage von Art. 223 Abs. 1 AEUV erlassenes einheitliches Wahlverfahrensrecht für die Wahl zum Europäischen Parlament existiert bislang nicht. Vielmehr gibt es allein den DWA von 1976, der nicht auf dieser Bestimmung beruht, sondern als gemischter Rechtsakt von Rat und Mitgliedstaaten erlassen und von den Mitgliedstaaten ratifiziert wurde.4 In Deutschland wurde die letzte Änderung des Direktwahlaktes von 2002 im Wege des Ratifikationsverfahrens für völkerrechtliche Verträge gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 Grundgesetz (GG) durch ein Bundesgesetz (im Typus des Einspruchsgesetzes) umgesetzt.5 Nunmehr gibt es einen Vorschlag des Europäischen Parlaments für eine Reform des Wahlrechts der Europäischen Union im Verfahren des Art. 223 Abs. 1 AEUV.6 Im Einzelnen werden die folgenden Fragen zu den Ratifikationserfordernissen im Rahmen des Art. 223 Abs. 1 2. Unterabschnitt AEUV in Bezug auf Deutschland beantwortet: 1 BGBl. 1977 II S. 733/734, zuletzt geändert durch Beschluss des Rates vom 25. Juni 2002 und 23. September 2002 (BGBl. 2003 II S. 810; 2004 II S. 520). 2 Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Bd. III, EUV, AEUV, Stand: 54. Ergänzungslieferung , Sept. 2014, Art. 223 Rn. 18. 3 Hervorhebung durch Verfasserin. 4 Kluth, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 223 AEUV Rn. 4. 5 Siehe den Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eins Zweiten Gesetzes über die Zustimmung zur Änderung des Direktwahlaktes, Bundestagsdrucksache 15/1059. 6 Siehe hierzu auch die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, Entschließung im Europäischen Parlament und Haltung der Bundesregierung im Rat, Bundestagsdrucksache 18/7201. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 127/16 Seite 4 1. Sind spezielle verfassungsrechtliche Anforderungen für das Inkrafttreten von künftigen Änderungen des Direktwahlaktes von 1976 vorgesehen? (Do all the Member States effectively foresee special constitutional requirements for the entry into force of any future modifications to the Electoral Act of 1976?) 2. Gibt es spezielle Mehrheitsanforderungen? (Is there only a vote to be taken – with specific majority requirements?) 3. Ist es erforderlich, ein Gesetz für das Inkrafttreten eines geänderten Direktwahlaktes zu verabschieden ? (Or is it necessary to pass a law to allow for the entry into force of a modified Electoral Act?) 2. Antwort Nach deutschem Verfassungsrecht bedarf das Inkrafttreten von Änderungen des Wahlverfahrens auf der Grundlage von Art. 223 Abs. 1 AEUV eines Ratifikationsgesetzes gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG (i.V.m. § 3 Abs. 1, 2 Integrationsverantwortungsgesetz -IntVG).7 Hiernach kann der Bund durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates (also im Typus des Zustimmungsgesetzes in Abgrenzung zum Einspruchsgesetz) Hoheitsrechte übertragen. Es werden alle textlichen Änderungen der EU-Verträge bzw. des primären EU-Rechts erfasst. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Lissabon-Urteil darüber hinaus klargestellt, dass zum Anwendungsbereich der Norm auch besondere Vertragsänderungen fallen und dabei ausdrücklich auch ein nach Art. 223 Abs. 1 AEUV festgelegtes einheitliches Verfahren für Wahlen zum Europäischen Parlament einer Ratifikation nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG zugeordnet.8 Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG sieht keine qualifizierten Mehrheiten vor. Es genügt ein Gesetzesbeschluss mit einfacher Mehrheit im Bundestag. Der Bundesrat muss diesem so vom Bundestag beschlossenen Gesetz zustimmen. Je nach Ausgestaltung können die in Rede stehenden Neuregelungen des Wahlverfahrens nach dem Verfahren von Art. 223 AEUV allerdings grundgesetzändernden Charakter haben; das könnte im Bereich des Wahlrechts gegeben sein, weil Regelungen z.B. die Wahlrechtsgleichheit aus Art. 38 Abs. 1 GG modifizieren. Dann bestehen nach Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG besondere Anforderungen an ein Ratifikationsgesetz: Es sind die für eine Grundgesetzänderung erforderlichen Vorgaben des Art. 79 Abs. 2 und 3 GG zu beachten. Ein solches Ratifikationsgesetz bedarf der qualifizierten verfassungsändernden Mehrheit, d.h. der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates (Art. 79 Abs. 2 GG). Inhaltlich dürfen die Änderungen nicht gegen die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG verstoßen. Eine Änderung des Grundgesetzes, durch die u. a. die in Art. 1 und 20 GG (z.B. das Demokratieprinzip) niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist danach unzulässig. Ende der Bearbeitung 7 Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Bd. III, EUV, AEUV, Stand: 54. Ergänzungslieferung ., Sept. 2014, Art. 223 Rn. 17. 8 BVerfGE 123,267, 387.