© 2021 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 125/21 Verpflichtungserklärungen zum Verbot von Versammlungen Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 125/21 Seite 2 Verpflichtungserklärungen zum Verbot von Versammlungen Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 125/21 Abschluss der Arbeit: 30. Juni 2021 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 125/21 Seite 3 1. Fragestellung Es wird gefragt, ob es verfassungswidrig ist, wenn sich Städte im Vorfeld eines Fußballturniers gegenüber dem zuständigen Fußballverband dazu verpflichten, während des Turniers in einem bestimmten Umkreis um das jeweilige Stadion herum keine Versammlungen zuzulassen. 2. Beurteilung Nach dem Gebot der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gemäß Art. 20 Abs. 3 GG ist die vollziehende Gewalt an Recht und Gesetz gebunden. Dies bezieht sich sowohl auf einfache Gesetze als auch auf das Grundgesetz.1 Aus der Bindung dürfte auch folgen, dass die Exekutive keine Verpflichtungen eingehen darf, die nur mittels eines Gesetzes- bzw. Verfassungsverstoßes erfüllbar wären. Eine Selbstverpflichtung, Versammlungen in einem bestimmten Gebiet zu verbieten, könnte gegen das Versammlungsrecht und gegen die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG verstoßen. Art. 8 Abs. 1 GG gibt allen Deutschen das Recht, „sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln“. Das Bundesverfassungsgericht betont in seiner Rechtsprechung die Bedeutung der Versammlungsfreiheit: „Namentlich in Demokratien mit parlamentarischem Repräsentativsystem und geringen plebiszitären Mitwirkungsrechten hat die Versammlungsfreiheit die Bedeutung eines grundlegenden und unentbehrlichen Funktionselementes.“2 Zur Versammlungsfreiheit gehört auch das Recht, Ort und Zeitpunkt der Versammlung zu wählen.3 Verändert die Versammlungsbehörde den Ort oder den Zeitpunkt der Versammlung in einer Weise, die erkennbar nicht vom Veranstalter gewollt war, so wird die Verlegung nicht als Auflage, sondern als Verbot eingestuft.4 Eine Allgemeinverfügung, die Versammlungen nur außerhalb eines bestimmten Gebiets erlaubt, wird von der Rechtsprechung in Bezug auf Versammlungen, die aufgrund eines thematischen Bezugs gerade innerhalb dieses Gebiets stattfinden sollen, als Versammlungsverbot eingestuft.5 Die Versammlungsfreiheit wird nicht vorbehaltlos gewährt. Versammlungen unter freiem Himmel können gemäß Art. 8 Abs. 2 GG durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden. Das Bundesverfassungsgericht betont aber, dass „Verbote und Auflösungen nur zum Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und nur bei einer unmittelbaren, aus erkennbaren Umständen herleitbaren Gefährdung dieser Rechtsgüter erfolgen“6 dürften. 1 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, 93. EL Oktober 2020, Art. 20 VI Rn. 60, 65. 2 BVerfGE 69, 315 (347). 3 Schneider, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, 47. Edition, Stand: 15. Mai 2021, Art. 8 GG Rn. 17 4 Vgl. Kniesel in : Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetze, 19. Aufl. 2019, § 15 VersG, Rn. 14. 5 OVG Hamburg, Beschluss vom 3. Juli 2017, 4 Bs 142/17, BeckRS 2017, 120673 Rn. 21 m.w.N. 6 BVerfGE 69, 315 (354). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 125/21 Seite 4 Die Rechtsgrundlage für Verbote oder Beschränkungen von Versammlungen ist, soweit die Länder nicht von ihrer Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht haben7, § 15 Abs. 1 des Versammlungsgesetzes des Bundes (VersG). Nach dieser Vorschrift kann die zuständige Behörde eine Versammlung oder einen Aufzug verbieten, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist. Der Begriff der öffentlichen Sicherheit umfasst den Schutz der Rechtsgüter des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen . Eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit wird in der Regel angenommen, wenn eine strafbare Verletzung dieser Schutzgüter droht.8 Die öffentliche Ordnung umfasst die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets angesehen wird.9 Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist eine Gefahr für die öffentliche Ordnung regelmäßig nicht ausreichend, um eine Versammlung zu verbieten.10 Versammlungsverbote kämen nur zum Schutz elementarster Rechtsgüter in Betracht.11 Ein Verbot ist daher grundsätzlich nur im Falle einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit möglich. Voraussetzung für ein Versammlungsverbot „ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts immer, dass nach den Umständen zur Zeit des Erlasses der Verfügung die öffentliche Sicherheit bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist und eine Güterabwägung unter Berücksichtigung der Bedeutung der Versammlungsfreiheit als Freiheitsrecht und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ergibt, dass ein Verbot zum Schutz anderer gleichwertiger Rechtsgüter bzw. Gemeinschaftsgüter notwendig ist“.12 Ein Versammlungsverbot ist ultima ratio und kann nur ausgesprochen werden, wenn Beschränkungen und polizeiliche Vorfeldmaßnahmen nicht genügen, um die öffentliche Sicherheit bei einer Durchführung der Versammlung zu gewährleisten.13 Nach diesen Ausführungen muss die zuständige Versammlungsbehörde für jede Versammlung jeweils im Einzelfall prüfen, ob sie unbeschränkt, unter Auflagen oder gar nicht stattfinden darf. Ein ohne Einzelfallprüfung verhängtes pauschales Versammlungsverbot an einem bestimmten Ort ist damit grundsätzlich unzulässig. 7 Den Ländern steht seit 2006 die Gesetzgebungskompetenz im Bereich des Versammlungsrechts zu. Von dieser Kompetenz haben bisher Bayern, Berlin, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein durch Erlass eines eigenen Versammlungsgesetzes Gebrauch gemacht. In den übrigen Ländern gilt gemäß Art. 125a Abs. 1 GG das Versammlungsgesetz des Bundes fort. 8 BVerfG NJW 1985, 2395 (2398). 9 BVerfG NVwZ 2008, 671 (673) m.w.N. 10 Vgl. etwa BVerfG NJW 1985, 2395 (2398). 11 BVerfG NJW 1985, 2395 (2398). 12 Dürig-Friedl, in: Dürig-Friedl/Enders, Versammlungsrecht, 2016, § 15 VersG Rn. 113. 13 Dürig-Friedl, in: Dürig-Friedl/Enders, Versammlungsrecht, 2016, § 15 VersG Rn. 112. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 125/21 Seite 5 Zwar können nach der Rechtsprechung örtlich begrenzte Versammlungsverbote, die mittels Allgemeinverfügung verhängt werden, im Einzelfall rechtmäßig sein. Dies betraf etwa ein Verbot von innerhalb einer bestimmten Zone stattfindenden Demonstrationen anlässlich des G20-Gipfels in Hamburg im Jahr 2017.14 Das Verbot war ausgesprochen worden, weil für den erfassten Bereich und Zeitpunkt eine außerordentliche Situation angenommen wurde, die ohne Beschränkung der Versammlungsfreiheit mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für die öffentliche Sicherheit führen würde. Das Gericht stellte jedoch fest, dass ein vollständiges Versammlungsverbot auch Versammlungen umfasse, von denen keine Gefahr ausgehe. Ein solches vollständiges Verbot sei nur unter den Voraussetzungen des sog. polizeilichen Notstands zulässig.15 Nach der Rechtsfigur des polizeilichen Notstands können zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung Maßnahmen gegen Personen angewandt werden, von denen die Gefahr nicht ausgeht (Nichtstörer). Dies setzt voraus, dass die erwartete Gefahr nicht auf andere Weise abgewehrt werden kann und die Verwaltungsbehörde nicht über ausreichende eigene, eventuell durch Amts- und Vollzugshilfe ergänzte, Mittel und Kräfte verfügt, um die Rechtsgüter wirksam zu schützen.16 Auch das Vorliegen eines polizeilichen Notstandes ist eine Feststellung, die im Einzelfall getroffen werden muss. Nach alldem ist ein pauschales Versammlungsverbot innerhalb eines bestimmten Gebiets, das ohne Prüfung der konkreten Situation im Einzelfall angeordnet wird, versammlungsrechtlich und verfassungsrechtlich unzulässig. Eine Selbstverpflichtung, die auf ein solches Verbot gerichtet ist, dürfte aufgrund des Gebots der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung verfassungswidrig sein. *** 14 OVG Hamburg, Beschluss vom 3. Juli 2017, 4 Bs 142/17, BeckRS 2017, 120673. 15 OVG Hamburg, Beschluss vom 3. Juli 2017, 4 Bs 142/17, BeckRS 2017, 120673 Rn. 80; vgl. auch BVerfGE 69, 315 (360 f.). 16 BVerwG, Beschluss vom 1. Oktober 2008, 6 B 53/08, BeckRS 2008, 40520 Rn. 5.