© 2017 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 125/17 Der sogenannte „Radikalenerlass“ in der deutschen und europäischen Rechtsprechung Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Januar 1972 beschlossen die Ministerpräsidenten der Länder in einer Besprechung mit Bundeskanzler Brandt auf Vorschlag der Innenministerkonferenz einen gemeinsamen Runderlass unter dem Titel „Beschäftigung von rechts- und linksradikalen Personen im öffentlichen Dienst“.1 Mit diesem sogenannten „Radikalenerlass“ sollte insbesondere die einheitliche Handhabung beamtenrechtlicher Vorschriften zur Verfassungstreue von Beamten und Bewerbern erreicht werden. Der Erlass galt entsprechend für Angestellte im öffentlichen Dienst. Er betonte den zwingenden Charakter der Vorschriften; jeder Einzelfall müsse geprüft und entschieden werden. Hierfür wurden Grundsätze formuliert: Nach Ziff. 2.1.2 rechtfertigt bereits die Mitgliedschaft eines Bewerbers in einer Organisation, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, in der Regel die Ablehnung des Einstellungsantrags. Nach Ziff. 2.2 kann auch ein Beamter sowohl durch Handlungen als auch durch die Mitgliedschaft in einer Organisation seine Dienstpflicht verletzen. Der Dienstherr hat dann zu prüfen, ob eine Entfernung aus dem Dienst anzustreben ist. Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen sind die Vorschriften der jeweils einschlägigen Gesetze. So bestimmte etwa § 35 Abs. 1 S. 3 des Beamtenrechtsrahmengesetzes: „(Der Beamte) muss sich durch sein gesamtes Verhalten zu der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekennen und für deren Erhaltung eintreten.“ Die identische Formulierung findet sich heute für Landesbeamte in § 33 Abs. 1 S. 3 des Beamtenstatusgesetzes und in den Beamtengesetzen der Länder sowie für Bundesbeamte in § 60 Abs. 1 S. 3 des Bundesbeamtengesetzes (BBG). Bei der Auslegung dieser Normen geht die Rechtsprechung auf den Radikalenerlass als Verwaltungsvorschrift allenfalls am Rande ein. 2. Der Extremistenbeschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1975 In seinem sogenannten Extremistenbeschluss2 hatte das Bundesverfassungsgericht 1975 über die Verfassungsmäßigkeit von § 9 Abs. 1 Nr. 2 des Schleswig-Holsteinischen Landesbeamtengesetzes zu entscheiden, wonach in das Beamtenverhältnis nur berufen werden durfte, wer „die Gewähr dafür bietet, daß er jederzeit für die freiheitlich demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt“. Die Norm wurde dem Gericht im Wege der konkreten Normenkontrolle vorgelegt. Der Kläger des Ausgangsverfahrens war geprüfter Rechtskandidat. Er hatte während seines Studiums unter anderem an Veranstaltungen der „Roten Zelle Jura“ teilgenommen und war deshalb nicht als Beamter auf Widerruf in den Vorbereitungsdienst aufgenommen worden. In seiner im Ergebnis einstimmigen Entscheidung hielt das Bundesverfassungsgericht die vorgelegte Norm für verfassungskonform. Das Gericht leitet einen hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums im Sinne des Art. 33 Abs. 5 des Grundgesetzes (GG) her. Kern der allgemeinen Treuepflicht des Beamten sei eine politische Treuepflicht. Von einem Beamten sei zu fordern, dass er für die Verfassungsordnung, auf die er vereidigt wurde, eintrete. „Unverzichtbar ist aber, daß der Beamte den Staat - ungeachtet seiner Mängel - und die geltende verfassungsrechtliche 1 Zit. nach Ministerialblatt für das Land Nordrhein-Westfalen 1972, S. 342, abrufbar unter https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_mbl_show_pdf?p_jahr=1972&p_nr=20, zuletzt abgerufen am 6. Juli 2017; im Bulletin der Bundesregierung 1972, S. 142, wird der Inhalt des Erlasses lediglich zusammenfassend referiert. 2 BVerfGE 39, 334. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 125/17 Seite 4 Ordnung, so wie sie in Kraft steht, bejaht, sie als schützenswert anerkennt, in diesem Sinne sich zu ihnen bekennt und aktiv für sie eintritt. (…) Die politische Treuepflicht – Staats- und Verfassungstreue – fordert mehr als nur eine formale korrekte, im übrigen uninteressierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung gegenüber Staat und Verfassung; sie fordert vom Beamten insbesondere, daß er sich eindeutig von Gruppen und Bestrebungen distanziert, die diesen Staat, seine verfassungsmäßigen Organe und die geltende Verfassungsordnung angreifen, bekämpfen und diffamieren.“3 Dies gelte für jedes Beamtenverhältnis; eine Differenzierung nach der jeweiligen dienstlichen Tätigkeit komme nicht in Betracht.4 Einem Bewerber, der keine Gewähr für die Erfüllung dieser Treuepflicht biete, fehle die persönliche Eignung nach Art. 33 Abs. 2 GG.5 Die von Art. 33 GG gedeckten beamtenrechtlichen Vorschriften seien auch mit dem Grundrecht der Meinungsfreiheit vereinbar.6 Im Rahmen eines geschichtlichen Aufrisses zum Verhältnis von Treuepflicht und Meinungsfreiheit des Beamten zitiert das Bundesverfassungsgericht unter anderem den Radikalenerlass.7 Wenige Jahre nach dem Strafgefangenenbeschluss8 wird die Grundrechtsträgerschaft von Beamten zwar angenommen. Jedoch sei jedes Verhalten eines Beamten, „das als politische Meinungsäußerung gewertet werden kann, (…) nur dann verfassungsrechtlich durch Art. 5 GG gedeckt, wenn es nicht unvereinbar ist mit der in Art. 33 Abs. 5 GG geforderten politischen Treuepflicht“.9 Die entsprechenden beamtenrechtlichen Vorschriften seien allgemeine Gesetze im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG. In einem obiter dictum äußert sich das Bundesverfassungsgericht auch zu Angestellten im öffentlichen Dienst. Auch sie seien ihrem Dienstherrn Loyalität schuldig. Zwar seien an sie weniger hohe Anforderungen zu stellen als an Beamte. Bei grober Verletzung ihrer Dienstpflichten könnten aber auch sie fristlos entlassen werden. Wenn damit zu rechnen sei, dass ein Bewerber seine Pflichten nicht erfüllen werde, könne seine Einstellung abgelehnt werden.10 Die Entscheidung wurde und wird bis heute aus unterschiedlichen Gründen kritisiert. Neben der „gefühlvoll-pathetischen Diktion“ und zahlreichen obiter dicta wurden dem Senat unter anderem 3 BVerfGE 39, 334, 348. 4 BVerfGE 39, 334, 355. 5 BVerfGE 39, 334, 351 f. 6 BVerfGE 39, 334, 360 ff. 7 BVerfGE 39, 334, 366, zitiert allerdings nur aus der Zusammenfassung im Bulletin der Bundesregierung, vgl. Fn. 1. 8 BVerfGE 33, 1. 9 BVerfGE 39, 334, 367. 10 BVerfGE 39, 334, 355. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 125/17 Seite 5 „Gesinnungsschnüffelei“ und die Schaffung von Rechtsunsicherheit vorgeworfen, wo es einer „friedensstiftenden höchstrichterlichen Entscheidung“ bedurft hätte.11 3. Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist exemplarisch ein Urteil aus dem Jahr 1981 zu nennen.12 Mit dem Urteil folgte der 1. Disziplinarsenat des Bundesverwaltungsgerichts der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung. Der Senat zitiert ausführlich aus dem Extremistenbeschluss und erläutert, warum und in welchem Umfang er an die Entscheidung gebunden sei. Bei der Subsumtion unter § 52 Abs. 2 BBG stellt das Gericht wesentlich darauf ab, dass der im Disziplinarverfahren angeschuldigte Beamte, Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), „sich nicht nur nicht distanziert von den Zielen einer Partei, die die freiheitliche demokratische Grundordnung angreift, bekämpft und diffamiert; er hat sich im Gegenteil aktiv in ihr betätigt und angekündigt, daß er dies auf jeden Fall auch weiterhin tun werde.“13 Der Senat untersucht ausführlich Ziele und Ansichten der DKP, sodann einzelne Betätigungen des Beamten, darunter Reisen in die DDR und einzelne Äußerungen. Er geht von einem Dienstvergehen des Beamten aus. Dieser habe seit dem verfassungsgerichtlichen Urteil von der rechtlichen Bewertung seines Verhaltens gewusst; seitdem habe er auch nicht mehr schuldbefreiend auf das Parteienprivileg vertrauen dürfen.14 Der Beamte sei daher aus dem Dienst zu entfernen. „Wenn ein Beamter die politische Treuepflicht beharrlich verletzt, so wird er für den Staat, der sich auf die Verfassungstreue seiner Beamten verlassen muß, untragbar“.15 4. Das Urteil des EGMR in Sachen Vogt ./. Deutschland von 1993 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte 1993 im Fall Vogt ./. Deutschland über die Entlassung einer Beamtin zu entscheiden, die zunächst als Studienrätin zur Beamtin auf Lebenszeit ernannt worden, dann aber 1986 wegen ihrer Mitgliedschaft in der DKP und ihrer Betätigung für die Partei aus dem Dienst entfernt worden war.16 Im Tatbestand zitiert der EGMR auch aus dem Radikalenerlass. Mit einer knappen Mehrheit von zehn zu neun Stimmen nahm der Gerichtshof eine Verletzung der Meinungsfreiheit und der Vereinigungsfreiheit nach Art. 10 und 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) an. 11 Vgl. nur Spranger, BVerfGE 39, 334 – Extremisten, in: Menzel/Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung , 2. Aufl. 2011, S. 276, 277 ff. m. zahlreichen w.N. 12 BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 1981, Az. 1 D 50/80, Juris = BVerwGE 73, 263; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 10. Mai 1984, Az. 1 D 7/83, Juris = BVerwGE 76, 157. 13 BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 1981, Rn. 30. 14 BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 1981, Rn. 57. 15 BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 1981, Rn. 59. 16 EGMR, Urteil vom 26. September 1995, Az. 17851/91 = NJW 1996, 375 (inoffizielle deutsche Übersetzung). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 125/17 Seite 6 Der Gerichtshof geht zunächst von einem Eingriff in das Recht der Meinungsfreiheit aus, das auch Beamten zukomme. Dieser Eingriff sei nicht gerechtfertigt gewesen. Der Eingriff sei zwar gesetzlich vorgeschrieben gewesen, wie es Art. 10 EMRK verlange. Auch habe die Bundesrepublik Deutschland mit der Einschränkung der freien Meinungsäußerung ein legitimes Ziel verfolgt: Nach den Erfahrungen der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus komme dem Konzept der wehrhaften Demokratie des Grundgesetzes besondere Bedeutung zu.17 Der Eingriff sei jedoch nicht „unentbehrlich in einer demokratischen Gesellschaft“, sondern unverhältnismäßig. Im Rahmen seiner Abwägung zieht der Gerichtshof erneut den historischen Hintergrund der deutschen Vorschriften heran. Außerdem sei der politische Kontext zur Zeit der Entscheidung zu beachten, nämlich die deutsche Teilung und die Beziehungen der KPD zu den kommunistischen Parteien der DDR und der Sowjetunion.18 Der politischen Treuepflicht des Beamten komme daher besonderes Gewicht zu. Auffallend sei jedoch die Absolutheit, mit der die deutschen Gerichte diese Pflicht auslegten. Es werde nicht zwischen Dienst und Privatleben unterschieden. Frau Vogt habe weder ihre Schüler indoktriniert, noch sei überhaupt festgestellt worden, dass sie sich konkret verfassungsfeindlich geäußert habe. Dagegen seien die Konsequenzen einer Entfernung aus dem Dienst besonders schwerwiegend, nicht nur für den Ruf und den Lebensunterhalt des Betroffenen, sondern weil es gerade für Gymnasiallehrer außerhalb des öffentlichen Dienstes kaum Stellen gebe.19 Schließlich sei zu beachten, dass die DKP vom Bundesverfassungsgericht nicht verboten worden sei. Bei der Prüfung einer Verletzung der Vereinigungsfreiheit (Art. 11 EMRK) verweist der Gerichtshof im Wesentlichen auf die Ausführungen zur Meinungsfreiheit. *** 17 EGMR, NJW 1996, 375, 376. 18 EGMR, NJW 1996, 375, 377. 19 EGMR, NJW 1996, 375, 377 f.