© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 123/20 Fragen zur Einführung einer Immunitätsdokumentation Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 123/20 Seite 2 Fragen zur Einführung einer Immunitätsdokumentation Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 123/20 Abschluss der Arbeit: 5. Juni 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 123/20 Seite 3 1. Einleitung und Fragestellung Die Formulierungshilfe für den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite (nachfolgend: Formulierungshilfe)1 sah die Einführung einer Immunitätsdokumentation vor: Die bisherige Dokumentation über die Vornahme von Schutzimpfungen sollte um ein ärztlich ausgestelltes Dokument ergänzt werden, dass die Immunität bezüglich einer übertragbaren Krankheit nachweist, vgl. Art. 1 Nr. 15 der Formulierungshilfe . Gemäß Art. 1 Nr. 19 Formulierungshilfe sollte § 28 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) um folgende Bestimmung ergänzt werden: „Bei der Anordnung und Durchführung von Schutzmaßnahmen nach den Sätzen 1 und 2 ist in angemessener Weise zu berücksichtigen, ob und inwieweit eine Person, die eine bestimmte übertragbare Krankheit, derentwegen die Schutzmaßnahmen getroffen werden, nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft nicht oder nicht mehr übertragen kann, von der Maßnahme ganz oder teilweise ausgenommen werden kann, ohne dass der Schutzzweck der Maßnahme gefährdet wird. Soweit entsprechende Ausnahmen vorgesehen oder individualbezogene Maßnahmen mit Blick auf eine Immunisierung nicht angeordnet werden, ist die dem Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechende Immunität durch die betroffene Person durch eine Immunitätsdokumentation nach § 22 Absatz 5 nachzuweisen.“ Die vorgeschlagenen Änderungen wurden nicht in den endgültigen Gesetzentwurf aufgenommen.2 Presseberichten zufolge verfolgt das Bundesgesundheitsministerium die Idee einer Immunitätsdokumentation weiter und hat den Deutschen Ethikrat um eine Stellungnahme gebeten.3 Vor diesem Hintergrund wird gefragt, ob die Einführung einer Immunitätsdokumentation und daran anknüpfender Ausnahmen von allgemein angeordneten Maßnahmen zum Infektionsschutz verfassungsrechtlich zulässig bzw. verfassungsrechtlich geboten ist. Die Fragen der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit soll zudem im Hinblick auf eine auf dem jeweiligen Infektionsaufkommen basierende unterschiedliche Behandlung von Menschen, die in verschiedenen Regionen leben, betrachtet werden. Weiter wird gefragt, ob Deutschland entsprechende Ausnahmeregelungen bzw. Erfordernisse einer Immunitätsdokumentation für den Zugang zu Lockerungen auf europäischer Ebene bilateral mit anderen Ländern vereinbaren darf bzw. auf europäischer Ebene mittragen könnte. Schließlich wird um Prüfung gebeten, ob eine Immunitätsdokumentation mit dem Datenschutzrecht vereinbar ist. 1 Formulierungshilfe für die Fraktionen der CDU/CSU und SPD für einen aus der Mitte des Deutschen Bundestages einzubringenden Entwurf eines Zweiten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 25. April 2020. 2 Vgl. Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Entwurf eines Zweiten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite, BT-Drs. 19/18967 vom 5. Mai 2020. 3 Siehe bspw. den Artikel Spahn gibt Immunitätspass noch nicht auf, Süddeutsche Zeitung vom 15. Mai 2020. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 123/20 Seite 4 2. Zur Einführung einer Immunitätsdokumentation 2.1. Eingriff in Freiheitsgrundrechte? Die Überlegungen zur Einführung einer Immunitätsdokumentation zielen darauf ab, Menschen, von denen aufgrund ihres Immunitätsstatus keine Ansteckungsgefahr (mehr) ausgeht, von allgemeinen Beschränkungen auszunehmen, die zum Zweck des Infektionsschutzes angeordnet werden. Die Inhaber einer Immunitätsdokumentation könnten dann von Lockerungen profitieren, die gerade keine Eingriffe in ihre Freiheitsrechte darstellen. 2.1.1. Informationelles Selbstbestimmungsrecht, Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG Durch die Einführung einer Immunitätsdokumentation könnte allerdings das aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) hergeleitete Recht auf informationelle Selbstbestimmung betroffen sein. Dieses gewährleistet dem Einzelnen, „die Befugnis grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden“4. Die Information über eine vorhandene Immunität gegenüber dem Coronavirus (SARS-CoV-2) fällt unter die geschützten persönlichen Daten. Eine gesetzliche Verpflichtung, seinen Immunitätsstatus mittels einer Dokumentation nachweisen zu müssen, würde einen Eingriff darstellen. Soweit die Ausstellung bzw. das Vorzeigen einer Immunitätsdokumentation aber auf Freiwilligkeit des Betroffenen beruht, so wie es derzeit in der Diskussion steht, ist ein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung fraglich. Ein solcher käme allenfalls in Betracht, wenn ein sogenanntes „Nudging“ durch staatliche Maßnahmen vorliegen würde. 2.1.2. Eingriff durch Nudging? „Nudging“ bedeutet übersetzt „Anstoßen“ oder „Schubsen“; zur Erreichung eines erwünschten Verhaltens zielt es (offen oder verdeckt) auf das Unterbewusstsein des Menschen, indem es für entsprechende Verhaltensweisen bspw. Vorteile in Aussicht stellt.5 Staatliches „Nudging“ zielt damit auf die Beeinflussung eher unterbewusster Entscheidungen der Bürger, die sich gerade in Situationen befinden, in welchen sie keine bewusst reflektierte Entscheidung treffen.6 Eine exakte rechtliche Einordnung von staatlichem „Nudging“ vermag nicht trennscharf zu gelingen – es stellt keine eigenständige Rechtsform dar, aber auch keine Ge- oder Verbotsnorm. In der Literatur wird vertreten, dass eine solche staatliche Beeinflussung über einen bloßen informatorischen Charakter hinaus gehe und damit denselben Voraussetzungen wie das übrige staatliche Handeln unterliege 4 BVerfGE 103, 21 (33). 5 Hufen, in: JuS 2020, 193. 6 Seckelmann/Lamping, in: DÖV 2016, 189 (190 f.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 123/20 Seite 5 und im Falle der Betroffenheit von Grundrechten einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bedarf .7 Es wird betont, dass sich staatliches „Nudging“ nicht im rechtsfreien Raum bewegt.8 Fraglich ist, ob es sich vorliegend um ein zu rechtfertigendes „Nudging“ handelt. Dafür spricht, dass der Betroffene durch die positiven Anreize (unbeschränktere Ausübungsmöglichkeit von Freiheitsrechten) zur Preisgabe personenbezogener Daten verleitet wird. Ein Eingriff durch staatliches „Nudging“ in das informationelle Selbstbestimmungsrecht kann auch in Bezug auf bewusste Entscheidungen vorliegen, bei denen die Wahlfreiheit aufgrund des „mit einem abweichenden Verhalten verbundenen sozialen, kognitiven oder wirtschaftlichen Aufwands hypothetisch bleibt“9. Je nach Ausgestaltung der Regelung zur Immunitätsdokumentation ist ein Eingriff durch „Nudging“ daher denkbar. So erscheint die Entscheidungsfreiheit in Bezug auf die Preisgabe der eigenen Gesundheitsdaten bspw. dann als rein hypothetisch, wenn die Ausübung des Berufes von einer entsprechenden Immunitätsdokumentation abhängig gemacht würde. 2.1.3. Rechtfertigung Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist nicht schrankenlos gewährleistet.10 Der Staat ist gerade auch im Bereich der Gefahrenabwehr vielfach darauf angewiesen, auf Informationen zurückzugreifen, die ihm einen effektiven Schutz der Bürger ermöglichen.11 Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bedürfen einer gesetzlichen Grundlage und müssen dem Verhältnismäßigkeitsprinzip genügen.12 Eine gesetzliche Regelung, die auf der Grundlage einer Immunitätsdokumentation zur Preisgabe gesundheitlicher Informationen zwingt und/oder als Bedingung für die Aufhebung von Grundrechtsbeschränkungen auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes dient, müsste einen legitimen Zweck verfolgen. Zur Erreichung dieses Zweckes müsste die gesetzliche Regelung erforderlich, geeignet und angemessen sein. Die Anforderungen an den mit dem Gesetz verfolgten legitimen Zweck sind desto höher, je sensibler die zugrundliegenden Daten sind und je weitreichender auf diese zugegriffen werden soll.13 Während Eingriffe in den „absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung“ niemals zu rechtfertigen sind, können staatliche Maßnahmen, die zwar das Persönlichkeitsrecht tangieren, aber eben nicht in den Kernbereich fallen, mit Belangen gerechtfertigt werden, die im überwiegenden Allgemeininteresse liegen.14 7 Hufen, in: JuS 2020, 193 (196 f.). 8 Seckelmann/Lamping, in: DÖV 2016, 189 (190 u. 194); Holle, ZLR 2016, 596 (600). 9 Holle, ZLR 2016, 596 (610 f.). 10 BVerfGE 78, 77 (85). 11 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Kommentar, 89. EL, Oktober 2019, Art. 2 Abs. 1 Rn. 179. 12 BVerfGE 65, 1 (44). 13 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Kommentar, 89. EL, Oktober 2019, Art. 2 Abs. 1 Rn. 181. 14 BVerfGE 84, 239 (279 f.); BVerfGE 34, 238 (245 f.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 123/20 Seite 6 Für die Immunitätsdokumentation wird angeführt, dass es mittels dieser möglich wird, die Weiterverbreitung der Infektionen gezielt zu verhindern und dabei die Einschränkung von Freiheitsrechten zu minimieren bzw. auf das notwendige Maß zu reduzieren. Die Zielsetzung umfasst damit die hohen Schutzgüter der Gesundheit aber auch der Freiheitsrechte, sodass von einem überwiegenden Allgemeininteresse auszugehen ist. An der Geeignetheit einer Immunitätsdokumentation bestehen nach derzeitigem Stand in der Wissenschaft Zweifel. Zwar wäre eine Dokumentation der Immunität grundsätzlich der Zielsetzung, unter Wahrung des bestmöglichen Gesundheitsschutzes gezielte Ausnahmen von den infektionsschutzrechtlichen Freiheitsbeschränkungen vornehmen zu können, förderlich. Bislang liegen aber keine wissenschaftlich gesicherten Testverfahren vor, die die Immunität valide nachweisen können .15 Zudem fehlt es an gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen, wie lange eine Immunität tatsächlich anhält und ob immune Menschen nicht dennoch ansteckungsfähig sind.16 Die Weltgesundheitsorganisation hat daher Ende April Regierungen davon abgeraten, Immunitätsnachweise auszustellen, da es aktuell keinen Beweis dafür geben würde, dass Menschen, die sich von Covid- 19 erholt haben und die Antikörper aufweisen, vor einer zweiten Infektion geschützt sind.17 Das Erfordernis einer Immunitätsdokumentation als Voraussetzung für Ausnahmen von grundrechtseinschränkenden Maßnahmen nach dem Infektionsschutzgesetz müsste auch erforderlich sein; d.h. es dürfte kein milderes Mittel ersichtlich sein, mit welchem sich der Zweck ebenso verlässlich erreichen ließe.18 Im Grundsatz gilt, dass eine anonyme Datenerfassung das Recht auf informationelle Selbstbestimmung in geringerem Maße berührt als eine individualisierte Datenerfassung . Mit einer rein anonymisierten Datenerfassung ließe sich aber der Zweck, Lockerungen gezielt für solche Menschen vorsehen zu können, bei denen eine Immunität festgestellt wurde, nicht erreichen. Andere mildere Mittel sind nicht erkennbar.19 Die entsprechende gesetzliche Regelung zu einem Nachweis der Immunität müsste insbesondere auch angemessen sein. Die Schwere des Eingriffs dürfte nicht außer Verhältnis zu den einen Eingriff rechtfertigenden Gründen stehen.20 Aus zwei Gründen ist die Schwere des Eingriffs im Falle der Einführung einer Immunitätsdokumentation als hoch zu bewerten. Erstens handelt es sich bei gesundheitsbezogenen Daten um hochsensible und damit besonders schutzbedürftige Informationen 15 Vgl. VG München, Beschluss vom 28. April 2020 – M 26 E 20.1593, juris. 16 Siehe dazu das Interview mit dem Mitglied des Deutschen Ethikrats Andreas Lob-Hüdepohl vom 28. Mai 2020, abrufbar unter: https://www.domradio.de/themen/corona/2020-05-28/furchtbar-zynische-anreizstruktur-ethikrat -mitglied-zur-debatte-um-den-immunitaetsausweis. 17 Siehe dazu die Berichterstattung in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. April 2020, abrufbar unter: https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/who-kein-beweis-fuer-immunitaet-nachcoronavirus -infektion-16741756.html. 18 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 15. Auflage 2018, Art. 20 Rn. 119. 19 Zur Erforderlichkeit von Ungleichbehandlungen auf Grundlage der Immunitätsdokumentation siehe 2.2.4.3. 20 BVerfGE 78, 77 (85). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 123/20 Seite 7 des Bürgers. Zweitens werden die Daten in einer Immunitätsdokumentation zwingend individualisiert gespeichert und lassen sich einer konkreten Person zuordnen. Demgegenüber stehen mit dem Lebens- und Gesundheitsschutz der Bevölkerung hohe Rechtsgüter. Zudem soll auf Grundlage der Immunitätsdokumentation überdies eine gezielte Aufhebung der Einschränkungen von Freiheitsrechten erreicht werden. Mithin bleibt festzuhalten, dass der Eingriff in das Informationelle Selbstbestimmungsrecht zwar schwer wiegt, in Bezug auf die Covid-19-Pandemie nach derzeitigem Stand grundsätzlich aber keinen unverhältnismäßigen Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung darstellen dürfte. Hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung einer Regelung zur Immunitätsdokumentation hat der Gesetzgeber unterdessen weitere Aspekte zu beachten. Die Schwere des Eingriffs ist anhand der Tragweite der gesetzlichen Regelung zur Verwendung der Daten der Bürger zu bestimmen.21 „Entscheidend sind ihre Nutzbarkeit und Verwendungsmöglichkeit. Diese hängen einerseits von dem Zweck, dem die Erhebung dient, und andererseits von den der Informationstechnologie eigenen Verarbeitungs- und Verknüpfungsmöglichkeiten ab.“22 Insoweit ist auch die konkrete technische Ausgestaltung einer Immunitätsdokumentation für eine angemessene Regelung relevant. Jedenfalls, so das Bundesverfassungsgericht, muss der Gesetzgeber aufgrund der „Gefährdungen durch die Nutzung der automatischen Datenverarbeitung […] mehr als früher auch organisatorische und verfahrensrechtliche Vorkehrungen […] treffen, welche der Gefahr einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts entgegenwirken“23. Im Falle individualisierter Daten können auch Regelungen für die Löschung der erhobenen Daten notwendig sein.24 Die Umstände, dass eine Immunität mangels Impfstoff derzeit wohl nur aufgrund einer Erkrankung erlangt werden kann und dass über die Spätfolgen einer Covid-19-Erkrankung noch keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen , könnte dafür sprechen, dass eine Löschoption vorgesehen werden sollte, um unabsehbare Nachteile einer dauerhaft dokumentierten Covid-19-Erkrankung entgegen zu wirken. 2.2. Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG? Die Einführung einer Immunitätsdokumentation könnte weiter gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen. 2.2.1. Schutzbereich Art. 3 Abs. 1 GG verbietet die Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem sowie die Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem.25 21 BVerfGE 65, 1 (44). 22 BVerfGE 65, 1 (45). 23 BVerfGE 65, 1 (44). 24 Vgl. BVerfGE 65, 1 (49). 25 Ständige Rechtsprechung des BVerfG, siehe bspw. BVerfGE 103, 242 (258). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 123/20 Seite 8 2.2.2. Vergleichsgruppen Um eine Ungleichbehandlung feststellen zu können, sind zunächst die relevanten Vergleichsgruppen zu bestimmen. Zwischen zwei Sachverhalten oder Gruppen wird es immer auch Unterschiede geben, anderenfalls läge ein identischer Sachverhalt bzw. eine identische Gruppe vor; maßgeblich ist daher , welche Merkmale als im konkreten Fall wesentlich für die Vergleichbarkeit anzusehen sind.26 Ausschlaggebend für die Vergleichbarkeit der Sachverhalte ist folglich der Faktor, unter welchem der Vergleich angestellt wird.27 Im Hinblick auf die hier zugrunde liegende Fragestellung sind eine Vielzahl von Vergleichsgruppen denkbar, die an den jeweiligen angeordneten Maßnahme nach dem Infektionsschutzgesetz anknüpfen, wie bspw. Betätigungsverbote bzw. arbeitsrechtliche Einschränkungen , Reisebeschränkungen, Verbote von Großveranstaltungen oder bestimmte Schutzmaßnahmen bspw. das Tragen eines Mundschutzes, Abstandsgebote etc. Als Vergleichsgruppen können dann Arbeitnehmer bzw. Selbständige, Reisende oder Veranstaltungsbesucher jeweils mit bzw. ohne Immunitätsdokumentation gebildet werden. 2.2.3. Ungleichbehandlung Maßgeblich für die Eröffnung des Schutzbereiches ist, ob es zu einer Ungleichbehandlung im Rahmen der jeweiligen Vergleichsgruppen gekommen ist. Eine Ungleichbehandlung liegt im Falle einer zwischen Personengruppen oder Sachverhalten differenzierenden Behandlung vor. Ob es zu einer Differenzierung gekommen ist, ist anhand der jeweiligen Rechtsfolgen zu beurteilen. 28 Eine Ungleichbehandlung liegt vor, wenn die angeordnete Maßnahme (bspw. die Reisebeschränkung ) für die Gruppe der Menschen ohne Immunitätsdokumentation gilt, die Gruppe der Inhaber der Immunitätsdokumentation dagegen von der Maßnahme befreit wird und ihren Freiheitsrechten (bspw. eine Reise innerhalb oder außerhalb des Bundesgebietes) uneingeschränkt nachgehen kann. Mit Blick auf den oben genannten Vorschlag in der Formulierungshilfe ist zu ergänzen, dass dieser an das Vorliegen einer Immunitätsdokumentation keine konkrete Rechtsfolge knüpft. Insbesondere ist nicht zwingend eine Freiheitsbeschränkung für Menschen ohne Immunitätsdokumentation vorgesehen. Vorgesehen ist vielmehr, dass „in angemessener Weise zu berücksichtigen [ist], ob und inwieweit“ eine Person, welche ihre Immunität nachweisen kann, von den nach § 28 Abs. 1 S. 1 und S. 2 IfSG angeordneten Schutzmaßnahmen ausgenommen werden kann. Die Einführung der Immunitätsdokumentation alleine führt demnach noch nicht zu einer Ungleichbehandlung. Vielmehr obliegt es erst der zuständigen Behörde auf der Grundlage der fehlenden Immunitätsdokumentation zu entscheiden, ob und inwiefern („in angemessener Weise“) eine Beschränkung der Freiheitsrechte nach dem Immunitätsschutzgesetz in Betracht kommt. Es bleibt also ausdrücklich Raum für einzelfallbezogene Entscheidungen der zuständigen Behörde, welche die ganz konkreten Bedingungen der Situation (bspw. Differenzierung nach Region) in die Erwägungen einer freiheitsbeschränkenden Entscheidung miteinbeziehen kann. Eine Ungleichbehandlung liegt dann erst in der konkreten behördlichen Entscheidung. 26 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts für die Bundesrepublik Deutschland, 20. Auflage 1999, § 12 Rn. 432. 27 Ebenda. 28 Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK, 42. Edition, Art. 3 Rn. 15. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 123/20 Seite 9 2.2.4. Rechtfertigung Der Staat ist unterdessen nicht verpflichtet, jeglichen Sachverhalt oder jede Personengruppe gleich zu behandeln. Eine Ungleichbehandlung kann daher gerechtfertigt werden. Nur wenn eine solche Rechtfertigung nicht gelingt, liegt ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vor. Bei der Ungleichbehandlung kommt dem Gesetzgeber ein Ermessensspielraum zu, der keiner vollständigen gerichtlichen Kontrolle hinsichtlich der Zweckmäßigkeit unterliegt.29 Im Einzelnen besteht in der Literatur und der Rechtsprechung keine Einigkeit bezüglich des exakten Prüfungsmaßstabes, der auf Rechtfertigungsebene zugrunde zu legen ist.30 Der Maßstab kann nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen.31 Die Grenzen, die sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ergeben, sind jedenfalls abhängig von dem konkreten Regelungsgegenstand; die konkret an die Rechtfertigung zu stellenden Anforderungen sind anhand der Eigenheiten des zu regelnden Sachverhalts zu bestimmen .32 Differenzierungen sind in jedem Fall nur auf der Grundlage von Sachgründen zulässig.33 Eine gesetzliche Differenzierung ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dabei umso schwieriger zu rechtfertigen, je weiter die Auswirkungen der Ungleichbehandlung auf die Freiheitsausübung sein können.34 Der der Rechtfertigungsprüfung zugrundzulegende Maßstab ist zudem umso strenger, je stärker die Differenzierungskriterien in der Person des Betroffenen liegen.35 Im Gefahrenabwehrrecht sind dabei jedenfalls besonders die Unvorhersehbarkeit sowie die Variabilität des Geschehensablaufs zu berücksichtigen.36 Die Anforderungen an die Rechtfertigung der ungleichen Behandlung von Inhabern und Nichtinhabern einer Immunitätsdokumentation bestimmt sich damit nach der konkreten Maßnahme im Einzelfall. Das IfSG sieht als Schutzmaßnahmen in den §§ 28 bis 31 verschiedene Mittel vor, die von unterschiedlicher Intensität sind; diese reichen von einer Beobachtung, über die Quarantäne hin zu einem beruflichen Tätigkeitsverbot. Zudem können die Bundesländer aufgrund der Ermächtigungsgrundlage in § 32 IfSG entsprechende Verordnungen und Allgemeinverfügungen erlassen und bspw. Betretungsverbote für Einrichtungen wie Schulen und Kindertagesstätten, Verbote von Veranstaltungen, Schließungen von Einrichtungen, Einschränkungen des Betriebs von Gaststätten und Beherbergungsbetrieben, Ausgangs- und Kontaktverbote regeln. Soweit durch die Maßnahme, 29 BVerfGE 3, 162 (182). 30 Siehe hierzu Kischel, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK, 42. Ed., Art. 3 Rn. 24 und 34 bis 36; Wollenschläger, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Auflage 2018, Art. 3 Rn. 53; zu dem „gleitenden Rechtfertigungsmaßstab“ des BVerfG siehe Boysen, in: von Münch/Kunig, GG-Kommentar, 6. Auflage 2012, Art. 3 Rn. 103 f. 31 BVerfGE 117, 1 (30). 32 BVerfG vom 19. November 2019 – 2 BvL 22/14, Rn. 96 = NJW 2020, 451-458. 33 Ebenda. 34 BVerfG, vom 9. Dezember 2008 – 2 BvL 1/07 –, Rn. 56. 35 Boysen, in: von Münch/Kunig, GG-Kommentar, 6. Auflage 2012, Art. 3 Rn. 105. 36 OVG Hamburg vom 26. März 2020 – 5 Bs 48/20, Rn. 13. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 123/20 Seite 10 wie bspw. bei einem beruflichen Tätigkeitsverbot, ein massiver Eingriff in ein Freiheitsgrundrecht, wie etwa die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG, verbunden ist, sind an die Rechtfertigung hohe Anforderungen zu stellen. Dies gilt umso mehr, da es sich bei dem Differenzierungskriterium des Immunstatus um ein höchstpersönliches Kriterium handelt. Daraus folgt, dass die Differenzierung einen legitimen Zweck verfolgen, geeignet, erforderlich und angemessen sein muss. 2.2.4.1. Legitimer Zweck Die Einführung einer Immunitätsdokumentation müsste einen legitimen Zweck verfolgen. Für die Immunitätsdokumentation wird angeführt, dass es mittels dieser möglich wird, die Weiterverbreitung der Infektionen gezielt zu verhindern und dabei die Einschränkung von Freiheitsrechten zu minimieren bzw. auf das notwendige Maß zu reduzieren. Dies stellt ein legitimes Ziel dar. 2.2.4.2. Geeignetheit An der Geeignetheit einer Immunitätsdokumentation bestehen verschiedene Zweifel. Dies betrifft nicht nur die Umstände, dass noch keine wissenschaftlich gesicherten Testverfahren vorliegen, die die Immunität valide nachweisen können und es an gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Immunität und ihre Folgen im Hinblick auf die Ansteckungsfähigkeit fehlt (siehe hierzu schon oben unter 2.1.3.). Es wird zudem eingewandt, dass die Einführung einer Immunitätsdokumentation falsche Anreize setzen würde, die geeignet seien, das Ziel einer gezielten Bekämpfung des Infektionsgeschehens zu konterkarieren.37 Wenn an die Immunität Lockerungen geknüpft werden würden, bestünde ein großer Anreiz, sich anzustecken, um immun zu werden und ebenfalls von den Lockerungen profitieren zu können. Damit könnte das Infektionsgeschehen befeuert werden.38 In eine ähnliche Richtung geht auch das Argument, dass mit der Lockerung für Immune eine schwindende Akzeptanz der Nichtimmunen gegenüber den angeordneten Maßnahmen einhergehen könnte.39 Insbesondere bei Maßnahmen, von denen eine Öffentlichkeitswirkung ausgeht (bspw. Maskenpflicht, Abstandsgebote, Kontaktbeschränkungen, Schließung von Läden, Restaurants , Kultureinrichtungen etc.), könnte bei Ausnahmebestimmungen für Immune eine Stimmung entstehen, in der sich die von den Maßnahmen weiter Betroffenen ungerecht behandelt fühlen. Dies könnte dazu führen, dass Begehrlichkeiten geweckt und die Maßnahmen insgesamt nicht 37 Zur Kritik siehe die Berichterstattung des zdf, Debatte um Immunitätsausweis vom 5. Mai 2020, abrufbar unter: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/coronavirus-immunitaetsausweis-esken-spahn-100.html. 38 Siehe dazu bspw. den Presseartikel Mehr Corona-Tests geplant: Senatorin gegen Immunitätsausweis, vom 4. Mai in der Süddeutschen Zeitung, abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/krankheiten-berlin-mehrcorona -tests-geplant-senatorin-gegen-immunitaetsausweis-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-200504-99-929683. 39 Siehe hierzu auch den Presseartikel von Boehme-Neßler, Der Corona-Pass ist inhuman und verfassungswidrig, Zeit online vom 5. Mai 2020, abrufbar unter: https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-05/immunitaetsausweiscoronavirus -antikoerpertest-grundrechte-verfassungsrechtler-volker-boehme-nessler. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 123/20 Seite 11 mehr akzeptiert und eingehalten werden. Der Zweck einer gezielten Eindämmung von Infektionsgefahren würde bei einem solchen Folgeverhalten gerade verfehlt. Angesichts des teilweisen schweren Krankheitsverlaufs und der vielen Unsicherheiten, die bei der Bestimmung von Risikofaktoren im Hinblick auf den Krankheitsverlauf bestehen, ist allerdings offen, wie hoch ein solches Risiko tatsächlich einzuschätzen ist. 2.2.4.3. Erforderlichkeit Überdies kann eine Rechtfertigung der Ungleichbehandlung auf der Grundlage einer Immunitätsdokumentation nur dann gelingen, wenn die Differenzierung auch erforderlich ist. Es dürfte kein gleich geeignetes Mittel zur Verfügung stehen, mit welchem sich der Zweck ebenso verlässlich erreichen ließe.40 Als milderes Mittel wird diskutiert, regelhaft Schnelltests durchzuführen, mit denen ausgeschlossen werden kann, dass eine Infektion und damit ein Ansteckungsrisiko vorliegt. Dadurch könnte das gesellschaftliche Leben sofort für alle wieder ermöglicht werden, und nicht nur für eine äußerst kleine Gruppe jener, die bereits erkrankt waren.41 Als weiteres milderes Mittel zu einer umfassenden Ausnahmeregelung für sämtliche infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen kommen bspw. die Begrenzung von Lockerungsmöglichkeiten für Immune auf bestimmte besondere Bereiche in Betracht , bei denen weniger die Ausübung von individuellen Freiheiten als vielmehr ein gesellschaftlicher Bezug im Vordergrund steht. So wird zum Teil argumentiert, dass eine Immunitätsdokumentation Vorteile in Bezug auf Pflegeeinrichtungen mit sich bringen würde. Derzeit in Pflegeheimen isolierte Personen könnten von den Ausnahmeregelungen für Angehörige, die aufgrund ihrer Immunität von Besuchsverboten ausgenommen werden, profitieren. Auch für Ärzte und Pflegepersonal in Krankenhäusern, Erzieher und Erzieherinnen sowie Lehrer und Lehrerinnen werden Vorteile gesehen, wenn diese aufgrund einer nachgewiesenen Immunität ohne Einschränkungen eingesetzt werden können.42 2.2.4.4. Angemessenheit Überdies müsste die Differenzierung zwischen immunen und nicht immunen Menschen in jedem konkreten Fall angemessen sein. Die unterschiedliche Behandlung immuner und nicht immuner Menschen je nach „Immunitätsstatus“ darf nicht außer Verhältnis zu dem verfolgten Zweck stehen. Dabei ist die Schwere des Eingriffs in Relation zu der Bedeutung des verfolgten Ziels zu setzen.43 Die Schwere des konkreten Eingriffs hängt maßgeblich davon ab, welche Freiheitsrechte einzig 40 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 15. Auflage 2018, Art. 20 Rn. 119. 41 Zu diesem Vorschlag von Peter Dabrock siehe den Presseartikel Lieber mehr Schnelltests als ein Immunitätspass vom 8. Mai 2020, Der Tagesspiegel, abrufbar unter: https://www.tagesspiegel.de/politik/frueherer-ethikrats-cheffuerchtet -diskriminierung-lieber-mehr-schnelltests-als-ein-immunitaetspass/25813328.html. 42 Siehe dazu das Interview mit dem Mitglied des Deutschen Ethikrats Andreas Lob-Hüdepohl vom 28. Mai 2020, abrufbar unter: https://www.domradio.de/themen/corona/2020-05-28/furchtbar-zynische-anreizstruktur-ethikrat -mitglied-zur-debatte-um-den-immunitaetsausweis. 43 Vgl. Daiber, JA 2020, 37 (40). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 123/20 Seite 12 Personen zugutekommen, die im Besitz einer Immunitätsdokumentation sind. Hierzu kommt es auf eine Einzelfallbetrachtung der gebildeten Vergleichsgruppen an. Maßgeblich ist darüber hinaus auch, wie weit die Beschränkung nicht immuner Personen im Vergleich zu immunen Personen im konkreten Fall reicht. Der Schwere des Eingriffs ist die Bedeutung des verfolgten Ziels gegenüberzustellen . Bei den Zielen, durch eine schrittweise Lockerung einerseits die Freiheitsbeschränkungen aufheben zu können und andererseits den Gesundheitsschutz zu gewährleisten, handelt es sich um bedeutende Verfassungswerte. In der Debatte um die Immunitätsdokumentation wird zum Teil darauf hingewiesen, dass sich Immunitäten verfassungsrechtlich gar nicht ignorieren lassen könnten; infektionsschutzrechtliche Maßnahmen kämen hier allenfalls ultima ratio aus generalpräventiven Erwägungen in Betracht.44 Grundsätzlich gilt es in diesem Zusammenhang auch zu beachten, dass umso höhere Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit zu stellen sind, je länger die Einschränkungen andauern und je intensiver die Freiheitsrechte berührt werden.45 Dagegen wird in der Debatte vielfach eingewandt, dass durch Ungleichbehandlungen aufgrund des Immunitätsstatus eine gesellschaftliche Spaltung sowie eine Entsolidarisierung in der Gesellschaft drohen.46 Derzeit gibt es keinen Impfstoff, sodass Menschen, die die Krankheit bisher nicht durchlaufen haben, es nicht in der Hand haben, durch eigenes Zutun einen Immunitätsstatus zu erlangen. Es wird zum Teil als unzulässig erachtet, einen Gesundheitszustand, der sich nicht beeinflussen lässt, als Kriterium für eine erhebliche Ungleichbehandlung heranzuziehen.47 Weiter wird eingewandt, dass für gefährdete Personengruppen eine solche Regelung eine „doppelte Benachteiligung“ darstelle, „einerseits durch das Risiko schwerer Krankheitsverläufe, andererseits durch Ausgrenzung aus dem gesellschaftlichen Leben.“48 2.3. Zu Gebotenheit einer Immunitätsdokumentation Fraglich ist, ob aufgrund der umfassenden Einschränkungen von Freiheitsrechten im Rahmen der staatlichen Pandemiebekämpfung die Einführung einer Immunitätsdokumentation als geboten angesehen werden muss, um die Beschränkung von Freiheitsrechten zu minimieren.49 Bei der Wahl der Maßnahmen zum Schutz der Grundrechte kommt dem Staat nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts indes ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum 44 Kalfki, Der Immunitätsausweis und der Weg zurück in ein freiheitliches Leben, vom 4. Mai 2020, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/der-immunitaetsausweis-und-der-weg-zurueck-in-ein-freiheitliches-leben/. 45 OVG Saarlouis v. 22.4.2020 – 2 B 130/20, Rn. 25 u. 31. 46 So bspw. Boehme-Neßler, Der Corona-Pass ist inhuman und verfassungswidrig, Zeit online vom 5. Mai 2020, Fn. 38; siehe auch Michl, Immunität als Status, vom 11. Mai 2020, abrufbar unter: https://verfassungsblog.de/immunitaet -als-status/. 47 Boehme-Neßler, Der Corona-Pass ist inhuman und verfassungswidrig, Zeit online vom 5. Mai 2020, Fn. 38. 48 So die Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci, siehe den Presseartikel, Hamburger Datenschützer warnt vor Corona-Immunitätsausweis, vom 4. Mai 2020 im Handelsblatt, abrufbar unter: https://www.handelsblatt .com/politik/deutschland/covid-19-hamburger-datenschuetzer-warnt-vor-corona-immunitaetsausweis /25799602.html?ticket=ST-3105253-yw4KOpi9GQgaCtlv9eug-ap5. 49 In diese Richtung argumentiert Kalfki, Der Immunitätsausweis und der Weg zurück in ein freiheitliches Leben, vom 4. Mai 2020, Fn. 43. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 123/20 Seite 13 zu.50 Wie oben bereits dargelegt, wird die Debatte um die Immunitätsdokumentation kontrovers geführt. Im Rahmen der Rechtfertigung einer solchen Maßnahme gilt es, die verschiedenen Argumente und rechtspolitischen Einschätzungen abzuwägen. Von einer zwingenden Gebotenheit einer Immunitätsdokumentation kann vor diesem Hintergrund wohl nicht ausgegangen werden. Dies gilt insbesondere, solange es wissenschaftlich noch nicht als erwiesen gilt, dass das Vorhandensein von Antikörpern sichere Rückschlüsse auf die Immunität der betroffenen Person zulässt. 3. Zu regionalen Ausnahmeregelungen Im Zuge der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie treffen die Bundesländer teilweise voneinander abweichende Maßnahmen. Zwischenzeitlich wurden die Kreise und Städte dazu ermächtigt, je nach Gefahrenlage in der jeweiligen Region eigenständige Eindämmungsmaßnahmen zu ergreifen. Infolgedessen kann auch innerhalb desselben Bundeslandes regionsspezifisch eine Vielzahl an unterschiedlichen Regelungen bestehen. Die hieraus resultierenden Folgen sind einer rechtlichen Einschätzung auf der Grundlage des Art. 3 Abs. 1 GG zu unterziehen. Voraussetzung für eine Ungleichbehandlung ist allerdings, dass alle die Ungleichbehandlung ausmachenden Akte demselben Hoheitsträger zurechenbar sind.51 Der Gleichheitssatz bindet jeden Träger öffentlicher Gewalt nur innerhalb seines eigenen, durch Verfassungs- und Organisationsrecht umgrenzten Zuständigkeits- und Kompetenzbereichs.52 Der Zuständigkeitsbereich eines Trägers von öffentlicher Gewalt stellt die Grenze des Gleichheitssatzes dar.53 Das gilt für Rechtsungleichheiten in den verschiedenen Bundesländern sowie in Angelegenheiten der kommunalen und funktionalen Selbstverwaltung.54 Soweit die Landesgesetzgeber oder die Landkreise und Städte dem jeweiligen Infektionsgeschehen angepasste unterschiedliche Maßnahmen anordnen, stellt dies daher keine Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG dar. 4. Zulässigkeit entsprechender bilateraler Vereinbarungen oder unionsrechtlicher Regelungen Soweit nach deutschem Verfassungsrecht der Einführung einer Immunitätsdokumentation (und der daran knüpfenden Folgen) keine durchschlagenden verfassungsrechtlichen Bedenken entgegenstehen , steht der Vereinbarung entsprechender bilateraler Vereinbarungen oder der Mitwirkung an vergleichbaren unionsrechtlichen Regelungen aus verfassungsrechtlicher Sicht in jedem Fall nichts entgegen. Im Völkerrecht gilt es insofern zu beachten, dass es Staaten als „Herren der Verträge“ grundsätzlich freisteht, einen bi- oder multilateralen völkerrechtlichen Vertrag abzuschließen. Ein Verstoß 50 Statt vieler vgl. BVerfG Beschluss v. 12.5.2020 – 1 BvR 1027/20, Rn. 6. 51 Vgl. Boysen, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 6. Auflage 2012, Art. 3 Rn. 67. 52 BVerfGE 93, 319 (351); 122, 1 (25). 53 Nußberger, in: Sachs, GG, Kommentar, 8. Auflage 2018, Art. 3 Rn. 81. 54 Boysen, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 6. Auflage 2012, Art. 3 Rn. 67 mit weiteren Nachweisen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 123/20 Seite 14 gegen das innerstaatliche deutsche Verfassungsrecht führt gemäß Art. 27, Art. 46 Wiener Vertragsrechtskonvention 55 grundsätzlich nicht zu der Unwirksamkeit des völkerrechtlichen Vertrages. Insofern ist es geboten, vor dem Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrages diesen auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz zu prüfen, damit keine völkerrechtlichen Pflichten eingegangen werden, deren Erfüllung grundgesetzliche Bestimmungen nicht zulassen. Völkerrechtliche Verträge, die sich auf die Bundesgesetzgebung beziehen, gelangen gemäß Art. 59 Abs. 2 GG erst durch einen Zustimmungsbeschluss des Bundestages in die deutsche Rechtsordnung.56 Die Funktion dieses Zustimmungserfordernisses liegt insbesondere darin, die Exekutive in diesen Bereichen einer parlamentarischen Kontrolle zu unterwerfen.57 Bedenken im Hinblick auf die Vereinbarkeit des Vertragsgegenstandes mit den Regelungen des Grundgesetzes kann der Bundestag durch die Verweigerung des Zustimmungsgesetzes Rechnung tragen. Auf Unionseben gilt, dass die Rechtsakte, die das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union beschließen, von den Mitgliedstaaten zu beachten sind: Europäische Richtlinien haben die nationalen Parlamente durch ein eigenes innerstaatliches Gesetz umzusetzen; europäische Verordnungen gelten in den Mitgliedstaaten unmittelbar und verbindlich, vgl. Art. 288 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).58 Das zu wählende Rechtssetzungsverfahren , nach der die Gemeinschaft zur Rechtsetzung befugt ist, bestimmt sich nach der jeweiligen Rechtsetzungskompetenznorm. Über den Rat der Europäischen Union (sogenannter Ministerrat) haben die regierenden Minister der Mitgliedsstaaten die Möglichkeit, Bedenken im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit ihren jeweiligen mitgliedsstaatlichen Verfassungen in das Rechtsetzungsverfahren einzubringen. Soweit qualifizierte Mehrheitsentscheidungen im europäischen Gesetzgebungsverfahren vorgesehen sind (Art. 238 AEUV), haben die insofern unterlegenen Mitgliedstaaten diese zu respektieren. Die Mitwirkungsrechte des Bundestages an Rechtsetzungsakten der Europäischen Union regelt Art. 23 Abs. 3 GG. Rechtsakte der Union unterliegen grundsätzlich nicht der Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht, solange der unabdingbare Grundrechtsstandard durch die EU gewahrt wird. Deutsches Recht, das der Umsetzung unionsrechtlicher Vorgaben dient, kann nur dann vom Bundesverfassungsgericht geprüft werden, wenn die Regelungen nicht vollständig unionsrechtlich determiniert sind, sondern dem Gesetzgeber ein Umsetzungsspielraum verbleibt. 5. Zu den datenschutzrechtlichen Voraussetzungen Personenbezogene Daten über die Gesundheit sowie über genetische Eigenschaften unterliegen dem besonderen Schutz des Art. 9 Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), der die Verarbeitung dieser besonders sensiblen Daten grundsätzlich untersagt. Der Begriff der Gesundheitsdaten ist weit zu verstehen und umfasst alle Angaben zur physischen und psychischen Gesundheit. Darunter fallen auch frühere, gegenwärtige und zukünftige Ergebnisse von Laboruntersuchungen, inklusive 55 Ratifiziert durch Gesetz v. 3.8.1985 (BGBl. II S. 926), in Kraft getreten am 20.8.1987 (BGBl. II S. 757). 56 Nettesheim, in: Maunz/Dürig, GG, Kommentar, 90. EL, Februar 2020, Art. 59 Rn. 96. 57 Nettesheim, in: Maunz/Dürig, GG, Kommentar, 90. EL, Februar 2020, Art. 59 Rn. 94. 58 Ratifiziert durch Gesetz v. 8.10.2008 (BGBl. II S. 1038), in Kraft getreten am 1.12.2009 (BGBl. II S. 1223). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 123/20 Seite 15 genetischer Daten.59 Unter genetische Daten sind die „ererbten oder erworbenen genetischen Merkmale eines Menschen, die aus der Analyse einer biologischen Probe des Betroffenen, insbesondere durch DNA- oder RNA-Analyse oder Analyse eines anderen Elements, durch die entsprechende Informationen erlangt werden können, gewonnen werden“ zu verstehen.60 Die Begriffsbestimmungen stehen in keinem Ausschlussverhältnis; personenbezogene Daten können gleichzeitig unter die Begriffe der genetischen Daten und der Gesundheitsdaten fallen.61 Ob eine Immunität bezüglich einer übertragbaren Krankheit besteht oder nicht, fällt unter den Begriff der Gesundheitsdaten. Eine natürliche Immunität dürfte zudem ein genetisches Datum darstellen. Ob dies gleichermaßen auch für eine erworbene Immunität gilt, könnte hingegen davon abhängig sein, ob diese Immunität für einen andauernden oder nur für einen vorübergehenden Zustand gegeben ist. Eine Verarbeitung von Gesundheitsdaten und genetischen Daten einer natürlichen Person ist nur unter den in Art. 9 Abs. 2 DSGVO geregelten Erlaubnistatbeständen möglich. Diese Erlaubnistatbestände sind unterschiedlich strukturiert; teilweise sind die Voraussetzungen unmittelbar aus der DSGVO ableitbar (vgl. bspw. die Verarbeitung zur Geltendmachung oder Verteidigung von Rechtsansprüchen gemäß Art. 9 Abs. 2 f DSGVO), teilweise sind die Ausnahmen mehrstufig aufgebaut und verweisen auf zu erlassendes europäisches oder nationales Recht, das die Verarbeitung von Gesundheitsdaten erlauben kann (vgl. bspw. die Verarbeitung im Bereich des Arbeitsrechts etc., Art. 9 Abs. 2 lit. b DSGVO). Eine Regelung, die einen Immunitätsnachweis einführt, müsste zunächst den Voraussetzungen eines der Ausnahmetatbestände des Art. 9 Abs. 2 DSGVO genügen. Bei den mehrstufigen Erlaubnistatbeständen ist für den jeweiligen Anwendungsfall zu prüfen, ob die erforderliche gesetzliche Regelung bereits existiert oder ggfs. unter Einhaltung der Vorgaben des Art. 9 Abs. 2 DSGVO noch geschaffen werden muss. Auf Bundesebene müssen über die Vorgaben des Art. 9 Abs. 2 DSGVO hinaus auch insbesondere die Regelungen in § 22 Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) und § 26 BDSG sowie spezialgesetzliche Regelungen wie bspw. § 23a IfSG beachtet werden. Grundsätzlich kommen aus dem Katalog des Art. 9 Abs. 2 DSGVO insbesondere folgende Erlaubnistatbestände in Betracht: 5.1. Einwilligung, Art. 9 Abs. 2 lit. a DSGVO Gemäß Art. 9 Abs. 2 lit. a DSGVO ist eine Verarbeitung von Gesundheitsdaten und genetischen Daten möglich, wenn die betroffene Person in diese für einen oder mehrere festgelegte Zwecke ausdrücklich eingewilligt hat. Allerdings gilt es zu beachten, dass sowohl der europäische wie auch der nationale Gesetzgeber spezielle Regelungen treffen können, wonach das Verbot aus 59 Klabunde, in: Ehmann/Selmayr, Datenschutz-Grundverordnung, 2. Auflage 2018, Art. 4 Rn. 61. 60 Weichert, in: Kühling/Buchner, DS-GVO BDSG, 2. Auflage 2018, Art. 9 DSGVO Rn. 31. 61 Klabunde, in: Ehmann/Selmayr, Datenschutz-Grundverordnung, 2. Auflage 2018, Art. 4 Rn. 59. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 123/20 Seite 16 Art. 9 Abs. 1 GG nicht durch die Einwilligung aufgehoben werden kann. In diesen Fällen wäre eine Einwilligung ausgeschlossen.62 Für das Einholen der Einwilligungserklärung gelten die allgemeinen datenschutzrechtlichen Grundsätze . Gemäß Art. 7 DSGVO muss die Einwilligungserklärung insbesondere ausdrücklich erklärt werden sowie unmissverständlich und nachweisbar sein. Der Verantwortliche muss zudem gewährleisten , dass die Einverständniserklärung freiwillig, d.h. ohne jeden Druck und Zwang erfolgt.63 An der Freiwilligkeit kann es fehlen, wenn der betroffenen Person eine Leistung nur unter der Bedingung angeboten wird, dass sie in eine Nutzung der Daten einwilligt, die für die Erbringung des Dienstes gar nicht erforderlich ist (sogenanntes Kopplungsverbot64). Erforderlich ist weiter, dass die betroffene Person darüber informiert wird, was mit ihren Daten geschieht.65 Darüber hinaus muss die betroffene Person über ihr Widerrufsrecht informiert werden. In der Literatur wird darauf hingewiesen, dass „das Subordinationsverhältnis zwischen Staat und Bürger schon konzeptionell dem Postulat der Freiwilligkeit einer Einwilligung“66 entgegenstehe. Eine Einwilligung in die Verarbeitung von besonders sensiblen Daten setze eine Gleichordnung der Beteiligten voraus; diese sei regelmäßig ausgeschlossen, wenn die Behörde in einem Über-/ Unterordnungsverhältnis handele.67 In diesen Fällen sei der Gesetzgeber aufgerufen, gesetzliche Verarbeitungsregelungen zu schaffen.68 5.2. Arbeitsrecht, soziale Sicherheit und Sozialschutz, Art. 9 Abs. 2 lit. b DSGVO Das Verbot des Art. 9 Abs. 1 DSGVO gilt nicht, soweit eine Verarbeitung im Bereich des Arbeitsrechts , des Rechts der sozialen Sicherheit oder des Sozialschutzes erforderlich ist, damit der Verantwortliche oder die betroffene Person die ihm bzw. ihr aus dem Arbeitsrecht und dem Recht der sozialen Sicherheit und des Sozialschutzes erwachsenden Rechte ausüben und seinen bzw. ihren diesbezüglichen Pflichten nachkommen kann. Weiter fordert Art. 9 Abs. 2 lit. b DSGVO, dass dies gesetzlich oder kollektivvertraglich vorgesehen ist und geeignete Garantien für die Grundrechte und die Interessen der betroffenen Person vorgesehen werden. Dies betrifft insbesondere Widerspruchs-, Berichtigungs- und Löschungsrechte.69 62 Dazu Weichert, in: Kühling/Buchner, DS-GVO BDSG, 2. Auflage 2018, Art. 9 DSGVO Rn. 48. 63 Schulz, in: Gola, Datenschutz-Grundverordnung, 2. Auflage 2018, Art. 7 Rn. 21. 64 Siehe dazu auch Kühling/Schildbach, NJW 2020, 1545. 65 Dazu Schulz, in: Gola, Datenschutz-Grundverordnung, 2. Auflage 2018, Art. 7 Rn. 34. 66 Schulz, in: Gola, Datenschutz-Grundverordnung, 2. Auflage 2018, Art. 7 Rn. 5. 67 Frenzel, in: Paal/Pauly, DS-GVO BDSG, 2. Auflage 2018, Art. 9 Rn. 24 mit weiteren Nachweisen. 68 Schulz, in: Gola, Datenschutz-Grundverordnung, 2. Auflage 2018, Art. 7 Rn. 5. 69 Schiff, in: Ehmann/Selmayr, Datenschutz-Grundverordnung, 2. Auflage 2018, Art. 9 Rn. 39. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 123/20 Seite 17 5.3. Verarbeitung im Gesundheitsbereich und der Arbeitsmedizin, Art. 9 Abs. 2 lit. h DSGVO Die Verarbeitung von Gesundheitsdaten kann erlaubt werden, wenn diese der individuellen Gesundheitsvorsorge oder der Arbeitsmedizin dienen. Voraussetzung hierfür ist, dass eine europäische oder nationale gesetzliche Grundlage die Datenverarbeitung legitimiert oder dass der Datenverarbeitung ein Vertrag mit einem Angehörigen eines Gesundheitsberufs (z.B. Arzt) zugrunde liegt.70 Weitere Voraussetzung ist, dass die Verarbeitung zu einem der in Art. 9 Abs. 2 lit. h DSGVO genannten Zwecke erforderlich ist; dazu zählen z.B. sämtliche Formen medizinischer Versorgung präventiver, diagnostischer, kurativer und nachsorgender Art sowie die im Zusammenhang mit gesundheitsbezogenen Handlungen erforderliche Verwaltungstätigkeit und die Arbeit von Abrechnungsstellen und Apotheken.71 Schließlich muss gewährleistet sein, dass nur Personen, die einem Berufsgeheimnis oder einer sonstigen Geheimhaltungspflicht unterliegen, die Gesundheitsdaten verarbeiten. Solche Geheimhaltungspflichten können sich unmittelbar aus dem Gesetz ergeben oder von Stellen, die nach nationalem Recht hierfür zuständig sind, erlassen werden.72 5.4. Öffentliche Gesundheitsbelange, Art. 9 Abs. 2 lit. i DSGVO Eine Verarbeitung sensibler Daten kann ausnahmsweise aus Gründen des öffentlichen Interesses im Bereich der öffentlichen Gesundheit erlaubt werden. Ausweislich Erwägungsgrund 54 DSGVO ist der Begriff „öffentliche Gesundheit“ wie in der VO (EG) Nr. 1338/2008 des Parlaments und des Rates auszulegen. Gemäß Art. 9 Abs. 2 lit. i DSGVO gehören dazu insbesondere „schwerwiegende grenzüberschreitende Gesundheitsgefahren“ sowie die „Gewährleistung hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandards bei der Gesundheitsversorgung und bei Arzneimitteln und Medizinprodukten“. Die Verarbeitung setzt eine konkretisierende nationale bzw. europäische Rechtsgrundlage voraus. Diese rechtliche Grundlage muss angemessene und spezifische Maßnahmen zur Wahrung der Rechte und Freiheiten der betroffenen Person vorsehen. Als spezifische Maßnahme zur Wahrung der Rechte und Freiheiten verweist Art. 9 Abs. 2 lit. i DSGVO auf das Erfordernis der Unterwerfung der Verantwortlichen unter ein Berufsgeheimnis.73 5.5. Erhebliches öffentliches Interesse, Art. 9 Abs. 2 lit. g DSGVO Eine gesetzliche Ausnahmeregelung für die Zulässigkeit der Verarbeitung sensibler Daten kann schließlich auch aus Gründen eines erheblichen öffentlichen Interesses erfolgen. „Öffentliches Interesse kann alles sein, was der Gemeinschaft dient.“74 Darunter fallen u. a. auch die Wahrung der Freiheitsrechte, die Gefahrenabwehr, die Forschung und wissenschaftliche Erkenntnis, die Wahrung von Gleichheit und Solidarität, die Sicherstellung der öffentlichen Gesundheit und der 70 Schulz, in: Gola, Datenschutz-Grundverordnung, 2. Auflage 2018, Art. 9 Rn. 35. 71 Ebenda. 72 Schiff, in: Ehmann/Selmayr, Datenschutz-Grundverordnung, 2. Auflage 2018, Art. 9 Rn. 61. 73 Siehe dazu auch Schulz, in: Gola, Datenschutz-Grundverordnung, 2. Auflage 2018, Art. 9 Rn. 41. 74 Weichert, in: Kühling/Buchner, DS-GVO BDSG, 2. Auflage 2018, Art. 9 DSGVO Rn. 90. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 123/20 Seite 18 sozialen Fürsorge.75 Das Interesse muss von erheblicher Bedeutung sein; damit „sollen solche Maßnahmen ausgesondert werden, die zwar der Allgemeinheit dienen, die für diese jedoch nicht so erheblich sind, dass die Allgemeinheit ohne die in Rede stehende Maßnahme ernsthaft beeinträchtigt wäre“76. Gemäß Art. 9 Abs. 2 lit. g DSGVO muss eine umfassende Abwägung des öffentlichen Interesses mit dem dadurch verbundenen Datenschutzrisiko für die Betroffenen erfolgen. Insbesondere gilt es, angemessene und spezifische Maßnahmen zur Wahrung der Grundrechte und der Interessen der betroffenen Person vorzusehen. Die Verarbeitung muss zudem den Wesensgehalt des Rechts auf Datenschutz wahren. Die Verarbeitung sensibler Daten aufgrund eines erheblichen öffentlichen Interesses muss somit in jedem Einzelfall verhältnismäßig sein-77 Mit Blick auf die Bedeutung sensibler Daten für die Grundrechtsgarantien der Art. 7 und Art. 8 Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist hier ein strenger Maßstab anzulegen.78 Aus dem Erfordernis „spezifischer Maßnahmen“ folgt ein erhöhter Regelungsaufwand im Hinblick auf die Aufklärung der betroffenen Person über die Verarbeitung und deren Anlass und Zweck sowie über Rüge- und Beschwerderechte, Überprüfungs - und Löschpflichten.79 5.6. Weitere Anforderungen Weiter sind bei der Verarbeitung besonders sensibler Daten auch die allgemeinen datenschutzrechtlichen Grundsätze aus Art. 5 DSGVO zu gewährleisten: Rechtmäßige Verarbeitung, Fairness, Transparenz, Zweckbindung, Datenminimierung, Datenrichtigkeit, Grundsatz der zeitlichen Begrenzung der Speicherung, Integrität und Vertraulichkeit (Datensicherheit). *** 75 Ebenda. 76 Schiff, in: Ehmann/Selmayr, Datenschutz-Grundverordnung, 2. Auflage 2018, Art. 9 Rn. 52. 77 Schiff, in: Ehmann/Selmayr, Datenschutz-Grundverordnung, 2. Auflage 2018, Art. 9 Rn. 53. 78 Schiff, in: Ehmann/Selmayr, Datenschutz-Grundverordnung, 2. Auflage 2018, Art. 9 Rn. 56. 79 Schiff, in: Ehmann/Selmayr, Datenschutz-Grundverordnung, 2. Auflage 2018, Art. 9 Rn. 58.