© 2019 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 122/19 Verfassungsrechtliche Fragen zur doppelten Widerspruchslösung bei der Organspende Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 122/19 Seite 2 Verfassungsrechtliche Fragen zur doppelten Widerspruchslösung bei der Organspende Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 122/19 Abschluss der Arbeit: 22.05.2019 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 122/19 Seite 3 1. Einleitung und Fragestellung Postmortale Organspenden können in Deutschland den Bedarf an Spenderorganen in der Transplantationsmedizin nicht vollständig decken. Im Jahr 2018 haben 955 Menschen nach ihrem Tod ihre Organe gespendet. Derzeit warten rund 9.400 Patientinnen und Patienten auf ein Spenderorgan.1 Am 01.04.2019 hat eine Gruppe von Abgeordneten um den Abgeordneten und Gesundheitsminister Jens Spahn den Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der doppelten Widerspruchslösung im Transplantationsgesetz vorgestellt. Ziel des Gesetzes ist es, „mehr Menschen, die auf eine Organ- oder Gewebespende angewiesen sind, die Möglichkeit zu geben, ein oft lebensrettendes Organ zu erhalten “ und die Anzahl von Organspendern zu erhöhen.2 Nach dem Gesetzentwurf gilt jede Person als Organ- oder Gewebespender (Spender), es sei denn, es liegt ein zu Lebzeiten erklärter Widerspruch oder ein der Organ- oder Gewebeentnahme entgegenstehender Wille vor. Entscheidend ist der Wille des möglichen Spenders. Dem nächsten Angehörigen steht kein eigenes Entscheidungsrecht zu. Im Fall einer fehlenden Erklärung des möglichen Spenders ist der nächste Angehörige nur zum Vorliegen eines Widerspruchs oder über seine Kenntnis zum Vorliegen eines der Organ- oder Gewebeentnahme entgegenstehenden Willens zu befragen (doppelte Widerspruchslösung). Es soll möglich sein, die Entscheidung über die Organ- oder Gewebeentnahme einer bestimmten Person des Vertrauens zu übertragen. Bei einer fehlenden Erklärung eines Minderjährigen über seine Bereitschaft, Organe oder Gewebe zu spenden, bedarf es der Zustimmung des nächsten Angehörigen. Dieser hat bei seiner Entscheidung den mutmaßlichen Willen des Minderjährigen zu beachten. Organ- oder Gewebespenden von volljährigen Personen, die nicht in der Lage sind, Wesen, Bedeutung und Tragweite einer Organ- oder Gewebespende zu erkennen und ihren Willen danach auszurichten, sind unzulässig. Der Gesetzentwurf sieht weiter vor, ein Register einzuführen, in dem die Bürgerinnen und Bürger ihre Erklärung zur Organ- oder Gewebespende eintragen lassen können. Der Widerspruch muss nicht begründet werden. Eine abgegebene Erklärung zur Organ- bzw. Gewebespende kann ohne Angabe von Gründen jederzeit widerrufen oder geändert werden. Die neuen Regelungen werden mit einer umfassenden Aufklärung und Information der Bevölkerung vor Inkrafttreten des Gesetzes über die Bedeutung und die Rechtsfolgen eines erklärten wie eines nicht erklärten Widerspruchs verbunden. Gefragt wurde, ob sich eine „Organbeschaffungspflicht“ des Staates verfassungsrechtlich begründen lasse. Gefragt wurde ferner, ob gegen die im Gesetzentwurf vorgesehene doppelte Widerspruchslösung bei Organspenden verfassungsrechtliche Einwände bestehen. 1 Siehe Deutsche Stiftung Organspende: http://www.dso.de (letzter Abruf 20.05.2019). 2 Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der doppelten Widerspruchslösung im Transplantationsgesetz der Abgeordneten Jens Spahn, Dr. Karl Lauterbach und weiterer vom 19.03.2019; abrufbar unter https://www.bundesgesundheitsministerium .de/ministerium/meldungen/2019/widerspruchsloesung.html (letzter Abruf 20.05.2019). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 122/19 Seite 4 2. Umfang der Schutzpflicht des Staates für die Gesundheitsversorgung, insbesondere im Hinblick auf die Regelung der Organentnahme von Verstorbenen für Transplantationszwecke Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) ist zunächst ein Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe. Über die abwehrrechtliche Dimension hinaus begründet Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG „objektiv-rechtliche Handlungsgebote an den Staat und seine Organe, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu schützen oder zu fördern“3. Die Schutzpflicht gilt umfassend und auch für Konstellationen, in denen nicht unmittelbar der Staat, sondern Dritte die Gefahren geschaffen haben.4 In Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG, dem allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG und der Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG begründet Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG eine Gewährleistungsverantwortung des Staates für „das Vorhandensein einer medizinischen Grundversorgung […], auf deren Grundlage das ‚gesundheitliche Existenzminimum‘ jedes Einzelnen gesichert sein muss“5. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt dem Gesetzgeber bei der Erfüllung von Schutzpflichten ein weiter Einschätzungs-, Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum unter Berücksichtigung konkurrierender öffentlicher und privater Belange zu.6 Regelmäßig verdichtet sich dieser „weite Spielraum gesetzgeberischen Handlungsermessens nicht dahin, dass nur eine ganz bestimmte gesetzliche Regelung oder staatliche Maßnahme zur Gefahrenabwehr rechtmäßig wäre“7. Der Spielraum des Gesetzgebers verengt sich, je größer die Gefahr für Leben oder Gesundheit ist.8 Der Gesetzgeber hat zudem das verfassungsrechtliche Untermaßverbot zu beachten und muss einen angemessenen und wirksamen Mindestschutz gewährleisten.9 Das Bundesverfassungsgericht geht von einer Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers aus, wenn sich getroffene Regelungen als praktisch mangelhaft erwiesen haben.10 An das Vorliegen einer Nachbesserungspflicht stellt das Bundesverfassungsgericht hohe Anforderungen. Es muss evident sein, dass „die getroffenen Maßnahmen völlig ungeeignet oder unzugänglich sind.“11 3 Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Band I, 3. Auflage 2013, Art. 2 Abs. 2 Rn. 76 [Hervorhebung im Original]. 4 Murswiek/Rixen, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 2 Rn. 188. 5 Dederer, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 9 (2004), Die Stellung des Gutes Gesundheit im Verfassungsrecht , 2004, S. 193 ff. (S. 203). 6 Dederer, (Fn. 5), S. 201 mit Rechtsprechungsnachweisen [Hervorhebung im Original]. 7 Schulze-Fielitz, (Fn. 3), Rn. 90. 8 Grzeszick, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 85. EL November 2018, Art. 20 Rn. 25. 9 Schulze-Fielitz, (Fn. 3), Rn. 89; Landau, Gesundheit als Staatsziel? Verfassungsrecht und Staatsaufgaben, in: Schumpelick/Vogel (Hrsg.), Volkskrankheiten und Staatsaufgaben, 2009, S. 589 ff. (S. 599). 10 Hömig, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Werkstand: 55. EL Oktober 2018, BVerfGG § 95 Rn. 73; Schulze-Fielitz, (Fn. 3) Rn. 90. 11 So bspw. BVerfGE 77, 381 (26.01.1988 - 1 BvR 1561/82), Rn. 405. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 122/19 Seite 5 Die gesetzliche Regelung der Organentnahme von Verstorbenen für Transplantationszwecke wird in der Literatur vielfach kritisiert. Zum Teil wird von einer Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers ausgegangen, da sich die bisherige Regelung des Transplantationsgesetzes als ungeeignet erwiesen habe. Die verschiedenen in der Literatur vertretenen Standpunkte werden im Folgenden kursorisch aufgezeigt: 2.1. Pflicht zur Einführung einer Widerspruchslösung? Vereinzelt wird die Auffassung vertreten, das Ermessen des Gesetzgebers sei auf Grund der tatsächlichen Gegebenheiten und Erfahrungen mittlerweile so weit reduziert, dass an der Zustimmungsregelung nicht weiter festgehalten werden dürfe und eine Widerspruchsregelung eingeführt werden müsse.12 Die offensichtliche Ungeeignetheit der geltenden erweiterten Zustimmungsregelung ergebe sich aus einem Vergleich des geringeren Organaufkommens mit dem deutlich höheren Organaufkommen in den Staaten, in denen eine Widerspruchsregelung gelte.13 Andere Stimmen in der Literatur gehen nicht von einer Pflicht des Staates, eine Widerspruchsregelung einzuführen aus, halten aber vor allem diese für geeignet, dem Organmangel in Deutschland abzuhelfen.14 Rosenau/Knorre bezeichnen die erweiterte Widerspruchsregelung als ein verfassungsrechtlich nicht zu beanstandendes, denkbares Regelungsmodell, mit deren Einführung sich der Gesetzgeber den Vorwürfen entziehen könne, es gebe in Deutschland einen „demokratischparlamentarischen Organmangel“ und infolgedessen auch ein „demokratisch-parlamentarisch legitimiertes Sterben auf der Warteliste“15. Vertreter der engen Zustimmungsregelung wie bspw. Schachtschneider/Siebold betonen dagegen, dass dem Staat keine „Organbeschaffungspflicht“ obliege.16 Aus der sozialpolitischen Fürsorgeplicht des Staates lasse sich „keine Pflicht der Menschen, ihr Leben oder ihre körperliche Integrität für andere aufzuopfern“17 begründen. Die Ressourcenknappheit rechtfertige keine illegale Beschaffung . Die Befugnisse des Staates seien durch die Rechte anderer Menschen, insbesondere durch die unantastbare Würde des Menschen, begrenzt.18 Auch weitere Stimmen in der Literatur, die die Widerspruchsregelung nicht per se als verfassungswidrig abweisen, sehen die Einführung einer solchen als nicht zwingend an. Diese sei nur eine 12 Spilker, ZRP 2014 S. 112 ff. (S. 115). 13 Spilker, ebenda. 14 So bspw. Scheinfeld, Organgewinnung per Widerspruchslösung - ein Segen, medstra 2018, S. 321 f. 15 Rosenau/Knorre, Die rechtliche Zulässigkeit der erweiterten (doppelten) Widerspruchslösung in der Organtransplantation , Zeitschrift für medizinische Ethik 65 (2019), S. 45 ff. (S. 51). 16 Schachtschneider/Siebold, DÖV 2000, 129 ff. (S. 136). 17 Schachtschneider/Siebold, (Fn. 16), S. 133. 18 Schachtschneider/Siebold, (Fn. 16), S. 136. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 122/19 Seite 6 „subsidiäre Option gegenüber weniger grundrechtsensibleren Alternativen“19 bzw. habe als „nachrangiges, letztes Mittel“ zu gelten.20 Kreß betont, die Einführung der Widerspruchsregelung dürfe nicht dazu dienen, organisatorisches Versagen oder administrative Mängel der Transplantationsmedizin zu kompensieren.21 2.2 Umstrittene Eignung der Widerspruchslösung, den Organmangel zu beseitigen Gegen die von Spilker behauptete Pflicht zur Einführung einer Widerspruchsregelung spricht insbesondere , dass in der Fachliteratur sowohl über die Gründe für die geringen Organspenderzahlen als auch über die Effekte bei einer Einführung der Widerspruchsregelung Uneinigkeit herrscht. Im Hinblick auf die Gründe für die geringe Organspenderzahl kommt die Literatur zunächst übereinstimmend zu dem Schluss, dass es in Deutschland Defizite bei der Meldung und Erkennung von Organspendern gebe.22 Zudem sei die Finanzierung der Organentnahme insbesondere für kleinere Kliniken nicht kostendeckend.23 Aus diesem Befund werden unterschiedliche gesetzespolitische Forderungen gefolgert. So sehen Teile der Literatur den Handlungsbedarf in diesem Bereich weit größer als bei der Frage Zustimmungs- oder Widerspruchsregelung.24 Die rechtliche Rahmenregelung werde überbewertet.25 Andere halten angesichts des Umfangs des Organmangels auch die Einführung der Widerspruchslösung für erforderlich.26 In diesem Zusammenhang wird als weiteres Argument für die geringen Organspenderzahlen der Vertrauensverlust in die transplantationsmedizinische Versorgung genannt.27 Höfling hält dies für einen der wesentlichen Gründe und sieht einen Nachbesserungsbedarf des Gesetzgebers im Hinblick auf die grundsätzliche Struktur der Transplantationsmedizin „vom Defizitmodell der 19 Duttge, Organgewinnung im juridischen Hauruck-Verfahren? Eine Replik zu Scheinfeld, medstra 2019, S. 66 f. 20 Kreß, Widerspruchslösung bei der Organspende? Notwendigkeit von Differenzierungen und von Kriterien, Medizinrecht 37 (2019), S. 192 ff. (S. 196). 21 Kreß, ebenda. 22 McColgan, Reformvorschläge zur Organspende – Die Widerspruchlösung auf dem Prüfstand, JZ 2018, S. 1138 ff. (S. 1142); Rosenau/Knorre, (Fn. 15), S. 55 f. 23 Rosenau/Knorre, (Fn. 15), S. 55 f.; Schäfer, Für und Wider der Widerspruchslösung, Neue Justiz 2019, S. 45 ff. (S. 47). 24 McColgan, (Fn. 22). 25 Duttge, (Fn. 19). S. 67. 26 Scheinfeld, (Fn. 14); Rosenau/Knorre, (Fn. 15). 27 So bspw. Höfling, Organspende oder Organgewinnung? Zur Neuausrichtung der Transplantationsmedizin in Deutschland, ZRP 2019, S. 2 ff. (S. 5). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 122/19 Seite 7 Selbstregulierung zu einem demokratisch legitmierten, rechtsstaatlich strukturierten und kontrollierten Transplantationssystem“.28 Duttge warnt, dass die Widerspruchslösung zu einem weiteren Vertrauensverlust führen würde.29 In der Literatur werden weiter Zweifel daran geäußert, ob die Einführung einer Widerspruchslösung tatsächlich geeignet wäre, den Organmangel zu beseitigen.30 Befürworter der Widerspruchslösung verweisen auf Studien, wonach mit der Einführung einer Widerspruchsregelung Steigerungen der Organspenden von 20 % bis 30 % einhergegangen seien. Sie betonen den sogenannten Framing-Effekt, das Phänomen, dass der Rahmen der Entscheidungssituation Auswirkungen auf die letztlich getroffene Entscheidung habe. Die Organspende als Standardoption zu regeln, gegen die widersprochen werden könne, lasse nicht nur bei dem potentiellen Spender bzw. seinen nächsten Angehörigen eine höhere Bereitschaft zur Spende erwarten, sondern würde auch zu einer höheren Motivation bei den Ärzten führen.31 Dagegen wenden bspw. Joschko und McColgan ein, die Studien, die die Existenz einer tatsächlichen Kausalität zwischen der Einführung der Widerspruchslösung und der Erhöhung der Spenderzahlen untersuchen, seien indifferent. Beide Autoren weisen darauf hin, dass für die erhöhte Bereitschaft zur Organspende eine Vielzahl von Faktoren maßgeblich sei. Insofern sei es nicht eindeutig, ob sich eine Erhöhung der Spendenbereitschaft auf die Einführung einer Widerspruchslösung zurückführen lasse.32 Nach Joschko sind insbesondere der Rückgang von Skandalen im Bereich der Transplantationsmedizin oder Unsicherheiten hinsichtlich einer „vorschnellen“ Feststellung des Todes sowie die Verbesserung praktisch-medizinischer Rahmenbedingungen wichtige Faktoren.33 3. Verfassungsrechtliche Würdigung der doppelten Widerspruchslösung bei der Organspende Bei der Frage nach der verfassungsrechtlichen Würdigung der Widerspruchslösung handelt es sich um ein Grundsatzproblem. Der Fachbereich hat dies in der Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 071/11 „Einführung einer verpflichtenden, rechtsverbindlichen Erklärung zur Organspendenbereitschaft – Verfassungsrechtliche Zulässigkeit“ behandelt. Diese Ausarbeitung nimmt Bezug auf die Ausarbeitung „Verfassungsrechtliche Fragen bei der Einführung einer Widerspruchslösung/Erweiterten Widerspruchsregelung hinsichtlich einer Organspende“ (WF III - 236/03). Beide Ausarbeitungen sind beigefügt (Anlagen 1 und 2). Nach unserer Prüfung ergibt sich heute keine andere Bewertung der Rechtslage. Das Ergebnis der Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 071/11 gilt weiterhin. Ergänzend wird 28 Höfling, ebenda. 29 Duttge, (Fn. 19). 30 Siehe dazu die Hinweise auf die unterschiedlichen internationalen Erfahrungen von Höfling, (Fn. 27), S. 4; Joschko, Das Bonus-System als Ausweg aus dem Organmangel? – Eine rechtliche Bewertung von Alternativen zur Entscheidungslösung –Wege zur Sozialversicherung 2019, S. 3 ff. (S. 4); McColgan, (Fn. 22). 31 Ausführlich dazu: Rosenau/Knorre, (Fn. 15), S. 51 ff. 32 McColgan, (Fn. 22), S. 1140 ff.; Joschko, (Fn. 30), S. 4. 33 Joschko, (Fn. 30), S. 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 122/19 Seite 8 auf neuere Literatur eingegangen, in der auf weitere verfassungsrechtliche Aspekte im Hinblick auf die Ausgestaltung einer Widerspruchslösung hingewiesen wird: 3.1. Organprotektive Maßnahmen – Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG Höfling weist darauf hin, dass die Problematik der so genannten organprotektiven Maßnahmen in der verfassungsrechtlichen Auseinandersetzung mit der Widerspruchslösung bisher zu wenig Berücksichtigung gefunden habe. Die verbreitete Auffassung, wonach eine Widerspruchslösung (lediglich) das so genannte postmortale Persönlichkeitsrecht des potentiellen Spenders beschränke, greife zu kurz. Man müsse sich vielmehr vergegenwärtigen, dass Patienten im Fall einer infausten Prognose in vielen Fällen bereits Tage vor einer möglichen Hirntoddiagnose und möglichen Organentnahme organprotektiv behandelt werden würden. Dies bedeute einen schwerwiegenden Eingriff in das Recht auf die körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Patienten, die zur Ermöglichung einer Organspende einer intensiven medizinischen Behandlung unterzogen würden, könnten nicht mehr gleichsam „stumm“ auf die Unverletzlichkeit ihres Körpers vertrauen, sondern wären gezwungen, präventiv die Verfügungsmacht Dritter (explantierender Ärzte) durch einen expliziten Erklärungsakt abzuwehren. Eine Widerspruchslösung sei vor diesem Hintergrund allenfalls denkbar, wenn der Gesetzgeber eine verfassungskonforme explizite Regelung zu den organprotektiven Maßnahmen träfe und zugleich potenzielle Organspender hierüber in angemessener Weise aufgeklärt werden würden.34 3.2. Umfassende Aufklärung und offene Information Als „Schlüsselproblem“ für die Widerspruchslösung wird die Wahrung des Selbstbestimmungsrechts und der Gewissensfreiheit der Bürger ausgemacht. Hierzu wird gefordert, dass die Unterrichtung der Bürger ausgebaut und der bisherigen Intransparenz durch Verschweigen von Zweifeln und Einwänden, ein Ende gesetzt werde.35 Es sei eine „umfassende Aufklärung über die Voraussetzungen einer so genannten postmortalen Organspende, einschließlich der offenen Information über die Hirntodkonzeption sicherzustellen“ und mit der erforderlichen Deutlichkeit auf die Rechtsfolgen eines unterlassenen Widerspruchs hinzuweisen“36. 3.3. Praktische Ausgestaltung für die Erklärung des Widerrufs Es müsse weiter sichergestellt sein, dass der potentielle Spender eine entsprechende Willensbestimmung treffen kann, da nur dann seinem Selbstbestimmungsrecht Genüge getan sei.37 Die Verfassungskonformität hänge davon ab, „wie (leicht) der Widerspruch erklärt werden kann“38. Es 34 Höfling, (Fn. 27), S. 4. 35 Kreß, (Fn. 20), S. 197. 36 Höfling, (Fn. 27), S. 4 f. 37 Di Fabio, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), (Fn. 8), Art. 2 Abs. 1, Rn. 206 38 Kubiciel/Mayer, Verfassungskonformität der Widerspruchslösung im Transplantationsrecht, jurisPR-StrafR 23/2018 Anm. 1. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 122/19 Seite 9 sei „zu gewährleisten, dass ein Widerspruch auf einfach Weise, dh ohne prozessuale Barrieren, erklärt und auch widerrufen werden kann“39. 3.4. Einbeziehung der Angehörigen Die Frage nach der Einbeziehung der Angehörigen wird in der neueren Literatur nicht einheitlich bewertet. Vielfach wird die Ansicht vertreten, nur eine erweiterte Widerspruchsregelung sei verfassungsrechtlich zulässig.40 Das postmortale Persönlichkeitsrecht des Verstorbenen könne nur gewahrt werden, wenn zuvor einigermaßen sicher festgestellt werden könne, dass kein lebzeitiger Widerspruch vorliege. Dazu brauche es eine Beteiligung der Angehörigen. Zum Teil wird gefordert, dass die Angehörigen nicht nur nach einem geäußerten, sondern auch nach dem vermuteten Willen des potentiellen Spenders gefragt werden müssten, um dessen postmortal nachwirkende Persönlichkeitsrechte zu gewährleisten.41 Vereinzelt wird dagegengehalten, auch eine reine Widerspruchslösung sei verfassungskonform. Diese sei zudem vorzugswürdig, da eine doppelte Widerspruchslösung die Situation für Hinterbliebene verschlimmern würde.42 3.5. Differenzierungsbedarf zu einzelnen Personengruppen, insbesondere Kinder und Geschäftsunfähige Die Verfassungskonformität der Widerspruchslösung setzt voraus, dass es sich um einen selbstbestimmten , mündigen Menschen handelt, der sich über sein Verhalten und dessen Konsequenzen im Klaren ist. Nur unter diesen Voraussetzungen kann nach wohl überwiegender Ansicht davon ausgegangen werden, dass in einem fehlenden Widerspruch eine freie Verfügung gesehen werden kann, so dass die Menschenwürde nicht beeinträchtigt wäre. Für Personen, die nicht in der Lage sind, Wesen, Bedeutung und Tragweite einer Organspende zu erkennen und ihren Willen danach auszurichten, bedarf es daher einer gesonderten Regelung, die die Menschenwürde in diesen Situationen wahrt.43 Kreß fordert, dass es im Fall von Kindern als potentiellen Spendern dabei bleiben müsse, dass die Eltern aufgrund von Information, Aufklärung und Beratung ihre Zustimmung erteilen .44 39 Höfling, (Fn. 27), S. 4 f. [Hervorhebung nur hier]. 40 Kelle, Widerspruchslösung und Menschenwürde, 2011, S. 38 f.; Kreß, (Fn. 20), S. 197; Kubiciel/Mayer, (Fn. 38). 41 Kreß, (Fn. 20), S. 197. 42 Schäfer, (Fn. 23), S. 49 f. 43 Kadelbach/Müller/Assakkali, Anfängerhausarbeit – Öffentliches Recht: Grundrechte – Organspende und Widerspruchslösung , JuS 2012, S. 1093 (S. 1094) mit weiteren Hinweisen. 44 Kreß, (Fn. 20), S. 197. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 122/19 Seite 10 3.6. Nur zur Lebensrettung Angesichts der grundrechtlichen Relevanz des Eingriffs in das postmortale Persönlichkeitsrecht wird von Kreß gefordert, dass nur solche Organe von der Widerspruchslösung erfasst werden dürften, die unmittelbar zur Lebensrettung bestimmt sind. Für andere Konstellationen wie bspw. die Uterustransplantation bedürfe es gesonderter Regulierungen.45 3.7. Regelmäßige Überprüfung Schließlich fordert Kreß eine regelmäßige Überprüfung durch den Gesetzgeber bzw. durch eine hierzu gesetzlich beauftragte Bundesbehörde, ob die Regelung tatsächlich noch erforderlich und verhältnismäßig ist, oder ob es nicht andere Ressourcen, wie bspw. Organe aus Tieren oder aus humanen Stammzellen nutzbar sind.46 4. Fazit Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG, dem allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG und der Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG begründet sich eine Gewährleistungsverantwortung des Staates für das Vorhandensein einer medizinischen Grundversorgung. Bei der Erfüllung dieser Schutzpflicht kommt dem Gesetzgeber nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein weiter Einschätzungs-, Beurteilungsund Gestaltungsspielraum zu. Wenn sich getroffene Regelungen als praktisch mangelhaft erwiesen haben, kann den Gesetzgeber ausnahmsweise eine Nachbesserungspflicht treffen. An das Vorliegen einer Nachbesserungspflicht stellt das Bundesverfassungsgericht hohe Anforderungen. Es muss evident sein, dass die getroffenen Maßnahmen völlig ungeeignet oder unzugänglich sind. Die Frage, ob den Staat im Hinblick auf Regelungen der Organentnahme von Verstorbenen für Transplantationszwecke eine Nachbesserungspflicht trifft, ist in der Literatur umstritten. Ein Reformbedarf wird hingegen recht einhellig bejaht. Höchst umstritten ist zudem, welche Maßnahmen des Gesetzgebers in dieser Hinsicht verfassungsmäßig angezeigt und zulässig wären. Die Zulässigkeit der Einführung einer doppelten Widerspruchslösung ist in der Literatur höchst umstritten. Es bestehen verschiedene verfassungsrechtliche Zweifel. Soweit trotz der Bedenken von einer grundsätzlichen Verfassungskonformität ausgegangen wird, müsste die konkrete Ausgestaltung einer doppelten Widerspruchregelung die aufgezeigten Kriterien berücksichtigen. *** 45 Kreß, (Fn. 20), S. 197. 46 Kreß, (Fn. 20), S. 197.