© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 121/20 Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Beschlüsse der Europäischen Zentralbank zum Staatsanleihekaufprogramm Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Public Sector Purchase Program (PSPP) gerichtet hatten.1 Das Gericht stellt fest, dass die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag die Beschwerdeführer in ihren Rechten aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG verletzt haben, indem sie nicht dagegen vorgegangen sind, dass die EZB in den für die Einführung und Durchführung des PSPP erlassenen Beschlüssen die Verhältnismäßigkeit der beschlossenen Maßnahmen weder geprüft noch dargelegt hat. Die Ausarbeitung behandelt zunächst die Frage, ob die Europäische Union (EU) den Status eines Staates hat. Ferner wird auf die Zuständigkeit des BVerfG für das Verfahren eingegangen. Schließlich wird erläutert, welche Verpflichtungen sich für Bundestag und Bundesregierung aus dem Urteil ergeben und welche Vorschläge es für die konkrete Umsetzung des Urteils gibt. Dabei wird auf die Stellungnahmen der Sachverständigen Bezug genommen, die am 25. Mai 2020 im Ausschuss für die Angelegenheiten der EU des Deutschen Bundestages angehört wurden. 2. Status der Europäischen Union Die EU ist kein Staat im völkerrechtlichen Sinne. Für das Bestehen eines Staates im völkerrechtlichen Sinne bedarf es neben eines Staatsgebietes auch eines Staatsvolkes und einer Staatsgewalt. Bereits an der Existenz eines europäischen Staatsvolkes wird in der Literatur gezweifelt, da die Unionsbürgerschaft gemäß Art. 20 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) aus der nationalen Staatsbürgerschaft abgeleitet wird, diese aber nicht ersetzt.2 Jedenfalls aber mangelt es der EU an einer von Dritten unabhängigen Staatsgewalt. Die EU wird nach dem sogenannten Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nur im Rahmen ihrer Zuständigkeiten tätig. Alle nicht der EU übertragenen Zuständigkeiten verbleiben gemäß Art. 5 Abs. 1 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) bei den Mitgliedstaaten. Andererseits geht der Status der EU aber über den eines Staatenbundes hinaus, da die EU staatsähnliche Eigenschaften aufweist, die untypisch für eine internationale Organisation als Staatenbund sind. Die Mitgliedstaaten haben der EU – insbesondere im wirtschaftlichen Bereich – weitgehende Befugnisse übertragen . Auch verfügt die EU, anders als andere internationale Organisationen, über eigene Gesetzgebungsorgane , die für die Mitgliedstaaten und insbesondere auch deren Bürger verbindliche Rechtsakte erlassen können. Die EU wird daher auch als supranationale Organisation bezeichnet. Das Bundesverfassungsgericht hat für die EU den Begriff des Staatenverbundes geprägt.3 Der Begriff erfasst nach Ansicht des Gerichts „eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker – das heißt die 1 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 5. Mai 2020 - 2 BvR 859/15. 2 Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, 89. EL Oktober 2019, Art. 23 Rn. 43. 3 BVerfGE 89, 155 (181). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 121/20 Seite 4 staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben“.4 Zur Übertragung von Hoheitsrechten hat das Gericht ausgeführt: „Das Grundgesetz ermächtigt den Gesetzgeber zwar zu einer weitreichenden Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union. Die Ermächtigung steht aber unter der Bedingung, dass dabei die souveräne Verfassungsstaatlichkeit auf der Grundlage eines Integrationsprogramms nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und unter Achtung der verfassungsrechtlichen Identität als Mitgliedstaaten gewahrt bleibt und zugleich die Mitgliedstaaten ihre Fähigkeit zu selbstverantwortlicher politischer und sozialer Gestaltung der Lebensverhältnisse nicht verlieren.“5 Die Mitgliedstaaten bleiben die „Herren der Verträge“ der EU und können ihre Bindung an die Verträge auch wieder aufheben.6 3. Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts für das EZB-Verfahren Das Bundesverfassungsgericht hat die dem Urteil zugrunde liegenden Verfassungsbeschwerden für zulässig erklärt, „soweit sie sich [...] dagegen wenden, dass es Bundesregierung und Bundestag unterlassen haben, gegen das PSPP vorzugehen“.7 Die Zuständigkeit des Gerichts für Verfassungsbeschwerden ergibt sich aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a, §§ 90 ff. Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG). Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde kann auch die Behauptung einer Verletzung von Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG sein. Das Bundesverfassungsgericht erläutert im Urteil seine Rechtsprechung, dass Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG die Wahlberechtigten vor einem Substanzverlust ihrer im verfassungsstaatlichen Gefüge maßgeblichen Herrschaftsgewalt schütze, der dadurch drohe, dass Rechte des Bundestages wesentlich geschmälert würden und dadurch die Gestaltungsmacht desjenigen Verfassungsorgans beeinträchtigt werde, das nach den Grundsätzen freier und gleicher Wahl zustande komme.8 Das in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG garantierte Wahlrecht erschöpfe sich nicht in einer formalen Legitimation der (Bundes-)Staatsgewalt.9 Der Anspruch auf demokratische Selbstbestimmung gelte auch in Ansehung der europäischen Integration und schütze die Bürger im Anwendungsbereich von Art. 23 Abs. 1 GG vor offensichtlichen und strukturell bedeutsamen Kompetenzüberschreitungen durch Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Europäischen Union. Die Untätigkeit von Bundesregierung und Bundestag in Bezug auf die nicht dargelegte Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen der EZB sei auch ein tauglicher Beschwerdegegenstand. Maßnahmen von 4 BVerfGE 123, 267 (348). 5 BVerfGE 123, 267 (347). 6 BVerfGE 89, 155 (190). 7 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 5. Mai 2020 - 2 BvR 859/15 -, Rn. 85. 8 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 5. Mai 2020 - 2 BvR 859/15 -, Rn. 103. 9 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 5. Mai 2020 - 2 BvR 859/15 -, Rn. 99. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 121/20 Seite 5 Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU könnten Gegenstand der Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht sein, wenn sie die Grundrechtsberechtigten in Deutschland beträfen. Dies sei der Fall, wenn sie entweder die Grundlage von Handlungen deutscher Staatsorgane seien oder aus der Integrationsverantwortung10 folgende Handlungs- oder Unterlassungspflichten deutscher Verfassungsorgane auslösten. Vor diesem Hintergrund gewähre Art. 38 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG den Wahlberechtigten gegenüber Bundestag und Bundesregierung einen Anspruch darauf, „dass diese über die Einhaltung des Integrationsprogramms durch Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Europäischen Union wachen, am Zustandekommen und der Umsetzung von Maßnahmen, die die Grenzen des Integrationsprogramms überschreiten, nicht mitwirken und bei offensichtlichen und strukturell bedeutsamen Kompetenzüberschreitungen aktiv auf seine Befolgung und die Beachtung seiner Grenzen hinwirken [...]. Dies prüft das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Ultra-vires-Kontrolle [...]“.11 4. Verpflichtungen von Bundestag und Bundesregierung aus dem Urteil Das Urteil begründet Pflichten des Bundestages, der Bundesregierung sowie der Bundesbank, denen das Konzept der Integrationsverantwortung zugrunde liegt, das das Bundesverfassungsgericht in vorangegangenen Entscheidungen entwickelt hat. 4.1. Integrationsverantwortung Art. 23 Abs. 1 GG bestimmt, dass die Bundesrepublik Deutschland als Teil der EU an deren Entwicklung mitwirkt. Die Bundesrepublik kann dazu gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG der Union einzelne Hoheitsrechte übertragen, sich aber nicht vollständig ihrer eigenen Hoheitsgewalt entledigen. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang das Konzept der Integrationsverantwortung wie folgt beschrieben: „Den deutschen Verfassungsorganen obliegt eine dauerhafte Integrationsverantwortung. Sie ist darauf gerichtet, bei der Übertragung von Hoheitsrechten [auf die Europäische Union] und bei der Ausgestaltung der europäischen Entscheidungsverfahren dafür Sorge zu tragen, dass in einer Gesamtbetrachtung sowohl das politische System der Bundesrepublik Deutschland als auch das der Europäischen Union demokratischen Grundsätzen im Sinne des Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG entspricht.“12 „[Diese] rechtliche und politische Verantwortung des Parlaments erschöpft sich – auch im Fall der europäischen Integration – insoweit nicht in einem einmaligen Zustimmungsakt, sondern 10 Zur Integrationsverantwortung siehe unter 4.1. 11 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 5. Mai 2020 - 2 BvR 859/15 -, Rn. 105 (Hervorhebung nicht im Original). 12 BVerfGE 123, 267 (356) (Hervorhebung nicht im Original). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 121/20 Seite 6 erstreckt sich auch auf den weiteren Vertragsvollzug. Ein Schweigen von Bundestag und Bundesrat reicht daher nicht aus, diese Verantwortung wahrzunehmen.“13 Es besteht somit ein „Balanceakt“ der deutschen Verfassungsorgane zwischen der Förderung der europäischen Integration und der Wahrung der Identität der Verfassung.14 4.2. Pflichten aus dem Urteil Im EZB-Urteil führt das Gericht zunächst allgemein aus: „Im Falle offensichtlicher und strukturell bedeutsamer Kompetenzüberschreitungen durch Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Europäischen Union haben sie [die deutschen Verfassungsorgane] mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln aktiv auf die Einhaltung des Integrationsprogramms hinzuwirken. Soweit eine weitere Übertragung von Hoheitsrechten nicht möglich oder nicht gewollt ist, sind sie verpflichtet, im Rahmen ihrer Kompetenzen mit rechtlichen oder politischen Mitteln auf die Aufhebung der vom Integrationsprogramm nicht gedeckten Maßnahmen hinzuwirken sowie – solange die Maßnahmen fortwirken – geeignete Vorkehrungen dafür zu treffen, dass die innerstaatlichen Auswirkungen der Maßnahmen so weit wie möglich begrenzt bleiben. Insoweit sind geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die Wahrung des Integrationsprogramms sicherzustellen. Unter bestimmten rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen kann sich die Integrationsverantwortung zu einer konkreten Handlungspflicht verdichten.“15 Hinsichtlich der konkreten Pflichten von Bundesregierung und Bundestag bestimmt das Bundesverfassungsgericht : „Da sich das PSPP insoweit als ultra-vires-Akt darstellt, als die EZB seine Verhältnismäßigkeit nicht dargelegt hat, sind Bundesregierung und Bundestag aufgrund ihrer Integrationsverantwortung verpflichtet, auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die EZB hinzuwirken. […] Bundesregierung und Bundestag müssen ihre Rechtsauffassung gegenüber der EZB deutlich machen oder auf sonstige Weise für die Wiederherstellung vertragskonformer Zustände sorgen .“16 Zudem enthält das Urteil die Pflicht der Deutschen Bundesbank, sich nicht mehr am Anleihekaufprogramm der EZB zu beteiligten und in Bezug auf bereits getätigte Käufe für eine Rückführung der Staatsanleihen zu sorgen. Dies gelte nur dann nicht, wenn der EZB-Rat in einem neuen Beschluss 13 BVerfGE 123, 267 (435). 14 Voßkuhle, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7.Aufl. 2018, Art. 93 Rn. 85a. 15 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 5. Mai 2020 - 2 BvR 859/15 -, Rn. 231 (Hervorhebungen nicht im Original). 16 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 5. Mai 2020 - 2 BvR 859/15 -, Rn. 232 (Hervorhebungen nicht im Original). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 121/20 Seite 7 binnen drei Monaten nachvollziehbar darlegte, „dass die mit dem PSPP angestrebten währungspolitischen Ziele nicht außer Verhältnis zu den damit verbundenen wirtschafts- und fiskalpolitischen Auswirkungen stehen“.17 Für die EZB ergeben sich aus dem Urteil keine Verpflichtungen. Gemäß § 31 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) werden durch Urteile des Bundesverfassungsgerichts nur deutsche Verfassungsorgane, Gerichte und Behörden gebunden. 5. Umsetzung des Urteils Die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag sind nach Maßgabe von Art. 20 Abs. 3 GG und § 31 Abs. 1 BVerfGG an das Urteil gebunden. Sie sind daher verpflichtet, auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die EZB hinzuwirken. 5.1. Normenkonflikt? Die Verpflichtung der Bundesregierung und des Bundestages besteht unabhängig von der Tatsache, dass es sich bei der EZB um ein Organ der EU handelt. Art. 130 S. 1 AEUV bestimmt allerdings, dass die EZB Weisungen von Regierungen der Mitgliedstaaten oder anderen Stellen weder einholen noch entgegennehmen darf. Darüber hinaus konkretisiert Art. 130 S. 2 AEUV, dass auch die Regierungen der Mitgliedstaaten sich verpflichten, diesen Grundsatz zu beachten und nicht versuchen , die Mitglieder der Beschlussorgane der Europäischen Zentralbank oder der nationalen Zentralbanken bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu beeinflussen. An diese unionsrechtlichen Vorgaben sind die Bundesregierung und der Bundestag als deutsche Staatsorgane ebenso gebunden wie an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Auf den ersten Blick scheinen die unionsrechtlichen und die verfassungsrechtlichen Verpflichtungen im Widerspruch zueinander zu stehen.18 Das Gericht geht allerdings davon aus, dass die Unabhängigkeit der EZB und der deutschen Bundesbank der Verpflichtung von Bundesregierung und Bundestag nicht entgegenstünden.19 Dies dürfte so zu verstehen sein, dass das Gericht keine Maßnahmen verlangt, die mit der Unabhängigkeit nicht vereinbar sind.20 17 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 5. Mai 2020 - 2 BvR 859/15 -, Rn. 235. 18 Vgl. Calliess, „Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 (2 BvR 859/15) in Sachen Staatsanleihekäufe der Europäischen Zentralbank“, S. 9, abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource /blob/697584/69ec62de394a6348f992c1e092fa9f4b/callies-data.pdf. 19 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 5. Mai 2020 - 2 BvR 859/15 -, Rn. 232. 20 Vgl. Classen, „Stellungnahme zum Urteil des BVerfG v. 5.5.2020 für den Europaausschuss des Deutschen Bundestages“, S. 10, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource /blob/697486/68acf7d191966b75d78bc7db9c92f6e1/Classen-data.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 121/20 Seite 8 5.2. Konkrete Handlungsvorschläge In welcher konkreten Weise Bundesregierung und Bundestag ihrer Verpflichtung nachkommen, ist ihnen nach dem Urteil freigestellt. Bei der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für die Angelegenheiten der EU des Deutschen Bundestages am 25. Mai 2020 wurden durch die Sachverständigen verschiedene, aber in wesentlichen Punkten übereinstimmende, Handlungsvorschläge unterbreitet.21 Dabei wurde überwiegend bestätigt, dass die Pflichten von Bundesregierung und Bundestag trotz der Unabhängigkeit der EZB grundsätzlich erfüllbar seien.22 Zum Teil wurde allerdings vertreten, dass es für die EZB nicht in Betracht komme, die Verhältnismäßigkeit des PSPP als Reaktion auf das Urteil in einem Beschluss darzulegen, da dadurch in jedem Fall ihre Unabhängigkeit bedroht sei.23 Von dieser Seite wurde vorgeschlagen, Bundestag und Bundesregierung sollten zunächst abwarten, ob und auf welche Weise sich die EZB äußere, um dann auf das Handeln der EZB zu reagieren.24 Von anderer Seite wurde allerdings betont, dass Bundesregierung und Bundestag verpflichtet seien, die EZB dazu „zu motivieren“, einen neuen Beschluss zu fassen.25 Es wurde zudem darauf hingewiesen, dass Bundesregierung und Bundestag zur Umsetzung des Urteils eine formelle Erklärung abgeben müssten.26 Aufgrund des Unionsrechts sei es Bundesregierung und Bundestag allerdings verboten, ihrer Pflicht in einer Weise nachzukommen, die eine förmliche Einflussnahme auf die EZB darstellen würde.27 Jegliche Form der Anweisung gegenüber der EZB scheide daher aus. Als zulässig wurde es aber erachtet, eine Bitte an die EZB zu richten.28 Jede Art der Bitte an die EZB um Darlegung der Verhältnismäßigkeit müsse deutlich machen, dass 21 Die Stellungnahmen der Sachverständigen sind abrufbar unter https://www.bundestag.de/ausschuesse/pe1_europaeischeunion /oeffentliche_anhoerungen/696084-696084. 22 Vgl. etwa Classen (Fn. 20), S. 10; Walter, „Schriftliche Stellungnahme im Rahmen der öffentlichen Anhörung zu den Folgen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 (2 BvR 859/15 u.a.) zu den Staatsanleihekäufen der Europäischen Zentralbank“, S. 4., abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource /blob/697524/89551bb27b81da991fd9538c480afccd/walter2-data.pdf. 23 Mayer, „Das PSPP-Urteil des BVerfG vom 5. Mai 2020 – Thesen und Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung, Deutscher Bundestag, Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Montag, 25. Mai 2020“, S. 23, abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource/blob/697586/cdf8025132586d197288f57569776bff/mayerdata .pdf. 24 Mayer (Fn. 23), S. 23. 25 Walter (Fn. 22), S. 3 f. 26 Höpner, „Stellungnahme zur Anhörung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union des Deutschen Bundestages am 25.05.2020 – Die Implikationen der PSPP-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, 2 BvR 859/15“, S. 3 f., abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource /blob/697488/490504d32cf7bbd5a65efc4774b6d7bc/hoepner-data.pdf. 27 Vgl. Calliess (Fn. 18), S. 9; Mayer (Fn. 23), S. 22. 28 Walter (Fn. 22), S. 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 121/20 Seite 9 Bundesregierung und Bundestag die Unabhängigkeit der EZB weiterhin achteten, aber zur Umsetzung des Urteils verpflichtet seien.29 Zum Teil wurde darüber hinaus empfohlen, dass der Bundestag im Rahmen einer Entschließung äußere, nach wie vor von der Verhältnismäßigkeit des PSPP überzeugt zu sein.30 Von anderer Seite wurde vorgeschlagen, die Deutsche Bundesbank solle den EZB-Rat um Mitteilung der Verhältnismäßigkeitserwägungen bitten. Diese könnten dann an die Bundesregierung weitergeleitet werden, welche ihrerseits dem Bundesverfassungsgericht hierüber Kenntnis verschaffen könne.31 Es sei für die EZB unproblematisch, Informationen über bereits gefasste Beschlüsse zu erteilen, da die Unabhängigkeit sich wohl nur auf die Beschlussfassung beziehe.32 Eine Einflussnahme innerhalb des EZB-Rates über den Präsidenten der Deutschen Bundesbank wurde als nicht zielführend beurteilt, da zum einen der Rat als Gremium nicht durch ein einzelnes Mitglied zu einer Entscheidung veranlasst werden könne und zum anderen die Unabhängigkeit von EZB und Bundesbank entgegenstünde.33 Nach Art. 284 Abs. 3 AEUV hat die EZB unter anderem dem Europäischem Parlament und dem Rat einen Jahresbericht über die Tätigkeit des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) und die Geld- und Währungspolitik im vergangenen und im laufenden Jahr zu unterbreiten. Im Rahmen der öffentlichen Anhörung wurde der Vorschlag diskutiert, dass die EZB die Verhältnismäßigkeitserwägungen in einem Nachtrag zum Jahresbericht von 2019 darlegen könnte.34 Der Bundestag könne sich einem Beschluss des Europäischen Parlaments, mit dem dieses einen entsprechenden Nachtrag verlange, anschließen. Dieser Vorschlag wurde überwiegend als zweckmäßig erachtet. Ob er allerdings den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts an das Handeln von Bundestag und Bundesregierung genüge, wurde zum Teil bezweifelt. 5.3. Überprüfung der Darlegungen der EZB zur Verhältnismäßigkeit Legt die EZB die Verhältnismäßigkeit ihrer Maßnahmen dar, so stellt sich die Frage, durch wen geprüft werden muss, ob die Darlegungen den Anforderungen des Urteils entsprechen. Das Bundesverfassungsgericht erteilt zu diesem Punkt keine Vorgaben. Für die Prüfung dürfte allerdings in erster Linie die Bundesbank zuständig sein, da diese nach dem Urteil verpflichtet ist, aus dem Anleihekaufprogramm auszusteigen, sofern die Darlegungen der Verhältnismäßigkeit durch den 29 Höpner (Fn. 26), S. 5; Walter (Fn. 22), S. 6; Wegener, „Stellungnahme für den Europa-Ausschuss des Bundestages zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 (2 BvR 859/15) in Sachen Staatsanleihekäufe der Europäischen Zentralbank“, S. 13 f., abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource /blob/697490/19e094bd52ec5e0f4b22625644177275/wegener-data.pdf. 30 Vgl. Mayer (Fn. 23), S. 26. 31 Calliess (Fn. 18), S. 9 f. 32 Classen (Fn. 20), S. 11. 33 Walter (Fn. 22), S. 4 f. 34 Da dieser Vorschlag nur mündlich diskutiert wurde, liegen dazu keine schriftlichen Stellungnahmen vor. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 121/20 Seite 10 EZB-Rat den Anforderungen des Urteils nicht genügen.35 In welcher Form die Bundesbank diese Überprüfung wahrnimmt, können Bundesregierung und Bundestag aufgrund der Unabhängigkeit der Bundesbank nicht beeinflussen.36 5.4. Nichterfüllung der Pflichten Kommen Bundesregierung und Bundestag ihren Pflichten aus dem Urteil nicht nach, so tritt – wenn nicht die EZB von sich aus die Verhältnismäßigkeit ihrer Maßnahmen darlegt – die vom Bundesverfassungsgericht bestimmte Folge ein, dass es der Bundesbank nach Ablauf einer Frist von drei Monaten untersagt ist, „an Umsetzung und Vollzug des Beschlusses (EU) 2015/774 sowie der hierauf folgenden Beschlüsse (EU) 2015/2101, (EU) 2015/2464, (EU) 2016/702, (EU) 2017/100 und des Beschlusses vom 12. September 2019 mitzuwirken, indem sie bestandserweiternde Ankäufe von Anleihen tätigt oder sich an einer abermaligen Ausweitung des monatlichen Ankaufvolumens beteiligt “.37 Die Bundesbank ist zudem in diesem Fall verpflichtet, „mit Blick auf die unter dem PSPP getätigten Ankäufe für eine im Rahmen des ESZB abgestimmte – auch langfristig angelegte – Rückführung der Bestände an Staatsanleihen Sorge zu tragen“.38 Es ist zudem denkbar, dass durch eine erneute Verfassungsbeschwerde eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Reaktion der EZB und das Handeln von Bundesregierung, Bundestag und Bundesbank herbeigeführt wird.39 *** 35 Walter (Fn. 22), S. 5. Dieser weist auch auf die schwierige Lage der Bundesbank hin, da sie trotz Bindung an das Urteil den Inhalt des möglichen Beschlusses des EZB-Rates weitgehend hinnehmen müsse, diesen nur begrenzt beeinflussen könne und der EZB-Rat seinerseits bei der Formulierung des Beschlusses nicht an die Kriterien des Urteils gebunden sei. 36 Walter (Fn. 22), S. 5. 37 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 5. Mai 2020 - 2 BvR 859/15 -, Rn. 235. 38 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 5. Mai 2020 - 2 BvR 859/15 -, Rn. 235. 39 Walter (Fn. 22), S. 6.