© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 120/20 Einzelfrage zur unzulässigen Wahlbeeinflussung einer Gremienwahl Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Rechtslage Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG erklärt, dass die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt werden. Diese Wahlrechtsgrundsätze sind parallel auch für zahlreiche weitere Gremien normiert. So zum Beispiel in Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG für die Wahlen in Ländern, Kreisen und Gemeinden. Auch für privatrechtliche Institutionen sind diese Grundsätze mitunter normiert. Bei Wahlen, die nicht dem Demokratieprinzip entsprechen , wird bei der Anwendung und Auslegung der Wahlrechtsgrundsätze jedoch insbesondere nach dem Charakter der jeweiligen Wahl und der Institution differenziert.1 Die allgemeinen demokratischen Grundsätze gelten beispielsweise auch für die Vertreterversammlung einer Genossenschaft.2 Nach § 43a Abs. 4 S. 1, 1. HS Genossenschaftsgesetz werden die Vertreter „in allgemeiner, unmittelbarer, gleicher und geheimer Wahl gewählt“. Als ungeschriebener Wahlrechtsgrundsatz soll nach der Literatur3 und Rechtsprechung4 auch die Wahlfreiheit im Rahmen der Wahl der Vertreterversammlung gelten. Ein Verstoß gegen die Wahlrechtsgrundsätze hat zur Folge, dass die Wahlen analog § 241 Nr. 3 Aktiengesetz nichtig sind.5 3. Freiheit der Wahl Durch den Grundsatz der Freiheit der Wahl wird die Wahlausübung gegen Zwang und andere unzulässige Wahlbeeinflussung von außen gesichert.6 Es soll für den Wählenden die freie Willensbildung beim Wahlakt geschützt werden.7 Eine gewisse Wahlbeeinflussung ist aufgrund eines Wahlkampfs, in dem die Kandidaten für sich und ihre Ideen werben, unvermeidlich. Jedoch 1 Schreiber, in: Berliner Kommentar zum GG, 41. EGL, Juli 2013, Art. 38, Rn. 81. 2 Geibel, in: Henssler/Strohn (Hrsg.), Gesellschaftsrecht, 4. Auflage 2019, § 43a GenG, Rn. 9; Fandrich, in: Pöhlmann /Fandrich/Bloehs (Hrsg.), Genossenschaftsgesetz, 4. Auflage 2012, § 43a, Rn. 13. 3 Fandrich, in: Pöhlmann/Fandrich/Bloehs (Hrsg.), Genossenschaftsgesetz, 4. Auflage 2012, § 43a, Rn. 13. 4 BGH, Urteil vom 15.1.2013 – II ZR 03/11, Rn. 40. 5 BGH, Urteil vom 22.3.1982 – II ZR 219/81, NJW 1982, 2558; Fandrich, in: Pöhlmann/Fandrich/Bloehs (Hrsg.), Genossenschaftsgesetz, 4. Auflage 2012, § 43a, Rn. 13. 6 BVerfG, Urteil vom 10.4.1997 – 2 BvF 1/95, BVerfGE 95, 335, 350; Klein, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, 60. EGL, Oktober 2010, Art. 38, Rn. 107; Guckelberger, JA 2012, 561, 564. 7 BVerfG, Urteil vom 2.3.1977 – 2 BvE 1/76, BVerfGE 44, 125, 139; Badura, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz , 193. EGL, Oktober 2018, Anh. z. Art. 38, Rn. 29; Meyer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, 3. Auflage 2005, Band III, § 46, Rn. 23. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 120/20 Seite 4 müssen sich amtliche Stellen einer Wahlbeeinflussung grundsätzlich enthalten.8 Eine amtsseitige Beeinflussung des Wählerwillens würde auch gegen das Neutralitätsgebot verstoßen.9 Andernfalls könnten die jeweiligen Amtsinhaber Einfluss auf den Ausgang der Wahl nehmen. Entscheidend ist insoweit der Einsatz von staatlichen Mitteln zur Wahlbeeinflussung.10 Dies gilt bei anderen Institutionen auch für den Einsatz von deren Mitteln. Das Wahlverfahren darf nicht so gestaltet werden, dass „die Entschließungsfreiheit des Wählers in einer innerhalb des gewählten Wahlsystems vermeidbaren Weise verengt“ wird.11 Die Wahlfreiheit gilt also insbesondere auch für den eigentlichen Wahlakt.12 Dies umfasst auch die Gestaltung des Stimmzettels, von dem keine Beeinflussung ausgehen darf.13 „Die amtlichen Stimmzettel müssen daher so beschaffen sein, dass eine potenzielle Beeinflussung des Wählerwillens zu Gunsten oder zu Ungunsten einzelner Wahlvorschläge ausgeschlossen wird. Die formale Wahlrechtsgleichheit muss insoweit in der Gestaltung des Stimmzettels ihren formal-gestalterischen Ausdruck finden. Danach darf ein Stimmzettel keine für eine Orientierung des Wählers nicht erforderlichen Zeichen enthalten. Nur so kann sichergestellt werden, dass das Abstimmungsverhalten der Wähler durch die Gestaltung der Stimmzettel nicht beeinflusst und das Wahlergebnis dadurch zu Gunsten einzelner Wahlbewerber verfälscht wird.“14 Der Saarländische Verfassungsgerichtshof hat mit dieser Rechtsprechung einen Stimmzettel mit einem neutralen Orientierungspfeil für die Stimmvergabe, der optisch zwei Millimeter in das Feld des ersten Wahlbewerbers ragte, für unzulässig gehalten.15 Bei den Wahlrechtsgrundsätzen sind Einschränkungen zulässig, wenn ein zwingender Grund dies rechtfertigt.16 8 Meyer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, 3. Auflage 2005, Band III, § 46, Rn. 24; Klein, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, 60. EGL, Oktober 2010, Art. 38, Rn. 109. 9 Schreiber, in: Berliner Kommentar zum GG, 41. EGL, Juli 2013, Art. 38, Rn. 106. 10 BVerfG, Urteil vom 2.3.1977 – 2 BvE 1/76, BVerfGE 44, 125; Meyer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, 3. Auflage 2005, Band III, § 46, Rn. 24. 11 BVerfG, Urteil vom 10.4.1997 – 2 BvF 1/95, BVerfGE 95, 335, 350; BVerfG, Beschluss vom 15.2.1978 – 2 BvR 134, 268/76, BVerfGE 47, 253, 283; Schreiber, in: Berliner Kommentar zum GG, 41. EGL, Art. 38, Rn. 98. 12 Schreiber, in: Berliner Kommentar zum GG, 41. EGL, Juli 2013, Art. 38, Rn. 98. 13 Guckelberger, JA 2012, 561, 565. 14 SaarlVerfGH, Urteil vom 29.9.2011 − Lv 4/11, NVwZ-RR 2012, 16. 15 SaarlVerfGH, Urteil vom 29.9.2011 − Lv 4/11, NVwZ-RR 2012, 16. 16 Klein, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, 60. EGL, Oktober 2010, Art. 38, Rn. 108. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 120/20 Seite 5 4. Gleichheit der Wahl Die Wahlrechtsgleichheit ist ein gegenüber Art. 3 Abs. 1 GG spezieller Gleichheitssatz.17 Sie umfasst auch den Grundsatz der Chancengleichheit und dient damit einem fairen Wettbewerb der Kandidaten.18 Daraus folgt unter anderem, dass die Reihenfolge der Kandidierenden auf dem Stimmzettel sich nach objektiven Kriterien richten muss.19 Auch eine Beeinträchtigung des Grundsatzes der Gleichheit der Wahl kann aus zwingenden Gründen gerechtfertigt werden.20 Der Grundsatz ist mithin auch als (verfassungsrechtliches) Optimierungsgebot zu verstehen, nach dem etwaige Gleichheitsbeeinträchtigungen möglichst minimiert werden sollen.21 5. Schlussfolgerungen Die Kennzeichnung von Kandidaten auf dem Wahlzettel als bislang amtierende Amtsinhaber widerspricht den Grundsätzen der freien und gleichen Wahl. Die Chancengleichheit wird durch eine solche Gestaltung des Wahlzettels zugunsten bisheriger Amtsinhaber verschoben und benachteiligt neue Kandidaten. Der Wähler wird mit der Gestaltung des Wahlzettels in seiner freien Wahlentscheidung beeinflusst, insbesondere weil ihm für einige Kandidaten so eine zusätzliche Information zur Verfügung steht. Der Verstoß gegen die Wahlrechtsgrundsätze könnte eventuell durch einen zwingenden Grund gerechtfertigt werden. *** 17 Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Auflage 2015, Art. 38, Rn. 99. 18 BVerfG, Urteil vom 10.4.1997 – 2 BvC 3/96, BVerfGE 95, 408, 417; Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, 8. Auflage 2018, Art. 38, Rn. 95; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Auflage 2015, Art. 38, Rn. 99; Klein, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, 60. EGL, Oktober 2010, Art. 38, Rn. 115. 19 HessStGH, NVwZ-RR 1993, 654, 657; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Auflage 2015, Art. 38, Rn. 108. 20 Klein, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, 60. EGL, Oktober 2010, Art. 38, Rn. 123; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Auflage 2015, Art. 38, Rn. 103 m.w.N.; Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, 8. Auflage 2018, Art. 38, Rn. 98. 21 Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Auflage 2015, Art. 38, Rn. 103 m.w.N.