© 2018 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 120/18, WD 7 - 3000 - 094/18, PE 6 - 3000 - 67/18 Beweiserhebung von Untersuchungsausschüssen nach Abkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen und nach dem unionsrechtlichen Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 EUV) Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. 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Juli 2018 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung (Punkte 1, 2.2, 3, 4, 5) WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Umweltschutzrecht, Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Punkt 2.1) PE 6: Fachbereich Europa (Punkt 6) Wissenschaftliche Dienste Seite 3 Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 120/18, WD 7 - 3000 - 094/18, PE 6 - 3000 - 67/18 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Rechtshilfeabkommen Deutschlands mit EU- Mitgliedstaaten 4 2.1. Ausdrückliche Erwähnung von Untersuchungsausschüssen 4 2.2. Optionale Einbeziehung von Untersuchungsausschüssen 5 3. Auslegung von Rechtshilfeabkommen im Lichte von Art. 44 Grundgesetz? 8 3.1. Erstreckung des Art. 44 GG auf internationale Rechtshilfe 8 3.2. Offene Definition von „Justizbehörde“ und „Anordnungsbehörde“ 10 3.3. Strafrechtliche Angelegenheit 12 4. Ersuchen um Rechtshilfe durch andere Mitgliedstaaten der EU 13 5. Stand der wissenschaftlichen Forschung 16 6. Untersuchungsausschüsse und Art. 4 Abs. 3 EUV 17 6.1. Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit 17 6.1.1. Ausgangspunkt: Das Urteil in der Rechtssache Zwartveld 18 6.1.2. Weiterer Prüfungsaufbau 19 6.1.3. Grundsatz der Vertragsakzessorietät 19 6.1.4. Begründung einer Pflicht zur Rechtshilfe bzw. Amtshilfe 20 6.1.4.1. Untersuchungsausschuss anstelle eines Gerichts 20 6.1.4.2. Mitgliedstaat anstelle eines Unionsorgans 21 6.1.5. Zwischenergebnis 23 6.2. Durchsetzung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit 24 6.3. Auf den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gestützte Rechtshilfeersuchen 24 6.4. Literatur zum Themenkreis 24 Wissenschaftliche Dienste Seite 4 Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 120/18, WD 7 - 3000 - 094/18, PE 6 - 3000 - 67/18 1. Fragestellung Die für einen Untersuchungsausschuss relevanten Beweismittel können sich unter Umständen im Besitz einer öffentlichen oder privaten Stelle in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union befinden. Es stellt sich die Frage, ob sich aus Rechtshilfeabkommen oder aus Art. 4 Abs. 3 Vertrag über die Europäische Union (EUV) eine Verpflichtung ergibt, einem Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags Beweismittel zur Verfügung zu stellen. 2. Rechtshilfeabkommen Deutschlands mit EU-Mitgliedstaaten 2.1. Ausdrückliche Erwähnung von Untersuchungsausschüssen Der Rechtshilfeverkehr in der EU richtet sich nach Auskunft des Bundesamtes für Justiz im Hinblick auf mittlerweile fast alle EU-Mitgliedstaaten nach der Richtlinie Europäische Ermittlungsanordnung 1 sowie nach den zu ihrer Umsetzung im jeweiligen nationalen Recht getroffenen Regelungen. Informationen zu der Frage, welche EU-Mitgliedstaaten die Richtlinie Europäische Ermittlungsanordnung umgesetzt haben, seien auf der Internetseite des Europäischen Justiziellen Netzes in Strafsachen zugänglich.2 Soweit Mitgliedstaaten an die Richtlinie Europäische Ermittlungsanordnung nicht gebunden seien (Dänemark und Irland) oder die Richtlinie noch nicht umgesetzt hätten oder Maßnahmen vom Anwendungsbereich der Richtlinie nicht erfasst würden, stützt sich der Rechtshilfeverkehr laut Bundesamt für Justiz auf das Übereinkommen vom 29. Mai 2000 über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union3 (EU-Übereinkommen 2000) in Verbindung mit dem Protokoll vom 16. Oktober 2001 zu dem Übereinkommen vom 29. Mai 2000 über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union.4 Je nach Fallgestaltung kommt auch noch das Übereinkommen des Europarats über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. April 1959 (EuRhÜbk) zur Anwendung. Zu der Frage, welche bilateralen Übereinkommen nach Maßgabe von Art. 34 Abs. 3 Richtlinie Europäische Ermittlungsanordnung weiterhin anwendbar sind, hat das Bundesamt für Justiz auf eine Notifizierung der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der Europäischen Union vom 14. März 2017 zur Umsetzung der Richtlinie Europäische Ermittlungsanordnung verwiesen. Danach handelt es sich im Einzelnen um die folgenden Abkommen: Vertrag vom 24. Oktober 1974 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik zu dem Europaras-Übereinkommen 1959 vom 20. April 1959 über die Rechtshilfe in Strafsachen (BGBl. II 1978 S. 328); 1 Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen, ABl. EU vom 1.5.2014 L 130/1. 2 https://www.ejn-crimjust.europa.eu/ejn/EJN_Library_StatusOfImpByCat.aspx?CategoryId=120. 3 https://www.ejn-crimjust.europa.eu/ejn/libcategories.aspx?Id=374. 4 https://www.ejn-crimjust.europa.eu/ejn/libcategories.aspx?Id=395. Wissenschaftliche Dienste Seite 5 Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 120/18, WD 7 - 3000 - 094/18, PE 6 - 3000 - 67/18 Vertrag vom 24. Oktober 1979 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Italienischen Republik über die Ergänzung des Europarat-Übereinkommens 1959 vom 20. April 1959 über die Rechtshilfe in Strafsachen und die Erleichterung seiner Anwendung (BGBl. II 1982 S. 111); Vertrag vom 30. August 1979 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande über die Ergänzung des Europarat-Übereinkommens 1959 vom 20. April 1959 über die Rechtshilfe in Strafsachen und die Erleichterung seiner Anwendung (BGBl. II 1981 S. 1158); Vertrag vom 20. März 2005 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande über die grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit und die Zusammenarbeit in strafrechtlichen Angelegenheiten (BGBl. II 2006 S. 194); Vertrag vom 31. Januar 1972 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über die Ergänzung des Europarats-Übereinkommens 1959 vom 20. April 1959 über die Rechtshilfe in Strafsachen und die Erleichterung seiner Anwendung (BGBl. II 1975 S. 1157); Vertrag vom 10. November und 19. Dezember 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über grenzüberschreitende Zusammenarbeit zur polizeilichen Gefahrenabwehr und in strafrechtlichen Angelegenheiten (BGBl. II 2005 S. 858); Vertrag vom 31. Mai 1988 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über Amts- und Rechtshilfe in Verwaltungssachen (BGBl. II 1990 S. 357); Vertrag vom 17. Juli 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Ergänzung des Europarat-Übereinkommens 1959 vom 20. April 1959 über die Rechtshilfe in Strafsachen und die Erleichterung seiner Anwendung (BGBl. II 2004 S. 530); Vertrag vom 28. April 2015 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik über die polizeiliche Zusammenarbeit und zur Änderung des Vertrages vom 2. Februar 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik über die Ergänzung des Europarat-Übereinkommens 1959 über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. April 1959 und die Erleichterung seiner Anwendung (BGBl. II 2016 S. 474). Keines dieser Abkommen bezieht parlamentarische Untersuchungsausschüsse generell ausdrücklich ein. 2.2. Optionale Einbeziehung von Untersuchungsausschüssen Allerdings sieht Art. 24 des Europarats-Übereinkommens 1959 über die Rechtshilfe in Strafsachen vor, dass jede Vertragspartei selbst definiert, welche ihrer Stellen unter den Begriff „Justizbehörde “ fallen: „Jede Vertragspartei kann bei der Unterzeichnung dieses Übereinkommens oder der Hinterlegung ihrer Ratifikations- oder Beitrittsurkunde durch eine an den Generalsekretär des Wissenschaftliche Dienste Seite 6 Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 120/18, WD 7 - 3000 - 094/18, PE 6 - 3000 - 67/18 Europarats gerichtete Erklärung die Behörden bezeichnen, die sie als Justizbehörden im Sinne dieses Übereinkommens betrachtet.“ Die deutsche Regierung hat in ihrer Erklärung zu Art. 24 parlamentarische Untersuchungsausschüsse nicht als Justizbehörde aufgelistet.5 Damit steht Untersuchungsausschüssen aus Deutschland das Abkommen für ihre Beweiserhebung nicht zur Verfügung. Entsprechendes gilt für das EU-Abkommen 2000.6 Italien hingegen hat – wohl als einziger Mitgliedstaat des Übereinkommens7 – eine „Commissione Parlamentare di Inchiesta“ (parlamentarische Untersuchungskommission) ausdrücklich für sich als Justizbehörde im Sinne des Europarat-Übereinkommens definiert.8 Damit kann Italien für seine parlamentarischen Untersuchungen Rechtshilfe von allen Mitgliedstaaten des Übereinkommens in Anspruch nehmen.9 Diese Erklärung Italiens wirkt auch für den vorgenannten bilateralen Vertrag vom 24. Oktober 1979 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Italienischen Republik,10 da dieser Vertrag das Europäische Übereinkommen vom 20. April 1959 über die Rechtshilfe in Strafsachen nur „ergänzt“. Ferner wirkt die Erklärung Italiens auch für das EU-Abkommen 2000.11 Zu nennen ist noch die offen formulierte Erklärung der Schweiz zu Art. 24 des Europarat-Übereinkommens 1959: Zu „Justizbehörden“ im Sinne des Übereinkommens gehören auch „Behörden, die das […] Bundesgesetz ermächtigt, eine Untersuchung in Strafsachen durchzuführen, Zwangsmaßnahmen zu treffen und Vorladungen auszusprechen, und Entscheidungen in einem Verfahren 5 Erklärung vom 2. Oktober 1976, BGBl. II 1799; siehe auch https://www.coe.int/de/web/conventions/full-list/- /conventions/treaty/030/declarations?p_auth=2Kon6KGP. 6 https://www.ejn-crimjust.europa.eu/ejn/libdocumentproperties.aspx?Id=622. 7 Die Erklärung Deutschlands verändert die Erklärung zum Europarats-Übereinkommen nur unwesentlich hinsichtlich einer Kontaktstelle, https://www.coe.int/de/web/conventions/full-list/-/conventions/treaty/030/declarations ?p_auth=2Kon6KGP. 8 Erklärung Italiens vom 25. August 1977: „[T]he following authorities shall be deemed judicial authorities […]: […] Parliamentary Commission of Enquiry [la Commissione Parlamentare di Inchiesta]“, https://www.coe.int/de/web/conventions/full-list/-/conventions/treaty/030/declarations?p_auth=2Kon6KGP; zu einem Fall aus der Praxis siehe unten unter Nr. 4. 9 Zu einem Praxisfall siehe unten Nr. 4. 10 BGBl. II 1982 S. 111. 11 Erklärung Italiens zu Art. 24: „The judicial authorities competent to issue requests for mutual legal assistance are those set out in the declarations made by Italy in relation to the Convention on Mutual Assistance signed in Strasbourg on 20 April 1959“, http://www.consilium.europa.eu/en/documents-publications/treaties-agreements /ratification/?id=2000023&partyid=I&doclanguage=en. Wissenschaftliche Dienste Seite 7 Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 120/18, WD 7 - 3000 - 094/18, PE 6 - 3000 - 67/18 zu treffen, das mit einer Strafsache verbunden ist.“12 Dabei hält es sich die Schweiz offen, bei jedem Rechtshilfeersuchen den Begriff „Justizbehörde“ erneut klarzustellen: „Aufgrund der unterschiedlichen Funktionsnamen dieser Behörden wird die zuständige Behörde bei der Beantragung eines Rechtshilfeersuchens bei Bedarf jederzeit ausdrücklich bestätigen, dass es sich um eine Justizbehörde im Sinne des Übereinkommens handelt.“13 Die Kommentierung zum Parlamentsgesetz (ParlG) behandelt das Thema „internationale Rechtshilfe“ soweit ersichtlich nicht.14 Eine Literaturstimme verneint die Anwendbarkeit des ER-Abkommens auf Schweizer Untersuchungskommissionen , geht aber nicht auf die Möglichkeit ein, dass die Schweiz eine Erklärung zum ER- Abkommen abgeben könnte.15 Die Untersuchungskommission kann sich mit Straftaten befassen und hat das Recht auf Aktenherausgabe und Zeugenvernehmung (Art. 166 Abs. 5, Art. 171 Abs. 2 ParlG). Diese Gründe ließen sich dafür anführen, eine Untersuchungskommission als Schweizer „Justizbehörde“ anzusehen. Aus den Abschlussberichten der bislang insgesamt vier Untersuchungskommissionen der Bundesversammlung ergibt sich jedoch nicht, dass die Bundesversammlung einen ausländischen Staat schon einmal nach dem Europarats-Übereinkommen 1959 um Rechtshilfe ersucht hat. Art. 3 lit. c Nr. ii der Richtlinie Europäische Ermittlungsanordnung enthält eine ähnliche Öffnungsklausel wie das Europäische Übereinkommen: Anordnungsbehörde ist „jede andere vom Anordnungsstaat bezeichnete zuständige Behörde, die in dem betreffenden Fall in ihrer Eigenschaft als Ermittlungsbehörde in einem Strafverfahren nach nationalem Recht für die Anordnung der Erhebung von Beweismitteln zuständig ist.“ Jedoch hat keiner der Mitgliedstaaten einen Untersuchungsausschuss als Anordnungsbehörde benannt.16 12 Erklärung des Ständigen Vertreters der Schweiz beim Europarat vom 11. Dezember 1985; Übersetzung des Autors aus dem französischen Original („les autorités habilitées par le droit cantonal ou fédéral à instruire des affaires pénales, à décerner des mandats de répression et à prendre des décisions dans une procédure liée à une cause pénale“), https://www.coe.int/de/web/conventions/full-list/-/conventions/treaty/030/declarations ?p_auth=2Kon6KGP. 13 Erklärung des Ständigen Vertreters der Schweiz beim Europarat vom 11. Dezember 1985; Übersetzung des Autors aus dem französischen Original („En raison des différences qui existent quant aux dénominations de fonction de ces autorités, l'autorité compétente confirmera expressément chaque fois qu'il le faudra, au moment de transmettre une demande d'entraide judiciaire, qu'elle est une autorité judiciaire au sens de la Convention“), https://www.coe.int/de/web/conventions/full-list/-/conventions/treaty/030/declarations?p_auth=2Kon6KGP. 14 Theler u.a., Parlamentsrecht und Parlamentspraxis der Schweizerischen Bundesversammlung, Kommentar zum Parlamentsgesetz (ParlG) vom 13. Dezember 2002, Art. 165 Rn. 7. Ein Urteil des Bundesgerichts (Fn. 39) betrifft nur deutsche UAs und eine Situation, wo keine Erklärung der Regierung zum Anwendungsbereich des Abkommens vorliegt. 15 Zimmermann, Rechte und Rechtsschutz im Verfahren parlamentarischer Untersuchungskommissionen des Bundes, 1992, S. 108. 16 European Judicial Network, Directive 2014/41/EU of 3 April 2014 regarding the European Investigation Order in criminal matters - Competent authorities and languages, https://www.ejn-crimjust.europa.eu/ejnupload /EIO/Additional_info_EIO_EJN.PDF. Wissenschaftliche Dienste Seite 8 Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 120/18, WD 7 - 3000 - 094/18, PE 6 - 3000 - 67/18 3. Auslegung von Rechtshilfeabkommen im Lichte von Art. 44 Grundgesetz? 3.1. Erstreckung des Art. 44 GG auf internationale Rechtshilfe Nach Art. 44 Abs. 2 S. 1 Grundgesetz (GG) finden „auf Beweiserhebungen […] die Vorschriften über den Strafprozess sinngemäß Anwendung.“ Es stellt sich die Frage, ob hierzu auch die internationale Zusammenarbeit mit anderen Staaten in Strafsachen (internationale Rechtshilfe) gehört. Diese ist wie folgt geregelt: Vorrangig gilt ein „schwer zu entwirrendes ‚Netzwerk‘“17 an bi- und multilaterale Übereinkommen , das die Kommentierung auch als „Vertragschaos“18 bezeichnet. Für die Mitgliedstaaten der EU gelten die unter Nr. 2 dargestellten vier europäischen bzw. zwischenstaatlichen Regelungen, sowie mehrere bilaterale Abkommen. Insoweit keine Übereinkommen bestehen oder nicht abschließend sind, greift das Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG).19 Überwiegend greift die Kommentierung die Frage gar nicht auf, ob die Verweisung des Art. 44 Abs. 2 S. 1 GG auch für die Rechtshilfe gilt.20 Insoweit sich die Kommentierung mit der Frage befasst, fallen die Ausführungen eher kurz und zum Teil widersprüchlich aus; nationale Rechtshilfegesetze (wie das IRG) finden überhaupt keine Erwähnung: Gärditz zufolge kann sich ein Untersuchungsausschuss „analog den Kompetenzen der Staatsanwaltschaft um die Beschaffung von Beweismitteln im Ausland bemühen […]; deutsche Stellen haben hierbei ggf. nach Art. 44 Abs. 3 GG Amtshilfe zu leisten.“21 Hiervon geht offenbar auch Brocker aus, der die Vernehmung von im Ausland befindlichen Zeugen bejaht, insoweit die Voraussetzung der Strafprozessordnung und des Völkerrechts 17 Vogel, in: Grützner/Pötz/Kreß, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, Loseblatt, Stand Juni 2010, § 1 IRG Rn. 58. 18 Schomburg, öJBl 1997, 553 (560); zustimmend Vogel, in: Grützner/Pötz/Kreß, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, Loseblatt, Stand Juni 2010, § 1 IRG Rn. 56. 19 Vogel, in: Grützner/Pötz/Kreß, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, Loseblatt, Stand Juni 2010, § 1 IRG Rn. 25. 20 Nicht problematisiert insbesondere von: Klein, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 81. EL September 2017, Art. 44 Rn. 206; Pieper/Spoerhase, Untersuchungsausschussgesetz, § 17 Rn. 1, § 20 Rn. 1; Ambos/Poschadel, in: Ambos/König/Rackow, Rechtshilferecht in Strafsachen, 2015, S. 58; Lagodny, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl. 2012, § 59 Rn. 10-15; Popp, Grundzüge der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen, 2000, Rn. 124 f. 21 Gärditz, in: Waldhoff/Gärditz, PUAG, 2015, Vorbemerkung E, Rn. 11 („Als Nebenstrafverfahrensrecht erfasst die Verweisung [in Art. 44 Abs. 2 S. 1 GG] schließlich auch Vorschriften über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen“), unter Verweis auf Roßbach, § 20 Rn. 9; auch die sonstige Kommentierung behandelt ausländische Beweismittel ausschließlich in Bezug auf Zeugen: Glauben/Brocker, Das Recht der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern, 2016, S. 706, Sachregister „Auslandszeugen“. Wissenschaftliche Dienste Seite 9 Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 120/18, WD 7 - 3000 - 094/18, PE 6 - 3000 - 67/18 erfüllt sind.22 Nach dieser Auffassung können sich Untersuchungsausschüsse grundsätzlich auch auf das Recht der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen berufen – insoweit es im Einzelnen anwendbar ist. Peters geht offenbar ebenfalls davon aus, dass Art. 44 Abs. 2 S. 1 GG auch auf die internationale Rechtshilfe in Strafsachen verweist. Er hält es aber für „zweifelhaft […], dass die europäischen Abkommen für ‚Strafsachen‘ für Ladungen durch Untersuchungsausschüsse gelten, da sie keine Strafgerichte sind“.23 Ferner verneint eine Reihe weiterer Literaturstimmen am Rande die Anwendbarkeit internationaler Rechtshilfeabkommen auf Untersuchungsausschüsse. Damit bejahen diese Stimmen aber offenbar die gedanklich vorgelagerte Frage, ob die Verweisung des Art. 44 Abs. 2 S. 1 GG im Grundsatz auch die internationale Rechtshilfe mit einschließt.24 Die Auffassung vorgenannter Literaturstimmen kann sich auf die folgende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stützen: „Die Auslegung des Art. 44 GG und der das Untersuchungsausschussrecht konkretisierenden Vorschriften des Untersuchungsausschussgesetzes hat, insbesondere bei der Frage, welche Befugnisse einem Untersuchungsausschuss zustehen, zu berücksichtigen, dass diese Bestimmungen die Voraussetzungen für eine wirksame parlamentarische Kontrolle schaffen sollen […].“25 „Zur Beweiserhebung iSd Art. 44 I 1 GG zählt nicht nur die Beweisaufnahme im engeren Sinne (§ 244 I StPO), sondern der gesamte Vorgang der Beweisverschaffung, Beweissicherung und Beweisauswertung […].“26 „Art. 44 II 1 GG bezieht auch [eine Vorschrift] […] in seine Verweisung ein […], [die] […] erst nach Inkrafttreten des Grundgesetzes geschaffen wurde[n]. Dies ergibt sich 22 Brocker, in: Glauben/Brocker, Das Recht der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern, 3. Auflage, 2016, Kapitel 19 Rn. 19a, und § 20 PUAG Rn. 1a. 23 Peters, Untersuchungsausschussrecht, 2012, Rn. 296. 24 Bauer, Das sichere Geleit, 2006, S. 242 (ER-Abkommen auf UAs nicht anwendbar); Simonis, Das parlamentarische Untersuchungsrecht im Bundesstaat, 1991, S. 205 (UAs werden von internationalen Abkommen „nicht erfasst“); offengelassen: Gollwitzer, in Löwe-Rosenberg, StPO, Bd. IV, 25. Aufl. 2001, § 295 Rn. 24 Fn. 43 (Rechtshilfe- Übereinkommen hinsichtlich freies Geleit auf UAs nicht anwendbar); Stuckenberg, in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2013, § 295 Rn. 24 Fn. 43; Unger, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 44 Rn. 101 (fehlende „Gebietshoheit“ über Auslandszeugen). 25 Beschluss vom 17. Juni 2009, 2 BvE 3/07, BND-Ausschuss, Rn. 105 (Hervorhebung durch Autor). 26 Beschluss vom 13. Oktober 2016, 2 BvE 2/15, NSA-Selektoren, Rn. 109 (Hervorhebung durch Autor). Wissenschaftliche Dienste Seite 10 Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 120/18, WD 7 - 3000 - 094/18, PE 6 - 3000 - 67/18 zwar nicht ohne weiteres aus dem Wortlaut der Verfassungsvorschrift. Deren Sinn und Zweck schließen jedoch eine Auslegung als bloße statische Verweisung aus […].“27 Einer anderen Auffassung folgt möglicherweise Roßbach: „Die in Art. 44 Abs. 2 Satz 1 GG angeordnete sinngemäße Anwendung des Strafprozessrechts auf Untersuchungsausschüsse erstreckt sich nicht auf völkerrechtliche Verträge.“28 Nach dieser engeren Auslegung des Art. 44 GG wäre ein Untersuchungsausschuss von internationalen Rechtshilfeabkommen schon nach nationalem Recht ausgeschlossen. Für die Anwendbarkeit käme es daher auf den Wortlaut der Verträge nicht mehr an. An anderer Stelle geht Roßbach aber offenbar von einer grundsätzlichen Anwendbarkeit der Verträge aus, sieht deren „Wortlaut“ aber – unzutreffender Weise29 – als nicht auf Untersuchungsausschüsse anwendbar.30 Hierzu wiederum steht seine Forderung in Widerspruch, die „grenzüberschreitende [audiovisuelle] Vernehmung [von Zeugen nach § 247a StPO] im Wege der Rechtshilfe zuzulassen“.31 Insoweit internationale Verträge keine Anwendung finden, greift das IRG nach seinem § 1 Abs. 3. Auf das IRG geht Roßbach allerdings nicht ein. Insgesamt ist der Standpunkt Roßbachs nicht ganz klar zu der Frage, ob Art. 44 GG auch die internationale Rechtshilfe mit einbezieht, und falls ja, in welchem Umfang. Die vorgenannte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls spricht für eine solche Einbeziehung. 3.2. Offene Definition von „Justizbehörde“ und „Anordnungsbehörde“ Art. 24 des Europarat-Übereinkommens 1959 über die Rechtshilfe in Strafsachen und Art. 3 lit. c Nr. ii der Richtlinie Europäische Ermittlungsanordnung enthalten eine offene Definition des Anwendungsbereichs. Dieser Anwendungsbereich gilt auch für die oben unter Nr. 2 aufgelisteten bilateralen Verträge, die das Europäische Abkommen lediglich ergänzen. Das EU-Abkommen 2000 findet nach seinem Art. 24 auf die „bereits in dem Europäischen Rechtshilfeübereinkommen“ benannten „Behörden“ Anwendung; die Mitgliedstaaten können weitere „Behörden“ benennen. 27 Beschluss vom 1. Oktober 1987, 2 BvR 1165/86, Neue Heimat, Rn. 72 (Hervorhebung durch Autor). 28 Roßbach, JZ 2014, 975, ohne weitere Nachweise für diese Behauptung (Hervorhebung durch Autor). 29 Siehe oben unter Nr. 2 die offene Definition des Europäischen Übereinkommens sowie die entsprechende Erklärung Italiens; siehe ferner unten unter Nr. 4 die Entscheidung des OLG Karlsruhe. 30 Roßbach, in: Waldhoff/Gärditz, PUAG, 2015, § 20 Rn. 9, 28: Anwendbarkeit scheitert an der „Wortlautgrenze“. 31 Roßbach, in: Waldhoff/Gärditz, PUAG, 2015, § 20 Rn. 27 (Hervorhebung durch Autor). Wissenschaftliche Dienste Seite 11 Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 120/18, WD 7 - 3000 - 094/18, PE 6 - 3000 - 67/18 Damit füllt jeder der Mitgliedstaaten die Definition der Schlüsselbegriffe „Justizbehörde“, „Anordnungsbehörde “ oder „Behörde“ für sich selbst – nach Treu und Glauben32 – aus. Die Erklärung bindet die anderen Mitgliedstaaten. Das Oberlandesgericht Karlsruhe hat bereits 2007 anerkannt, dass Italien seine parlamentarischen Untersuchungskommissionen als Justizbehörden im Sinne des Europarat-Übereinkommens 1959 definiert. Aus diesem Grund hat das Gericht die Pflicht deutscher Behörden zur Rechtshilfe festgestellt .33 Die Auffassung Roßbachs, dass die Anwendung internationaler Abkommen an der „Wortlautgrenze “ scheitere,34 trifft somit nicht zu. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts35 zur möglichst wirksamen Auslegung des Art. 44 Abs. 2 S. 1 GG gebietet es vielmehr, dass deutschen Untersuchungsausschüssen die spiegelbildlichen Rechte zugestanden werden. Für eine verfassungskonforme Auslegung des Europarat-Übereinkommens 1959 – insoweit diese überhaupt zulässig wäre36 – ist jedoch kein Raum: Der Wortlaut von Art. 24 und der Erklärung der Bundesregierung37 vom 2. Oktober 1976 lassen keinen Spielraum zu: Die Erklärung listet die nationalen Stellen abschließend auf. Entsprechendes gilt für die Richtlinie Europäische Ermittlungsanordnung und das EU-Übereinkommen 2000. Allerdings ist die Erklärung der Bundesregierung jederzeit änderbar.38 Insoweit sprechen gute Gründe für eine verfassungsrechtliche Pflicht der Bundesregierung, ihre Erklärungen an Art. 44 Abs. 2 S. 1 GG anzupassen und parlamentarische Untersuchungsausschüsse in europäisches bzw. zwischenstaatliches Rechtshilferecht einzubeziehen , dessen Anwendungsbereich offen formuliert ist. 32 Siehe Art. 26, Art. 31 Abs. 1 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge. Ferner greift beim Europäischen Übereinkommen auch der ordre public-Vorbehalt nach Art. 2 lit. b, bei der RL EEA gilt unter anderem die Grenze des Missbrauchs (EuGH – Kofoed, Rs. C-321/05, ECLI:EU:C:2007:408, Urt. v. 5.7.2007, Rn. 38); siehe auch Vogel, in: Grützner/Pötz/Kreß, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, Loseblatt, Stand Juni 2010, § 1 IRG Rn. 11: „Insbesondere in Fällen missbräuchlicher Qualifikation eines Verfahrens als Strafverfahren durch den ausländischen Staat, der um Rechtshilfe ersucht, wird es regelmäßig dem ordre public widersprechen, Rechtshilfe zu leisten.“ 33 Beschluss des OLG Karlsruhe vom 15. Juni 2007, 1 AK 48/05, unveröffentlicht. 34 Roßbach, in: Waldhoff/Gärditz, PUAG, 2015, § 20 Rn. 9, 28. 35 Siehe oben Fn. 25. 36 Kritisch Winkler, Zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge anhand einzelstaatlichen Verfassungsrechts, NVwZ 1994, 450. 37 Erklärung vom 2. Oktober 1976, BGBl. II 1799; siehe auch https://www.coe.int/de/web/conventions/full-list/- /conventions/treaty/030/declarations?p_auth=2Kon6KGP. 38 Andere Mitgliedstaaten haben ihre Erklärungen zum Europäischen Übereinkommen nachträglich und zum Teil mehrfach geändert, so z. B. auch Italien mit seiner nachträglichen Einbeziehung der parlamentarischen Untersuchungskommissionen . Wissenschaftliche Dienste Seite 12 Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 120/18, WD 7 - 3000 - 094/18, PE 6 - 3000 - 67/18 Die fehlende Einbeziehung von (deutschen) Untersuchungsausschüssen in das Europäische Übereinkommen hat die Wirksamkeit von Beweisaufnahmen vergangener Untersuchungen bereits beeinträchtigt, z. B. in folgenden Fällen: Im Jahr 2000 hatte der „Parteispenden“-Untersuchungsausschuss des Bundestags die Vorlage von Akten eines in der Schweiz geführten Strafverfahrens begehrt. Das Schweizerische Bundesgericht entschied hierzu, dass ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss des deutschen Bundestages nicht unter das Europäische Übereinkommen oder das Schweizer Rechtshilfegesetz fällt.39 Dabei führte das Schweizerische Bundesgericht in Bezug auf das Rechtshilfeabkommen das Argument an, dass die deutsche Bundesregierung parlamentarische Untersuchungsausschüsse nicht in ihre Erklärung vom 2. Oktober 1976 aufgenommen habe. Nur weil die Akten deutschen Strafbehörden zu Zwecken der Strafverfolgung bereits vorlagen, konnte sie der Untersuchungsausschuss letztlich auch verwerten (sogenannte sekundäre Rechtshilfe, d.h. eine als eigenständige Rechtshilfe nicht mögliche Zweitverwertung bereits anderweitig per Rechtshilfe erlangter Beweise). Das französische Justizministerium, die Regierung des Fürstentums Liechtenstein und die Generalstaatsanwaltschaft von Luxemburg haben in den Jahren 2000 und 2001 Rechtshilfeersuchen des „Parteispenden“-Untersuchungsausschusses auf Vorlage von Akten abgelehnt: „Zur Begründung wurde angeführt, dass es sich bei dem Untersuchungsausschuss nicht um eine Justizbehörde im Sinne des Europäischen Rechtshilfeübereinkommens handele und eine Leistung von Rechtshilfe in Ermangelung einer entsprechenden Rechtsgrundlage nicht möglich sei.“40 3.3. Strafrechtliche Angelegenheit Befasst sich ein Untersuchungsausschuss mit allein politischen Sachverhalten ohne jede möglich strafrechtliche Relevanz, handelt es sich nicht um „strafrechtliche Angelegenheiten“ im Sinne der Rechtshilfeabkommen bzw. im Sinne des IRG. Eine strafrechtliche Angelegenheit kommt allerdings bereits dann in Betracht, wenn die Möglichkeit einer Straftat besteht und Vorermittlungen einen Sachverhalt näher beleuchten: Im Fall des italienischen „Mithrokin“-Untersuchungsausschusses hat das OLG Karlsruhe „das Vorliegen einer strafrechtlichen Angelegenheit“ anerkannt, „selbst wenn es sich nicht um ein Straf- oder Ermittlungsverfahren im eigentlichen und engen Sinne handelt“: Dem Untersuchungsausschuss obliege „neben der Aufklärung politischer Zusammenhänge […] auch die Ermittlung von Straftaten“. Das Gesetz über die Einsetzung des Untersuchungsausschusses spricht lediglich von „Verantwortlichkeiten politischer oder administrativer Art“; es stattet den Ausschuss aber „mit Befugnissen und Einschränkungen einer Justizbehörde“ aus.41 39 Schweizerisches Bundesgericht, Urteil vom 29. Mai 2000, 1A.155/2000/bmt. 40 BT-Drs. 14/9300, S. 65. 41 Art. 1 Abs. 1 u. Art. 3 Abs. 1 Gesetz Nr. 90 v. 7. Mai 2002. Wissenschaftliche Dienste Seite 13 Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 120/18, WD 7 - 3000 - 094/18, PE 6 - 3000 - 67/18 Beide Aspekte erinnern an deutsche Untersuchungsausschüsse. Der „Mithrokin“-Untersuchungsausschuss endete im Übrigen ohne konkrete Ergebnisse und mit Mutmaßungen über Sachverhalte aus den 1970er und 80er Jahren.42 Eine strafrechtliche Angelegenheit dürfte bei den meisten der bislang 57 Untersuchungsausschüsse des Bundestages in Betracht kommen. Zum Beispiel ist die strafrechtliche Relevanz bei den Ausschüssen „Steiner-Wienand“,43 „Guillaume“,44 „Flick“45 oder „Parteispenden“46 offensichtlich. Mitunter haben Untersuchungsausschüsse Ermittlungsbehörden bei deren Arbeit über entscheidende Hürden geholfen.47 Selbst Ausschüsse, bei denen auf den ersten Blick eine strafrechtliche Relevanz fernliegt, tauchen Straftatbestände im Abschlussbericht auf. Zum Beispiel weist der Untersuchungsausschuss der 1. Wahlperiode „(Weiter-)Beschäftigung von ehemaligen NS-Funktionären im Auswärtigen Amt“ zunächst in eine rein personalpolitische Richtung. Gleichwohl empfiehlt der Untersuchungsausschuss dem Auswärtigen Amt in seinem Abschlussbericht zu prüfen, ob ein Mitarbeiter wegen „Art und Inhalt seiner [früheren] Aussagen straf- oder disziplinarrechtlich zur Verantwortung gezogen werden soll“.48 4. Ersuchen um Rechtshilfe durch andere Mitgliedstaaten der EU Über eingehende Rechtshilfeersuchen aus EU-Mitgliedstaaten entscheiden die Bundesländer. Die EU-Mitgliedstaaten richten ihre Rechtshilfeersuchen daher auf dem unmittelbaren Geschäftsweg an die Bundesländer und somit nicht über das Bundesamt für Justiz. Das Bundesamt für Justiz hat angegeben, dass vereinzelt Rechtshilfeersuchen aus anderen EU-Staaten eingehen, die sich auf Beweismittel für parlamentarische Untersuchungen, insbesondere Untersuchungsausschüsse, beziehen. Eine amtliche Statistik zur sonstigen Rechtshilfe führt das Bundesamt für Justiz jedoch nicht. Daher – und aufgrund der fehlenden Zuständigkeit – kann es keine konkreten Zahlen oder Vorgänge zur Verfügung stellen.49 Aus öffentlich zugänglichen Quellen lassen sich gleichwohl Beispiele recherchieren, in denen deutsche Stellen mit europäischen und außereuropäischen parlamentarischen Untersuchungen zusammengearbeitet haben: 42 Documento conclusivo sull‘attività svolta e sui risultati dell’inchiesta, Nr. 374 v. 15. März 2006, S. 301. 43 BT-Drs. 7/1803. 44 BT-Drs. 7/3246. 45 BT-Drs. 10/5079. 46 BT-Drs. 14/9300. 47 Hoppe, in: Waldhoff/Gärditz, PUAG, 2015, § 10 Rn. 46. 48 BT-Drs. 1/3465, S. 6; ähnlich der UA „Zurruhesetzung des Generals Dr. Kießling“, BT-Drs. 10/1604, S. 14. 49 Auskunft des Bundesamtes für Justiz gegenüber den Wissenschaftlichen Diensten des Deutschen Bundestages. Wissenschaftliche Dienste Seite 14 Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 120/18, WD 7 - 3000 - 094/18, PE 6 - 3000 - 67/18 Das italienische Justizministerium sandte im Jahr 2005 an das Bundesministerium der Justiz zwei Rechtshilfeersuchen eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses des italienischen Senats.50 Gegenstand des Untersuchungsausschusses war die „Durchdringung und Beeinflussung der italienischen Politik durch den Geheimdienst der ehemaligen Sowjetunion (KGB) und der Nachrichtendienste der anderen Mitgliedstaaten des ehemaligen Warschauer Pakts“. Auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft stellte das Oberlandesgericht Karlsruhe fest, dass die Voraussetzungen für die Leistung von Rechtshilfe teilweise gegeben waren und dem Untersuchungsausschuss Einsichtnahme in die in der Bundesrepublik Deutschland noch vorhandenen und konkret bezeichneten Ermittlungs-/Strafakten zu gewähren war. Mangels Bestimmtheit lehnte das Oberlandesgericht Karlsruhe die Rechtshilfeersuchen ab, insoweit sie sich auf Akten des BND zur Struktur des ehemaligen MfS in Bezug auf Italien bezogen. Offenbar hat der Untersuchungsausschuss von diesem Recht auf Einsichtnahme in Deutschland aber keinen Gebrauch gemacht. In seinem Abschlussbericht erwähnt er zwar die Rechtshilfeersuchen an Deutschland (und andere Staaten), listet dann aber nur „Dienstreisen nach Frankreich und Ungarn“ auf, bei denen „jeweils vom 25. bis 29. Oktober 2004 und 12. bis 14. Dezember 2005 […] für die Zwecke der Untersuchung äußerst interessante Dokumente zur Verfügung gestellt und eingesehen wurden“.51 Grund hierfür dürfte auch sein, dass die Entscheidung des Oberlandesgerichts Karlsruhe erst erging (Juni 2007), als der Untersuchungsausschuss bereits seinen Abschlussbericht verfasst hatte (März 2006). Im Jahr 2011 hat eine Vertreterin des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit per Videoübertragung vor dem „Lords Agriculture, Environment and Fisheries EU Sub-Committee“ des Vereinigten Königreichs ausgesagt im Hinblick auf die dortige Untersuchung der Frischwasser-Politik der EU.52 Das Umweltkommittee des Parlaments des australischen Bundesstaats Victoria hat im Jahr 2015 einen „Evidence‑gathering trip to Germany“ unternommen als Teil einer seiner „Inquiries“:53 „The Committee visited several contaminated sites, including Nürnberg and Düsseldorf airports and a site near the town of Brilon in North Rhine‑Westphalia. […] The 50 Beschluss des OLG Karlsruhe vom 15. Juni 2007, 1 AK 48/05, unveröffentlicht. 51 Abschlussbericht vom 15. März 2006, S. 10, Übersetzung des Autors aus dem italienischen Original, http://www.parlamento.it/application/xmanager/projects/parlamento/file/commissione_mitrokhin _14leg/documentoconclusivo.pdf. 52 UK Parliament, „German Environment Ministry gives evidence to Lords EU Freshwater Inquiry“, https://www.parliament.uk/business/committees/committees-a-z/lords-select/eu-environment-and-agriculturesub -committee-d/news/eu-freshwater-policy---evidence-session-7-dec-2011-/; ähnliche Befragungen deutscher Vertreter durch das Parlament des Vereinigten Königreichs: https://www.parliament.uk/business/committees /committees-a-z/lords-select/eu-economic-and-financial-affairs-and-international-trade-sub-committeea /news/reform-of-the-eu-banking-sector---22nd--23rd-october-2012/; https://www.parliament.uk/business/committees /committees-a-z/lords-select/citizenship-civic-engagement/news-parliament-2017/local-authorities-germany -evidence/. 53 https://www.parliament.vic.gov.au/enrrdc/inquiries/article/2526. Wissenschaftliche Dienste Seite 15 Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 120/18, WD 7 - 3000 - 094/18, PE 6 - 3000 - 67/18 Committee met with several government agencies involved in the regulation of PFCs and remediation of pollution.“ Der Untersuchungsausschuss des Europäischen Parlaments zu „Emissionsmessungen in der Automobilindustrie“ hat mehrere Vertreter deutscher Ministerien und anderer Behörden angehört.54 Der „Nichtständige Ausschuss zur behaupteten Nutzung europäischer Staaten durch die CIA für die Beförderung und das rechtswidrige Festhalten von Gefangenen“ des Europäischen Parlaments hat in mehreren europäischen Staaten Vor-Ort-Termine („fact finding missions“) durchgeführt, unter anderem in Deutschland einschließlich einer Zeugenbefragung.55 Zu erwähnen sind auch Fälle, in denen ausländische Untersuchungsausschüsse die gewünschten Beweismittel aus Deutschland nicht erlangen konnten. So notiert z. B. der „Bericht des Hypo- Untersuchungsausschusses“ des österreichischen Nationalrats: „Die Ladung als Auskunftsperson eines Untersuchungsausschusses stellt einen staatlichen Hoheitsakt dar, der nur im Inland gesetzt werden kann. Nach den allgemeinen Regeln des Völkerrechts dürfen Hoheitsakte im Territorium eines Staates nur durch ihn selbst oder mit seiner Zustimmung erfolgen. Ausnahmen davon durch eine völkerrechtliche Regelung gibt es davon [sic] für den Bereich von Untersuchungsausschüssen nicht. Personen, die ihren Wohnsitz nur im Ausland haben, können daher nur formlos ersucht werden, zur Befragung als Auskunftsperson zu erscheinen. Einer solchen Ladung sind etwa die Auskunftspersonen Bussfeld und Donato gefolgt. Mangels freiwilligen Erscheinens konnten daher etwa Personen, die im Untersuchungszeitraum leitende Funktionen im Bereich der BayernLB sowie des Freistaates Bayern innehatten, nicht als Auskunftsperson befragt werden. Auch seitens der Europäischen Kommission wurde mitgeteilt, dass Kommissionsbeamte nur für schriftliche Fragebeantwortungen zur Verfügung stehen.“56 Im „Handbuch zum Recht der Untersuchungsausschüsse im Nationalrat“ (2017)57 heißt es hierzu: „Keine Verpflichtung [zur Vorlage von Beweismitteln] haben daher Organe anderer Staaten […]. Art. 53 Abs. 3 B-VG [Bundes-Verfassungsgesetz] schließt jedoch nicht aus, dass juristische oder natürliche Personen sowie Organe anderer Staaten oder internationaler 54 Bericht vom 2. März 2017 über die Untersuchung der Emissionsmessungen in der Automobilindustrie (2016/2215(INI)). Die Befugnisse des Ausschusses ergeben sich unter anderem aus Art. 3 Abs. 3 und 8 des Beschlusses des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission vom 6. März 1995 über Einzelheiten der Ausübung des Untersuchungsrechts des Europäischen Parlaments; näher hierzu: Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 63. EL Dezember 2017, Art. 226 AEUV, Rn. 18-20. 55 Bericht vom 30. Januar 2007 über die behauptete Nutzung europäischer Staaten durch die CIA für die Beförderung und das rechtswidrige Festhalten von Gefangenen (2006/2200(INI)). 56 1291 der Beilagen XXV. GP - Ausschussbericht NR – Berichterstattung, S. 12. 57 S. 285, https://www.parlament.gv.at/ZUSD/PDF/Handbuch_zum_Recht_der_Untersuchungsausschuesse _im_Nationalrat.pdf. Wissenschaftliche Dienste Seite 16 Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 120/18, WD 7 - 3000 - 094/18, PE 6 - 3000 - 67/18 Organisationen einem UsA [Untersuchungsausschuss] auf Ersuchen oder freiwillig Akten und Unterlagen vorlegen.“ 5. Stand der wissenschaftlichen Forschung Die folgenden Wissenschaftler haben sich mit der Frage befasst, inwieweit ein Untersuchungsausschuss ausländische Beweismittel erheben kann: Lars Brocker, Präsident des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz und des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz (in: Glauben/Brocker, Das Recht der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern, 3. Auflage, 2016, Kapitel 19 Rn. 19a: „Allerdings sind Zeugenladungen nur dann zulässig, wenn der Aufenthaltsstaat im Einzelfall ausdrücklich eingewilligt hat oder entsprechende völkerrechtliche Abkommen bestehen. Denn die Ladung eines Zeugen im Ausland, auch wenn er die Staatsbürgerschaft des Staates besitzt, der ihm die Ladung zukommen lässt, erweist sich völkerrechtlich als Ausübung deutscher Hoheitsgewalt.“; § 20 PUAG Rn. 1a: „Für so genannte Auslandszeugen, also Personen, die ihren Wohnsitz im Ausland haben, gilt es zu differenzieren: Deutsche Staatsbürger trifft in diesem Fall die grundsätzliche Zeugnispflicht. Indes sind Zeugenladungen nur zulässig, wenn der Aufenthaltsstaat im Einzelfall der Zustellung der Ladung als Ausübung deutscher Hoheitsgewalt entweder ausdrücklich zugestimmt hat oder ein entsprechendes völkerrechtliches Abkommen besteht.“). Paul J. Glauben, Ministerialdirigent, Leiter Abteilung II Wissenschaftlicher Dienst des Landtags Rheinland-Pfalz (in: Glauben/Brocker: Das Recht der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern, 3. Auflage 2016, § 20 PUAG, Rn. 1a: „Indes sind Zeugenladungen nur zulässig, wenn der Aufenthaltsstaat im Einzelfall der Zustellung der Ladung als Ausübung deutscher Hoheitsgewalt entweder ausdrücklich zugestimmt hat oder ein entsprechendes völkerrechtliches Abkommen besteht. Ausländische Staatsbürger, die sich nicht im Bundesgebiet aufhalten, trifft mangels einer Gebiets- und Personalhoheit nicht einmal eine Zeugnispflicht“ (Nachweise ausgelassen). Klaus-Ferdinand Gärditz, Professor für Öffentliches Recht, Universität Bonn (in: Waldhoff/ Gärditz, PUAG, 2015, Vorbemerkung E, Rn. 11: „Als Nebenstrafverfahrensrecht erfasst die Verweisung [in Art. 44 Abs. 2 S. 1 GG] schließlich auch Vorschriften über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen“). Butz Peters, Rechtsanwalt Berlin (in: derselbe, Untersuchungsausschussrecht, 2012, Rn. 296: „Zweifelhaft erscheint, dass die europäischen Abkommen für ‚Strafsachen‘ für Ladungen durch Untersuchungsausschüsse gelten, da sie keine Strafgerichte sind“). Matthias Roßbach, Referent, Landesvertretung Nordrhein-Westfalen (in: Waldhoff/Gärditz, PUAG, 2015, § 20 Rn. 9, 28: Anwendbarkeit von Rechtshilfeabkommen auf Untersuchungsausschüsse scheitert an der „Wortlautgrenze“; siehe auch: Der Auslandszeuge im parlamentarischen Untersuchungsausschuss, JZ 2014, 975: „Die in Art. 44 Abs. 2 Satz 1 GG angeordnete sinngemäße Anwendung des Strafprozessrechts auf Untersuchungsausschüsse erstreckt sich nicht auf völkerrechtliche Verträge“). Wissenschaftliche Dienste Seite 17 Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 120/18, WD 7 - 3000 - 094/18, PE 6 - 3000 - 67/18 Im Bereich der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen sind die folgenden Professoren Mitherausgeber von Standardkommentaren: Kai Ambos, Universitätsprofessor, Universität Göttingen (Ambos/König/Rackow, Rechtshilferecht in Strafsachen, 2015, 1366 Seiten). Otto Lagodny, Universitätsprofessor, Universität Salzburg (Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Auflage, 2012, 3242 Seiten). Wolfgang Schomburg, Honorarprofessor, Durham University (Schomburg/Lagodny/Gleß/ Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Auflage, 2012, 3242 Seiten). 6. Untersuchungsausschüsse und Art. 4 Abs. 3 EUV Ausgangspunkt ist die Frage nach der Verpflichtung von Organen der EU und EU-Mitgliedstaaten zur Unterstützung parlamentarischer Untersuchungen in anderen Mitgliedstaaten. In diesem Abschnitt der Ausarbeitung steht dabei der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit aus Art. 4 Abs. 3 UAbs. 1 Satz 1 EUV im Mittelpunkt. Es wird erörtert, ob aus dem primärrechtlichen Loyalitätsgrundsatz für die Mitgliedstaaten und Organe der EU eine Verpflichtung zur Kooperation bei der Beweiserhebung durch einen Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages folgt (6.1.). Weiterhin ist gefragt worden, wie die aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit folgenden Verbindlichkeiten durchgesetzt werden können (6.2.). Zudem wurde um eine Auflistung der auf den Loyalitätsgrundsatz gestützten Ersuchen an Deutschland um Vorlage von Akten oder Vernehmung von Zeugen für parlamentarische Untersuchungen aus anderen Mitgliedstaaten der EU (6.3.) und Literatur zu diesem Themenkreis gebeten (6.4.). 6.1. Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit Nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit in Art. 4 Abs. 3 UAbs. 1 Satz 1 EUV achten und unterstützen sich die Union und die Mitgliedstaaten gegenseitig bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben. Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit greift laut dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) nicht nur zwischen der EU und den Mitgliedstaaten, sondern auch im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten.58 Fraglich ist, ob aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit eine Pflicht der EU-Organe wie der Mitgliedstaaten zur gegenseitigen Amtshilfe bzw. Rechtshilfe folgt. Der Begriff der Amtshilfe umfasst dabei Hilfshandlungen, die von Verwaltungsbehörden vorgenommen werden, Rechtshilfe bezeichnet hingegen die Hilfshandlungen eines Gerichts.59 58 EuGH, Urt. v. 22. März 1983, Rs. 42/82 – Kommission/Frankreich, Rn. 36. S. auch Calliess/Kahl/Puttler, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 4 EUV, Rn. 38. 59 Prieß, Die Verpflichtung der Europäischen Gemeinschaft zur Amts- und Rechtshilfe – Zum EuGH-Beschluss vom 13. Juli 1990, EuR 1991, S. 342 (345). Wissenschaftliche Dienste Seite 18 Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 120/18, WD 7 - 3000 - 094/18, PE 6 - 3000 - 67/18 6.1.1. Ausgangspunkt: Das Urteil in der Rechtssache Zwartveld Der EuGH hat in Art. 4 Abs. 3 EUV (bzw. den Vorgängernormen Art. 5 EWGV und Art. 10 EGV) die Rechtsgrundlage für eine Amtshilfe der Unionsorgane gegenüber den Gerichten eines Mitgliedstaats gesehen. In der Rechtssache Zwartveld hatte ein Richter aus den Niederlanden sich an den EuGH gewandt und ausgeführt, er führe eine gerichtliche Voruntersuchung wegen Urkundenfälschung oder Falschbeurkundung unter Verletzung europäischer Vorgaben durch und benötige zur Durchführung des Verfahrens Unterlagen der Kommission. Der EuGH entschied, die Kommission sei aufgrund des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit zur Vorlage der Dokumente verpflichtet, ohne dass zum damaligen Zeitpunkt eine spezielle Rechtsgrundlage hierfür existierte.60 Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichte nicht nur die Mitgliedstaaten, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Geltung und Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten, sondern – so der EuGH – erlege auch den Organen der EU entsprechende Pflichten zur loyalen Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten auf.61 Diese Pflichten könnten sich in einer Pflicht zur Unterstützung eines nationalen Gerichts durch die Kommission konkretisieren. Diese Rechtsprechung hat der EuGH in späteren Urteilen bestätigt. So hielt er 2002 in der Rechtssache First und Franex unter ausdrücklichem Verweis auf seine Entscheidung in der Rechtssache Zwartveld fest: „Benötigt ein nationales Gericht Informationen, über die nur die Kommission verfügt, so verpflichtet der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit in Artikel 10 EG diese, die vom nationalen Gericht erbetenen Informationen unverzüglich zu übermitteln, sofern die Ablehnung einer solchen Übermittlung nicht aus zwingenden Gründen gerechtfertigt ist, die mit der Notwendigkeit im Zusammenhang stehen, Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit und der Unabhängigkeit der Gemeinschaft zu verhindern oder deren Belange zu wahren.“62 Der EuGH hat dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit eine Pflicht zur Informationsübermittlung entnommen. Es ging bei dem Ersuchen des niederländischen Richters in der Rechtssache Zwartveld nicht um Rechtshilfe im engeren Sinne (ein an ein Gericht gerichtetes Ersuchen um spezifisch richterliches Tätigwerden), sondern um Amtshilfe (Unterstützungsleistung einer Verwaltungsbehörde , namentlich der Kommission, durchgesetzt in einem Verfahren vor dem EuGH).63 Der EuGH hat mithin den Loyalitätsgrundsatz als Rechtsgrundlage einer Pflicht von Unionsorganen zur Amtshilfe gegenüber dem Gericht eines Mitgliedstaats angesehen. In der Literatur wird argumentiert , dass die Gründe, aus denen der EuGH in der Rechtssache Zwartveld eine Pflicht der Unionsorgane zur Amtshilfe gegenüber einem nationalen Gericht angenommen hat, auch eine Pflicht von 60 EuGH, Beschluss v. 13. Juli 1990, Rs. C-2/88 – Zwartveld, Rn. 22. 61 EuGH, Beschluss v. 13. Juli 1990, Rs. C-2/88 – Zwartveld, Rn. 17. 62 EuGH, Urt. v. 26. November 2002, Rs. C-275/00 – Kommission/First und Franex, Rn. 49. 63 Söhne, Die Rechtshilfe in der Europäischen Union, 2013, S. 117 f. Wissenschaftliche Dienste Seite 19 Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 120/18, WD 7 - 3000 - 094/18, PE 6 - 3000 - 67/18 EuGH und EuG zur Rechtshilfe begründen könnten.64 In der Literatur ist auch ausgeführt worden, dass die Hilfeleistungen, die eine Behörde bzw. ein Gericht aufgrund des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit zu erbringen verpflichtet ist, nicht auf bestimmte Amtshilfetätigkeiten begrenzt seien. Es falle jede denkbare Hilfeleistung unter den Begriff der derart begründeten Amtshilfe: die Erteilung von Auskünften, die Übersendung von Akten, die Vornahme von Ermittlungen oder die Vernehmung von Zeugen.65 6.1.2. Weiterer Prüfungsaufbau Es gibt zwei Aspekte, die (in Kenntnis des Zwartveld-Urteils) einer Anwendung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit aus Art. 4 Abs. 3 EUV als Grundlage einer Kooperationspflicht der EU-Organe und insbesondere der Organe anderer Mitgliedstaaten mit einem Untersuchungsausschuss des Bundestages entgegenstehen könnten. Zum einen stellt sich die Frage, ob der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit eine konkrete Pflicht zur Amtshilfe bzw. Rechtshilfe insbesondere zwischen den Mitgliedstaaten begründen kann und zweitens ist fraglich, ob die Unterstützung parlamentarischer Untersuchungen der Erfüllung von Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben, dient. Diese beiden Aspekte sollen vorliegend in Bezug auf die Kooperationspflichten gegenüber einem Untersuchungsausschuss eines nationalen Parlaments näher untersucht werden. Zunächst wird geprüft, wie eng eine solche Pflicht mit der Durchsetzung des Unionsrechts verknüpft sein muss (6.1.3.) und anschließend wird die Frage erörtert, ob Art. 4 Abs. 3 EUV eine Pflicht der EU-Organe wie auch zwischen den Mitgliedstaaten zur Rechtshilfe bzw. Amtshilfe gegenüber einem Untersuchungsausschuss in einem konkreten Fall begründen kann (6.1.4.). 6.1.3. Grundsatz der Vertragsakzessorietät Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit greift ausweislich des Art. 4 Abs. 3 UAbs. 1 Satz 1 EUV nur bei der Erfüllung von Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben. Das bedeutet, die Rechtshilfe bzw. Amtshilfe, die – gestützt auf den Loyalitätsgrundsatz – eingefordert wird, muss zur Durchführung bzw. Durchsetzung von Unionsrecht notwendig sein. Sie muss nach Ansicht von Söhne akzessorisch zu einer Unionskompetenz oder einer unionsrechtlichen Regelung sein, indem sie der akzessorischen Funktionssicherung des primären und sekundären Unionsrechts dient.66 Fehlt es an einer direkten oder indirekten Verknüpfung der fraglichen Verpflichtungen mit den Zielen der Verträge, so dass die fragliche Angelegenheit ausschließlich im Bereich des nationalen Rechts liegt, gilt Art. 4 Abs. 3 EUV nicht.67 In der Rechtssache Zwartveld ging das Amtshilfeersuchen von einem nationalen Gericht aus, das zur Verfolgung von Verletzungen einer unionrechtlichen Regelung tätig wurde, und bezog sich 64 Prieß, Die Verpflichtung der Europäischen Gemeinschaft zur Amts- und Rechtshilfe – Zum EuGH-Beschluss vom 13. Juli 1990, EuR 1991, S. 342 (354 f.); Söhne, Die Rechtshilfe in der Europäischen Union, 2013, S. 119 f. 65 Prieß, Die Verpflichtung der Europäischen Gemeinschaft zur Amts- und Rechtshilfe – Zum EuGH-Beschluss vom 13. Juli 1990, EuR 1991, S. 342 (349); Kobor, Kooperative Amtsermittlung im Verwaltungsrecht, 2009, S. 391. 66 Söhne, Die Rechtshilfe in der Europäischen Union, 2013, S. 107 und 111. 67 Calliess/Kahl/Puttler, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 4 EUV, Rn. 47. Wissenschaftliche Dienste Seite 20 Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 120/18, WD 7 - 3000 - 094/18, PE 6 - 3000 - 67/18 auf die Übermittlung von Informationen über Tatsachen, aus denen sich diese Verletzungen ergeben könnten.68 Das Amtshilfeersuchen diente mithin in einem Verfahren zur Durchsetzung des Unionsrechts . Schroeder kommt hinsichtlich des Urteils in der Rechtssache Zwartveld zu dem Ergebnis, der Loyalitätsgrundsatz solle die Geltung und Wirksamkeit des Unionsrechts gewährleisten und sei lediglich Ausdruck der Funktionalität und Effektivität des Unionsrechts.69 Eine darüber hinausgehende Pflicht zur Amtshilfe und Rechtshilfe zwischen Unionsorganen und den Mitgliedstaaten bzw. der Mitgliedstaaten untereinander kann dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach dieser Rechtsansicht nicht entnommen werden. Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV kann mithin nur einen Anspruch auf Amtshilfe bzw. Rechtshilfe begründen, wenn diese Hilfe zur Durchsetzung von Unionsrecht erforderlich ist. 6.1.4. Begründung einer Pflicht zur Rechtshilfe bzw. Amtshilfe Im Folgenden soll überprüft werden, ob der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (in der Ausprägung, die er in der Rechtssache Zwartveld erhalten hat) einen konkreten Anspruch insbesondere zwischen Mitgliedstaaten auf Amtshilfe bzw. Rechtshilfe begründen kann.70 Bei dem vom EuGH in der Rechtssache Zwartveld entschiedenen Sachverhalt handelt es sich um eine besondere Konstellation. Ein nationaler Richter benötigte Unterlagen der Kommission zur Durchführung eines Strafverfahrens, in dem es u. a. um die Verletzung von Unionsrecht ging. Dieser Sachverhalt unterscheidet sich insbesondere in zwei Aspekten von der vorliegend angefragten Konstellation. Auskunft bzw. Aktenübergabe verlangt vorliegend kein Gericht eines Mitgliedstaats, sondern der Untersuchungsausschuss eines nationalen Parlaments. Adressat des Ersuchens sind zudem nicht nur Unionsorgane, sondern auch öffentliche Einrichtungen anderer Mitgliedstaaten. 6.1.4.1. Untersuchungsausschuss anstelle eines Gerichts Die bisherigen Entscheidungen des EuGH zu Auskunftsansprüchen gegenüber der Kommission bezogen sich stets auf Informationsersuchen nationaler Richter.71 Fraglich ist, ob es einen Grund gibt, zwischen den Auskunftsersuchen nationaler Gerichte und denen von Untersuchungsausschüssen der nationalen Parlamente zu differenzieren. 68 EuGH, Beschluss v. 13. Juli 1990, Rs. C-2/88 – Zwartveld, Rn. 22. 69 Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 419 f. 70 Kritisch hierzu, auch in Bezug auf die Amtshilfeverpflichtung von EU-Organen gegenüber den Mitgliedstaaten; Kobor, Kooperative Amtsermittlung im Verwaltungsrecht, 2009, S. 393 f. 71 S. neben Zwartveld und Kommission/First und Franex auch EuGH, Urt. v. 28. Februar 1991, Rs. C-234/89 – Delimitis, Rn. 53. Wissenschaftliche Dienste Seite 21 Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 120/18, WD 7 - 3000 - 094/18, PE 6 - 3000 - 67/18 In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass Untersuchungsausschüsse dem Unionsrecht nicht fremd sind. Gemäß Art. 198 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments72 kann das Europäische Parlament selbst Untersuchungsausschüsse einsetzen, welche ermächtigt sind, nationale Behörden um Auskunft und Mitwirkung zu ersuchen.73 Der EuGH hat in seinen hier zitierten Entscheidungen zum Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit diesen nicht ausdrücklich auf Gerichte beschränkt, allerdings hat er in der Rechtssache Zwartveld ihre Bedeutung für die Durchsetzung von Unionsrecht besonders hervorgehoben.74 Es kann anhand dieser Entscheidungen daher nicht abschließend geklärt werden, ob die Rechtsprechung des EuGH zum Loyalitätsgrundsatz auf nationale parlamentarische Untersuchungsausschüsse übertragen werden kann. 6.1.4.2. Mitgliedstaat anstelle eines Unionsorgans Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit greift nicht nur zwischen der EU und den Mitgliedstaaten , sondern laut EuGH auch zwischen den Mitgliedstaaten untereinander.75 So postulierte der EuGH eine Mitteilungspflicht zwischen den Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten: „Um Behinderungen der Einfuhr zu vermeiden, verlangt die Verpflichtung zur Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, die sich aus dem Gemeinschaftssystem ergibt, daß in einem solchen Fall der Änderung einer Praxis die Behörden des betroffenen Mitgliedstaats vorher über die neue Praxis unterrichtet werden, damit es ihnen nicht unmöglich gemacht wird, sich auf die neue Praxis vorzubereiten und ihr bei der Ausstellung der Dokumente V.A. 1 Rechnung zu tragen.“76 Mithin ist eine Übertragung der in der Rechtssache Zwartveld postulierten Pflicht zur Amtshilfe als Ausprägung des Loyalitätsgrundsatzes auf das Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander grundsätzlich möglich. Die Literatur ist diesbezüglich allerdings zurückhaltend. Zum Teil ist in der Literatur ausdrücklich festgehalten worden, dass Art. 4 Abs. 3 EUV die Mitgliedstaaten nicht zu gegenseitiger Amtshilfe 72 Geschäftsordnung des Europäische Parlaments in der 8. Wahlperiode, abrufbar unter http://www.europarl.europa .eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML+RULES-EP+20150909+0+DOC+PDF+V0//DE&language=DE. 73 Kluth, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 226 AEUV, Rn. 7. 74 EuGH, Beschluss v. 13. Juli 1990, Rs. C-2/88 – Zwartveld, Rn. 18. 75 EuGH, Urt. v. 22. März 1983, Rs. 42/82 – Kommission/Frankreich, Rn. 36. S. auch Calliess/Kahl/Puttler, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 4 EUV, Rn. 38. 76 EuGH, Urt. v. 22. März 1983, Rs. 42/82 – Kommission/Frankreich, Rn. 36. Wissenschaftliche Dienste Seite 22 Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 120/18, WD 7 - 3000 - 094/18, PE 6 - 3000 - 67/18 verpflichte.77 Amtshilfe müsse vom Unionsgesetzgeber vorgeschrieben werden, wie dies beispielsweise mit der Richtlinie 2010/24/EU78 für einen bestimmten Bereich geschehen sei. Solche Pflichten zur Amtshilfe seien – ebenso wie einschlägige Regelungen im nationalen Recht des jeweiligen Mitgliedstaats – unionsrechtskonform im Lichte des Loyalitätsgrundsatzes auszulegen.79 Sie existierten aber nicht allein aufgrund des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit. Calliess/Kahl/Puttler bejahen im Einzelfall eine Pflicht zur horizontalen Amtshilfe zwischen den Behörden der Mitgliedstaaten aus Art. 4 Abs. 3 EUV, allerdings in Verbindung mit speziellen Regelungen des europäischen Sekundärrechts. Aus Art. 4 Abs. 3 EUV allein folgt ihrer Ansicht nach keine generelle Amtshilfepflicht , „allenfalls die Pflicht zur kooperationsfreundlichen Auslegung speziellerer (unionaler oder nationaler) Vorschriften über eine Amts- oder Rechtshilfe im intermitgliedstaatlichen Rechtsverhältnis.“80 Nach Ansicht von Schmidt-Aßmann kann dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit keine umfassende, ungeschriebene Kooperationspflicht der Mitgliedstaaten untereinander entnommen werden.81 Auch Hatje verneint eine grundsätzliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten untereinander zu Amts- und Rechtshilfe aufgrund des Loyalitätsgrundsatzes.82 Wettner steht der Idee einer im Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zu verortenden allgemeinen Verpflichtung nationaler und europäischer Verwaltungsstellen zur gegenseitigen Amtshilfe bei der Durchführung von Unionsrecht verhältnismäßig aufgeschlossen gegenüber.83 Seiner Ansicht nach besteht eine in dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zu verortende allgemeine Amtshilfepflicht der Verwaltungen in gemeinsamen Interesse der effektiven Durchführung des Unionsrechts.84 77 Obwexer, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 4 EUV, Rn. 152; Hatje, in: Schwarze, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 4 EUV, Rn. 79. 78 Richtlinie 2010/24/EU des Rates vom 16. März 2010 über die Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Steuern, Abgaben und sonstige Maßnahmen, ABl. vom 31.3.2010, Nr. L 84/1, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32010L0024&from=DE. 79 Obwexer, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 4 EUV, Rn. 152; Kobor, Kooperative Amtsermittlung im Verwaltungsrecht, 2009, S. 393 ff. 80 Calliess/Kahl/Puttler, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 4 EUV, Rn. 118. 81 Schmidt-Aßmann, Kohärenz und Konsistenz des Verwaltungsrechtsschutz, 2015, S. 108. 82 Hatje, Loyalität als Rechtsprinzip in der Europäischen Union, 2001, S. 73. 83 Wettner, Die Amtshilfe im Europäischen Verwaltungsrecht, 2005, S. 276. 84 Wettner, Die Amtshilfe im Europäischen Verwaltungsrecht, 2005, S. 384. Wissenschaftliche Dienste Seite 23 Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 120/18, WD 7 - 3000 - 094/18, PE 6 - 3000 - 67/18 Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass sich die wohl h.M. in der Literatur einschränkend bis kritisch zu der Frage einer Amtshilfepflicht der Mitgliedstaaten untereinander im Bereich des Unionsrechts allein aufgrund des Loyalitätsgrundsatzes positioniert. Gegen eine allgemeine aus Art. 4 Abs. 3 EUV abzuleitende gegenseitige Amtshilfepflicht der Mitgliedstaaten im Bereich des Unionsrechts spricht der Erlass verschiedener Sekundärrechtsakte, die ausdrücklich in bestimmten Bereichen gegenseitige Amtshilfepflichten der mitgliedstaatlichen Behörden normieren.85 Dies wäre nicht erforderlich, wenn die Behörden bereits gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV grundsätzlich zur gegenseitigen Amtshilfe verpflichtet wären. Auch lassen die Erwägungsgründe der Richtlinie 2010/24/EU erkennen, dass der europäische Gesetzgeber nicht von einer Amtshilfepflicht der Mitgliedstaaten untereinander ausgeht.86 Jedoch spricht der Erlass detaillierten Sekundärrechts primär gegen die Annahme eines standardisierten Amtshilfeanspruchs der Mitgliedstaaten untereinander. Dieser schließt allerdings nicht von vornherein aus, dass der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, neben den im Sekundärrecht standardisiert geregelten Konstellationen, in bestimmten Einzelfällen zu einem konkreten Amtshilfeanspruch eines Mitgliedstaats gegenüber einem anderen Mitgliedstaat führt, wenn dies zur Erfüllung von Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben, erforderlich ist. Der EuGH selbst hat sich, soweit ersichtlich, zu dieser Frage bisher noch nicht geäußert, eine abschließende Feststellung hierzu ist daher nicht möglich. 6.1.5. Zwischenergebnis Es ist fraglich, ob die Konkretisierung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit zu einer Amtshilfepflicht der Kommission gegenüber einem nationalen Gericht durch den EuGH in der Rechtssache Zwartveld den Schluss zulässt, dass der Loyalitätsgrundsatz EU-Organe und insbesondere andere Mitgliedstaaten zur Rechtshilfe bzw. Amtshilfe gegenüber einem Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages verpflichtet. Die Literatur ist bei der Ableitung einer Amtshilfepflicht der Mitgliedstaaten untereinander aus Art. 4 Abs. 3 EUV in der Regel zurückhaltend bis kritisch. Nach der wohl h.M. in der Literatur begründet Art. 4 Abs. 3 EUV zumindest keine generelle Pflicht der Mitgliedstaaten zur gegenseitigen Kooperation.87 85 S. bspw. die Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung […], ABl. vom 11. März 2011, Nr. L 64/1, abrufbar unter https://eur-lex.europa .eu/legal-content/DE/ALL/?uri=CELEX%3A32011L0016 oder die Richtlinie 2013/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über den Zugang zur Tätigkeit von Kreditinstituten und die Beaufsichtigung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen […], ABl. vom 27. Juni 2013, Nr. L 176/338, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?qid=1530525063696&uri=CELEX:32013L0036 (welche in ihrem Art. 59 Abs. 2 die Weitergabe von Informationen an die jeweiligen nationalen parlamentarischen Untersuchungsausschüsse regelt). 86 Richtlinie 2010/24/EU des Rates vom 16. März 2010 über die Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Steuern, Abgaben und sonstige Maßnahmen, ABl. vom 31. März 2010, Nr. L 84/1, Erwägungsgrund Nr. 4 („[…] ist es notwendig, den Anwendungsbereich der Amtshilfe bei der Beitreibung auf Forderungen in Bezug auf Steuern und Abgaben auszuweiten, die noch nicht unter die Amtshilfe fallen, […]“). 87 Schmidt-Aßmann, Kohärenz und Konsistenz des Verwaltungsrechtsschutz, 2015, S. 108. Wissenschaftliche Dienste Seite 24 Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 120/18, WD 7 - 3000 - 094/18, PE 6 - 3000 - 67/18 In jedem Fall wäre für eine Heranziehung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit erforderlich, dass der Untersuchungsgegenstand, der dem jeweiligen Auskunftsersuchen des Untersuchungsausschusses zugrunde liegt, mit dem Unionsrecht verknüpft ist und nicht allein im Bereich des nationalen Rechts liegt. Die Amtshilfe müsste gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV bei der Erfüllung von Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben, helfen. 6.2. Durchsetzung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit Wenn es an einer ausdrücklichen Normierung von Amtshilfe- bzw. Rechtshilfeverpflichtungen im Unionsrecht fehlt, sind Konflikte um eine unzureichende Hilfe, der Literatur zufolge, primär durch Rücksprache und Verständigung auszuräumen und können nicht rechtlich durchgesetzt werden.88 Wie oben festgestellt, dürfte aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nur in wenigen, besonderen Fällen eine Amtshilfepflicht folgen. Wird diese Pflicht verletzt, könnte ein Verstoß gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit vorliegen. Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit ist ein Prinzip des primären Unionsrechts. Wenn ein Mitgliedstaat diesen Grundsatz verletzt, kann gemäß Art. 258 ff. AEUV ein Vertragsverletzungsverfahren gegen ihn eingeleitet werden.89 Nach Art. 259 Abs. 1 AEUV kann jeder Mitgliedstaat den Gerichtshof der EU anrufen, wenn er der Auffassung ist, dass ein anderer Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen hat. Wenn ein Unionsorgan durch eine Handlung den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verletzt, kann gegen diese Handlung Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV beim Gerichtshof eingelegt werden.90 6.3. Auf den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gestützte Rechtshilfeersuchen Dem Fachbereich PE 6 sind keine explizit auf den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gestützten Ersuchen um Vorlage von Akten oder Vernehmung von Zeugen aus anderen Mitgliedstaaten der EU für parlamentarische Untersuchungen bekannt. Allerdings ist der der Ausarbeitung zugrunde liegende Bestand von derartigen Ersuchen aus den bereits oben unter Nr. 4 erläuterten Gründen nicht abschließend. 6.4. Literatur zum Themenkreis Der Umfang der Literatur zu diesem Thema ist begrenzt. Die vorliegende Ausarbeitung beruht maßgeblich auf den nachfolgend aufgeführten Abhandlungen. Hans-Joachim Prieß, Die Verpflichtung der Europäischen Gemeinschaft zur Amts- und Rechtshilfe – Zum EuGH-Beschluss vom 13. Juli 1990, EuR 1991, S. 342 ff. 88 Schmidt-Aßmann, Kohärenz und Konsistenz des Verwaltungsrechtsschutz, 2015, S. 196. 89 EuGH, Urt. v. 22. September 1988, Rs. 272/86 – Kommission/Griechenland, Rn. 30; s. dazu auch: Hatje, Loyalität als Rechtsprinzip in der Europäischen Union, 2001, S. 84. 90 Hatje, Loyalität als Rechtsprinzip in der Europäischen Union, 2001, S. 84 f. Wissenschaftliche Dienste Seite 25 Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 120/18, WD 7 - 3000 - 094/18, PE 6 - 3000 - 67/18 Florian Wettner, Die Amtshilfe im Europäischen Verwaltungsrecht, 2005 Hagen Kobor, Kooperative Amtsermittlung im Verwaltungsrecht – Mitwirkungspflichten und Informationshilfe im Lichte des verfassungsdirigierten Leitbildes des Untersuchungsgrundsatzes , 2009 Oliver L. Knöfel, Judizielle Loyalität in der Europäischen Union – Zur Rechts- und Beweishilfe im Verhältnis der Unionsgerichtsbarkeit zu den Gerichten der Mitgliedstaaten, EuR 2010, S. 618 ff. Miriam Söhne, Die Rechtshilfe in der Europäischen Union – eine kritische Bestandsaufnahme am Beispiel der Verwaltungssachen, 2013 Eberhard Schmidt-Aßmann, Kohärenz und Konsistenz des Verwaltungsrechtsschutzes – Herausforderungen angesichts vernetzter Verwaltungen und Rechtsordnungen, 2015 ***