© 2017 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 119/17 Zum Spannungsverhältnis zwischen Deutschem Bundestag und Bundesverfassungsgericht Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 119/17 Seite 2 Zum Spannungsverhältnis zwischen Deutschem Bundestag und Bundesverfassungsgericht Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 119/17 Abschluss der Arbeit: 4. Juli 2017 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 119/17 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Verhältnis zwischen Bundestag und Bundesverfassungsgericht 4 2.1. Verfassungs- und einfachrechtliche Grundlagen 4 2.2. Unvermeidbarkeit eines Spannungsverhältnisses 6 2.3. Stellungnahmen der Bundestagsfraktionen? 7 3. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 8 3.1. Entwicklung des Spannungsverhältnisses? 8 3.2. Innere Sicherheit 10 3.3. Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums 11 3.4. Steuerrecht 12 3.5. Eingetragene Lebenspartnerschaft 13 3.6. Wahlrecht 14 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 119/17 Seite 4 1. Einleitung Es wird darum gebeten, das Spannungsverhältnis zwischen Bundestag und Bundesverfassungsgericht anhand der maßgeblichen verfassungs- und einfachrechtlichen Grundlagen sowie anhand prägnanter Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus den letzten zwanzig Jahren näher zu erläutern. Dabei sollen – soweit vorhanden – Stellungnahmen der Bundestagsfraktionen berücksichtigt sowie die Rechtsprechungsentwicklung aufgezeigt werden. Hintergrund ist die vielfach geäußerte Kritik, das Bundesverfassungsgericht weite seine Rechtsprechungstätigkeit auf Kosten der Handlungs- und Gestaltungsfreiheit des Bundestages zu stark aus.1 2. Verhältnis zwischen Bundestag und Bundesverfassungsgericht 2.1. Verfassungs- und einfachrechtliche Grundlagen Im gewaltenteiligen System des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) stehen sich Bundestag und Bundesverfassungsgericht als gleichberechtigte Verfassungsorgane gegenüber.2 Die Kompetenzverteilung zwischen beiden Verfassungsorganen erscheint zunächst einfach. Während der Bundestag die gesetzgebende Gewalt ausübt (Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG), ist das Bundesverfassungsgericht Teil der rechtsprechenden Gewalt (Art. 92 GG). Der Bundestag trifft im Rahmen der verfassungsrechtlichen Bindungen (Art. 1 Abs. 3 GG, Art. 20 Abs. 3 GG) politische Entscheidungen, das Bundesverfassungsgericht hingegen hat als Gericht allein nach Maßgabe des Rechts zu entscheiden, was die Beachtung prozessrechtlicher Maximen, wie z.B. die Beachtung des Antragsprinzips, mitumfasst und Verfahrensaufnahmen des Bundesverfassungsgerichts aus eigener Initiative ausschließt.3 Bei näherer Betrachtung erweist sich das Verhältnis zwischen Bundestag und Bundesverfassungsgericht jedoch als komplex. Das Bundesverfassungsgericht verfügt nämlich kraft Verfassungsrechts über Rechtsprechungsbefugnisse, die gerade die politische Tätigkeit des Bundestages betreffen und seine Handlungs- und Gestaltungsfreiheit beeinträchtigen können. So entscheidet das Bundesverfassungsgericht im Rahmen des Organstreits (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG) über Streitigkeiten zwischen den anderen Verfassungsorganen, z.B. über die Reichweite parlamentarischer Kontrollrechte gegenüber der Bundesregierung. Darüber hinaus ermöglichen insbesondere die Normenkontrollverfahren in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG und in Art. 100 Abs. 1 GG sowie die Verfassungsbeschwerden in Form der Gesetzes- und Urteilsverfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG eine verfassungsgerichtliche Kontrolle und Verwerfung von Gesetzen. Vor diesem Hintergrund werden die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht selten eher als politische denn als rechtliche wahrgenommen. 1 Siehe nur jüngst die Kritik von Lammert, Produktive Spannung, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Mai 2017. 2 Lenz/Hansel, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Kommentar, 2. Aufl. 2015, § 1 Rn. 8: „Als Verfassungsorgan steht das Bundesverfassungsgericht dem Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung und dem Bundespräsidenten gleich.“ Zum Bundesverfassungsgericht als oberstem Verfassungsorgan siehe auch Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 93 Rn. 6 m.w.N. und § 1 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz: „Das Bundesverfassungsgericht ist ein allen übrigen Verfassungsorganen gegenüber selbständiger und unabhängiger Gerichtshof des Bundes.“ 3 Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 93 Rn. 10 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 119/17 Seite 5 Auf einfachgesetzlicher Ebene wird das Verhältnis zwischen Bundestag und Bundesverfassungsgericht insbesondere durch das Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) geprägt, das die nähere Ausgestaltung der Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht regelt. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Regelungen zur Bindungswirkung von verfassungsgerichtlichen Entscheidungen sowie zu den möglichen Entscheidungsaussprüchen. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts entfalten nicht nur die nach allgemeinem Prozessrecht geltenden Wirkungen der formellen und materiellen Rechtskraft zwischen den Verfahrensbeteiligten.4 Nach § 31 Abs. 1 BVerfGG binden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts darüber hinaus die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden.5 Zudem kommt den Normenkontrollentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (sogar) Gesetzeskraft zu, d.h. sie beanspruchen Allgemeingültigkeit gegenüber jedermann, Art. 94 Abs. 2 GG, § 31 Abs. 2 BVerfGG.6 In Bezug auf Normenkontrollentscheidungen kommen verschiedene Entscheidungsaussprüche in Betracht, namentlich die Erklärung der Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit einer Norm mit der Verfassung sowie die Nichtigerklärung, § 31 Abs. 2 BVerfGG. Bei Verfassungswidrigkeit erklärt das Bundesverfassungsgericht die betroffene Norm in der Regel für nichtig (§ 78 Abs. 1, §§ 82, 95 Abs. 3 S. 1 BVerfGG), was ihre Unwirksamkeit ex tunc zur Folge hat.7 Mit der Unvereinbarerklärung hingegen verbindet das Bundesverfassungsgericht Anordnungen zur übergangsweisen Weitergeltung der Norm8 oder zur Geltung von bestimmten Übergangsbestimmungen.9 Das Bundesverfassungsgericht beruft sich für solche Anordnungen auf die in § 35 BVerfGG geregelte Befugnis zur Vornahme von Vollstreckungsanordnungen.10 Die Erklärung über die Vereinbarkeit 4 Lenz/Hansel, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Kommentar, 2. Aufl. 2015, § 31 Rn. 5 ff. 5 Dabei bezieht sich die Bindungswirkung nicht nur auf den Tenor der Entscheidung, sondern auch auf die tragenden Gründe der Entscheidung, Lenz/Hansel, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Kommentar, 2. Aufl. 2015, § 31 Rn. 26 ff., 33. 6 Die Gesetzeskraft bezieht sich auf die im Tenor enthaltene Feststellung der Gültigkeit oder Ungültigkeit eines Gesetzes, Lenz/Hansel, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Kommentar, 2. Aufl. 2015, § 31 Rn. 42. 7 Lenz/Hansel, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Kommentar, 2. Aufl. 2015, § 78 Rn. 9. 8 Siehe dazu BVerfGE 127, 293 (333 f.): „Der Ausspruch bloßer Unvereinbarkeit einer Norm mit dem Grundgesetz (§ 31 Abs. 2 Satz 3, § 79 Abs. 1 BVerfGG) anstelle der Nichtigerklärung ist angezeigt, wenn die hierfür sprechenden verfassungsrechtlichen Belange überwiegen […]. Dies ist dann der Fall, wenn der Zustand, der sich im Falle der Nichtigkeit ergäbe, der verfassungsmäßigen Ordnung noch ferner stünde als die befristete Weitergeltung der verfassungswidrigen Regelung […]. Geht es um Normen, die einem verfassungsrechtlichen Schutzauftrag dienen, so kann die Nichtigerklärung wegen dadurch entstehender Schutzlücken zu einem noch verfassungsferneren Zustand als dem bei befristeter Fortgeltung der verfassungswidrigen Norm bestehenden führen […]. Auch aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit kann der Ausspruch einer bloßen Unvereinbarerklärung mit befristeter Fortgeltung vorzugswürdig sein […].“ 9 So enthält die Entscheidungsformel zur Sukzessivadoption in BVerfGE 133, 59 (59 f.) folgende Übergansregelung mit Fristsetzung zur gesetzlichen Neureglung: „Dem Gesetzgeber wird aufgegeben, bis zum 30. Juni 2014 eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen. Bis zur gesetzlichen Neuregelung ist § 9 Absatz 7 des Lebenspartnerschaftsgesetzes mit der Maßgabe anzuwenden, dass die Adoption des angenommenen Kindes des eingetragenen Lebenspartners möglich ist.“ 10 Siehe nur BVerfGE 39, 1 (68). Kritisch dazu Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 10. Aufl. 2015, Rn. 473 f. m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 119/17 Seite 6 einer Norm mit der Verfassung kann unter dem Vorbehalt einer konkreten Auslegung stehen (verfassungskonforme Auslegung). Die betroffene Norm ist dann allein in der vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen verfassungskonformen Auslegungsvariante gültig. 2.2. Unvermeidbarkeit eines Spannungsverhältnisses Ausgehend von diesen weitreichenden Rechtsprechungsbefugnissen des Bundesverfassungsgerichts mit Bindungswirkung auch für den Bundestag ist ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen den Verfassungsorganen Bundestag und Bundesverfassungsgericht unvermeidbar.11 So werden Entscheidungen kritisiert, in denen das Bundesverfassungsgericht in Organstreitverfahren über die verfassungsrechtlichen Rechte und Pflichten des Bundestages im Verhältnis zu anderen Verfassungsorganen – gleichsam als Schiedsrichter – entscheidet, wie z.B. jüngst in der Entscheidung zur Vorlage der NSA-Selektorenliste an den NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestages.12 Besonders konfliktträchtig sind jedoch diejenigen Entscheidungen, in denen das Bundesverfassungsgericht die Gesetzgebung des Bundestages kontrolliert. In diesen Fällen tritt des Bundesverfassungsgerichts in unmittelbare Konkurrenz zum Gesetzgeber. Dabei stehen sich die Verfassungsauslegung des Bundesverfassungsgerichts einerseits und die politische Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers andererseits gegenüber. Die politische Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers wird nicht nur durch Nichtigkeitsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts berührt. Auch die anderen Entscheidungsaussprüche können mit dem gesetzgeberischen Gestaltungswillen kollidieren, z.B. wenn eine bestimmte Auslegungsvariante einer einfachgesetzlichen Norm (verfassungskonforme Auslegung) oder bestimmte Übergangsregelungen vorgegeben werden. Zu berücksichtigen sind ferner die Entscheidungsbegründungen des Bundesverfassungsgerichts, die mitunter Empfehlungen oder konkrete inhaltliche Vorgaben für verfassungskonforme Neuregelungen enthalten.13 Im Ergebnis weist das Grundgesetz dem Bundesverfassungsgericht und damit dem schwächer legitimierten Organ die Letztentscheidung darüber zu, wie weit die verfassungsrechtlichen Bindungen 11 Anschaulich insoweit die zusammengefassten Bewertungen von Voßkuhle und Lammert bei einer Podiumsdiskussion der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages zum Thema „Spannungsverhältnis mit europäischen Auswirkungen“ am 17. November 2011: „Voßkuhle sprach von einer ‚unausweichlichen Verfassungslage ‘, ja vom ‚genetischen Code des Verfassungsstaates‘. Das Gericht müsse auftragsgemäß kontrollieren, ob der Gesetzgeber die von der Verfassung gesetzten Grenzen eingehalten hat. Lammert pflichtete bei: ‚Es gibt ein Spannungsverhältnis, das aufgrund der Konstruktion unserer Verfassung unvermeidlich ist.‘“, abrufbar unter: http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2011/36525489_kw46_w_forum/206882 (zuletzt abgerufen am 28. Juni 2017). 12 BVerfG NVwZ 2017, 137 ff. Kritisch dazu von Achenbach/Nešković, Selektoren-Urteil des BVerfG: Karlsruhe verzwergt das Parlament, Verfassungsblog vom 21. Juni 2016, abrufbar unter: http://verfassungsblog.de/selektoren -urteil-des-bverfg-karlsruhe-verzwergt-das-parlament/ (zuletzt abgerufen am 28. Juni 2017); Rusteberg, Die Gewährleistung einer funktionsgerechten und organadäquaten Aufgabenwahrnehmung als Schranke des parlamentarischen Untersuchungsrechts, DÖV 2017, 319 ff. Zu weiteren Beispielen siehe Zeh, Parlamentsrecht und Verfassungsinterpretation: Wechselwirkungen zwischen Bundestag und Bundesverfassungsgericht, in: Hufen u.a. (Hrsg.), Verfassungen zwischen Recht und Politik, Festschrift zum 70. Geburtstag für Hans-Peter Schneider, 2008, 429 (430 ff.). 13 Zur allgemeinen Kritik an solchen inhaltlichen Vorgaben Ossenbühl, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung , in: Badura/Scholz (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, Symposium aus Anlass des 70. Geburtstages von Peter Lerche, 1998, 75 (77 ff.), der insoweit eine weitere Konkretisierung der Spannungsfelder zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber vornimmt (z.B. Bundesverfassungsgericht als „Anreger und Antreiber des Gesetzgebers“, Bundesverfassungsgericht als „praeceptor legislatoris“). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 119/17 Seite 7 reichen bzw. ob der Gesetzgeber seinen politischen Gestaltungsspielraum überschritten hat. Umso bedeutender ist es daher, die Grenzen der verfassungsrechtlich zulässigen verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Gesetzgebung – die zulässige Prüfungs- und Kontrolldichte – zu beachten. Wo diese Grenzen liegen und wie sie ermittelt werden können, ist allerdings umstritten und führt – gleichsam als „Gretchenfrage des Verfassungsgerichtsbarkeit“14 – zu zahlreichen weiteren Grundsatzthemen des materiellen Verfassungsstaats.15 Von besonderer Relevanz sind dabei die den Grundrechten beigemessenen normativen Wirkungen. Geht man von weiten Grundrechtswirkungen aus, die z.B. die grundrechtlichen Schutzfunktionen einschließen, führt dies zur Annahme grundrechtlicher Pflichten, die nach Art. 1 Abs. 3 GG auch den Gesetzgeber binden. So war es in den Abtreibungsurteilen aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts eine verfassungsrechtliche (und keine politische ) Frage, den aus der grundrechtlichen Schutzpflicht folgenden Schutz des ungeborenen Lebens zu bestimmen.16 2.3. Stellungnahmen der Bundestagsfraktionen? Offizielle Stellungnahmen der Fraktionen im Bundestag zur Frage des Spannungsverhältnisses zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Bundesgesetzgeber sind nicht ersichtlich. Allerdings finden sich in der Presseberichterstattung durchaus kritische Stimmen von Angehörigen der Bundestagsfraktionen zu verschiedenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, wobei zu betonen ist, dass die Kritik sich nicht stets in grundsätzlicherer Weise auf das Verhältnis von Bundesgesetzgeber und Bundesverfassungsgericht bezieht, sondern sich oftmals auf die Entscheidung des Gerichts oder dessen Erwägungen im Einzelfall beschränkt. Anlass für grundlegendere Kritik waren in jüngerer Zeit etwa die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Wahlrecht.17 Insoweit wurde etwa von einem „richterlichen Übereifer […], Dinge zu regeln, oder sich selbst Zuständigkeiten einzuräumen, die eigentlich andere haben“ oder von einem „deutlich erkennbare[n] Gestaltungsanspruch der Karlsruher Richter“ gesprochen.18 Auch hieß es, dass das Bundesverfassungsgericht seinen Auftrag in den letzten Jahren besonders 14 Ossenbühl, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: Badura/Scholz (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, Symposium aus Anlass des 70. Geburtstages von Peter Lerche, 1998, 75 (86). 15 Auf die Fülle der insoweit einschlägigen Literatur verweisen Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 10. Aufl. 2015, Rn. 501 – Fn. 1; siehe auch die Hinweise bei Steiner, Der Richter als Ersatzgesetzgeber, in: Karpen (Hrsg.), Der Richter als Ersatzgesetzgeber, 2002, 27 (27 f.). 16 Vgl. dazu nur BVerfGE 88, 203 (255) (mit Verweis auf BVerfGE 39, 1 (44)): „Soll das Untermaßverbot nicht verletzt werden, muss die Ausgestaltung des Schutzes durch die Rechtsordnung Mindestanforderungen entsprechen. Hierzu zählt, dass der Schwangerschaftsabbruch für die ganze Dauer der Schwangerschaft grundsätzlich als Unrecht angesehen wird und demgemäß rechtlich verboten ist (…).“ Zu weiteren Anforderungen an grundrechtliche Schutzkonzepte (Folgerichtigkeit) vgl. die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den landesrechtlichen Nichtraucherschutzregelungen in BVerfGE 121, 317 (362 f.). 17 Siehe hierzu unter Ziff. 3.6. 18 Lammert, Produktive Spannung, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Mai 2017. Siehe auch schon die Zitate von Lammert bei Gaschke/Jungholt/Vitzthum, Ärger über Karlsruhe, Welt am Sonntag vom 19. April 2015 sowie das Interview von Lammert in der Welt am Sonntag vom 7. Juli 2013. In die gleiche Richtung geht die Kritik von Kauder in: Kauder wirft Richtern Grenzüberschreitung vor, Die Welt vom 12. Juli 2013. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 119/17 Seite 8 weitreichend auslege und relativ stark versuche in die politische Entscheidungsfreiheit einzugreifen .19 In diesem Zusammenhang wurden auch Reaktionsmöglichkeiten des Gesetzgebers thematisiert: „Ein Gesetzgeber, der sich durch das Verfassungsgericht beschränkt sieht, wird sich womöglich zu wehren suchen – indem er die Verfassung ändert“. 20 Diskutiert wurde insoweit etwa das Schließen von Lücken des Grundgesetzes in Bezug auf das Wahlrecht.21 Teilweise wird in der Presse aber auch von Überlegungen berichtet, wie die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts beschränkt werden könnte.22 3. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 3.1. Entwicklung des Spannungsverhältnisses? Die für die Entwicklung des Spannungsverhältnisses zwischen Bundestag und Bundesverfassungsgericht maßgeblichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts könnte man danach auswählen , ob sie auf eine Stärkung oder Schwächung des Bundestages hinweisen. Bei einer groben Betrachtungsweise kann man insoweit auf unterschiedliche Entwicklungslinien verweisen. So zeigt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rolle des Bundestages in außenpolitischen und europäischen Angelegenheiten eine deutliche Stärkung der parlamentarischen Mitwirkungsrechte .23 Sowohl der vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Parlamentsvorbehalt in Bezug auf Auslandseinsätze der Bundeswehr24 als auch die zahlreichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Integrationsverantwortung des Bundestages, einschließlich seiner haushaltspolitischen Gesamtverantwortung25 zielen auf eine verstärkte Mitwirkung und parlamentarische Kontrolle des Bundestages.26 Andere Entscheidungen hingegen, wie z.B. die zum Wahlrecht, können 19 Zitat von Hasselfeldt bei Göll, Richter sind keine Gesetzgeber, Bayern-Kurier vom 25. April 2015. 20 Lammert, Produktive Spannung, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Mai 2017. 21 Gaschke/Jungholt/Vitzthum, Ärger über Karlsruhe, Welt am Sonntag vom 19. April 2015. 22 SPIEGEL ONLINE vom 6. April 2014, Ärger über liberale Urteile – CDU will Rechte der Verfassungsrichter beschränken , abrufbar unter: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/cdu-will-rechte-des-bundesverfassungsgerichts -beschraenken-a-962804.html (zuletzt abgerufen am 28. Juni 2017). 23 Ausführlich Sinner, Der Deutsche Bundestag als zentrales Verfassungsorgan nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, ZParl 2012, 313 ff. 24 BVerfGE 90, 286; siehe auch BVerfGE 108, 34; BVerfGE 118, 244; BVerfGE 121, 135. 25 BVerfGE 123, 267; BVerfGE 129, 124; BVerfGE 130, 318; BVerfGE 131, 152; BVerfGE 134, 366; BVerfG NJW 2016, 2473; siehe auch Diehm, Die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages, in: Becker/ Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Band 3, 2014, 525 ff. 26 Kritisch zu der damit verbundenen Aufgabenübertragung an den Bundestag Nettesheim, Ultra-vires-Kontrolle durch Bundesregierung und Bundestag – Für eine materielle Subsidiarität des Vorgehens gegen das Parlament, Verfassungsblog vom 24. Juni 2016, abrufbar unter: http://verfassungsblog.de/omt-ezb-bverfg-nettesheim/ (zuletzt abgerufen am 28. Juni 2017). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 119/17 Seite 9 als Schwächung des gesetzgeberischen Spielraums des Bundestages gedeutet werden.27 Die Herausarbeitung konkreter Entwicklungslinien im Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber gestaltet sich jedoch schwierig. Eine rein quantitative Annäherung anhand der Anzahl der Normverwerfungen wäre nur wenig aussagekräftig.28 Eine qualitative Bewertung hingegen hängt davon ab, welchen verfassungsrechtlichen Standpunkt man zur Reichweite der verfassungsgerichtlichen Prüfungs- und Kontrolldichte vertritt. Während die Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts von einem kritischen Standpunkt aus eher als ausgreifend eingeordnet würde,29 käme man wohl zur gegenteiligen Einschätzung, wenn man eine weite verfassungsgerichtlichen Kontrolle des Gesetzgebers für zulässig erachtet.30 Dementsprechend ist z.B. die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Höhe des menschenwürdigen Existenzminimums unterschiedlich aufgenommen worden. Dass sich das Bundesverfassungsgericht insoweit nicht auf eine zahlenmäßige Höhe des Existenzminimums festgelegt hat, wurde einerseits als Rücknahme der verfassungsgerichtlichen Prüfungs- und Kontrolldichte verstanden31 und andererseits als extensive Verfassungskontrolle gedeutet, da dem Gesetzgeber anstelle einer konkreten Höhe des Existenzminimums Vorgaben zum Verfahren auferlegt wurden.32 Vor diesem Hintergrund beschränkt sich die folgende Darstellung auf eine Rechtsprechungsauswahl, die nicht den Anspruch erhebt, die Entwicklung des Spannungsverhältnisses zwischen Bundestag und Bundesverfassungsgericht wiederzugeben, sondern die vielmehr auf die Darstellung derjenigen Entscheidungen abzielt, die in den letzten zwanzig Jahren im Kontext des Spannungsverhältnisses 27 Zum Wahlrecht siehe sogleich unter Ziff. 3.6. 28 Siehe die tabellarische Aufstellung der Normverwerfungen des Bundesverfassungsgerichts von 1951 bis 2016, abrufbar unter: http://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Jahresstatistiken/2016/gb2016/A-VI.pdf (zuletzt abgerufen am 28. Juni 2017). 29 So z.B. Scholz, Verfassungsgerichtsbarkeit im gewaltenteiligen Rechtsstaat, in: Karpen (Hrsg.), Der Richter als Ersatzgesetzgeber, 2002, 15 (20): „Die Rechtsprechung des BVerfG sieht sich jedenfalls durch eines deutlich und im Laufe der Jahre immer stärker gekennzeichnet: nämlich einen immer ausholender und auch immer intensiver werdenden Trend zur Verfassungsjuridifizierung.“ 30 In diese Richtung wohl H.-H. Klein in einem Interview auf die Frage, ob die Bundesverfassungsrichter ihre Kompetenzen überschreiten: „Dieser Streit besteht ja seit Beginn der Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts. Ich kann nicht feststellen, dass dieser, von der Politik immer mal wieder gerügte Gestaltungsanspruch in den letzten Jahren in stärkerem Maße in Anspruch genommen worden wäre, als das früher der Fall war.“, abrufbar unter: http://www.deutschlandfunk.de/einmischung-in-die-gesetzgebung-das.694.de.html?dram:article _id=317598 (zuletzt abgerufen am 28. Juni 2017). 31 Vgl. Britz, Das Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, Jura 2015, 319 (324): „In beiden Fällen hat sich das Gericht einer Quantifizierung des verfassungsrechtlich Gebotenen enthalten und hat stattdessen die vom Gesetzgeber zur Quantifizierung verwendeten Methoden verfassungsgerichtlicher Kontrolle unterworfen . Dies hat vor allem den Zweck, zu verhindern, dass – wo das Grundgesetz keine eindeutig quantifizierbaren Ergebnisse vorgibt – das Gericht anstelle des Gesetzgebers politische Setzungen vornimmt.“ 32 So Risse, Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Magiera/Sommermann (Hrsg.), Gewaltenteilung im Verfassungsstaat, Grenzüberschreitungen und Konfliktlösungen, Symposium zu Ehren von Klaus-Eckart Gebauer, 2013, 15 (21): „Für den Gesetzgeber ist die hier zum Ausdruck kommende Aufgabe einer Selbstbeschränkung des Gerichts auf eine materielle Evidenzkontrolle und der Einstieg in eine intensive Verfahrenskontrolle naturgemäß höchst problematisch.“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 119/17 Seite 10 zwischen Bundestag und Bundesverfassungsgericht kritisch rezipiert wurden und einen interessanten Aspekt in Bezug auf die verfassungsgerichtliche Prüfungs- und Kontrolldichte aufweisen.33 3.2. Innere Sicherheit Im Bereich der inneren Sicherheit lässt sich die Diskussion des Spannungsverhältnisses zwischen Bundestag und Bundesverfassungsgericht beispielsweise anhand der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus 2016 zum Bundeskriminalamtgesetz sowie anhand der Entscheidung des Gerichts aus 2010 zur Vorratsdatenspeicherung erläutern. In seiner Entscheidung zum Bundeskriminalamtgesetz34 hat das Bundesverfassungsgericht die Ermächtigung des Bundeskriminalamts zum Einsatz von heimlichen Überwachungsmaßnahmen zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus zwar als im Grundsatz mit den Grundrechten vereinbar angesehen. Jedoch genügte nach Auffassung des Gerichts die Ausgestaltung von Befugnissen in verschiedener Hinsicht nicht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Kritisiert wurde insoweit von Stimmen aus der Politik, dass es nicht Aufgabe des Gesetzgebers sei, laufend die verfassungsrechtlichen Grenzen auszutesten; es aber ebenso nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts sei, ständig dem Gesetzgeber in Sachen Sicherheit in den Arm zu fallen.35 Auch im Bundesverfassungsgericht selbst war die Entscheidung nicht unumstritten. Richter Eichberger führt in seinem Sondervotum aus, dass angesichts der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers in Bezug auf die tatsächliche Beurteilung einer Gefahrenlage und ihre prognostische Entwicklung das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber nicht so detaillierte Vorgaben hätte machen dürfen.36 Nach der Auffassung von Richter Schluckebier setzt das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung mit zahlreichen gesetzgebungstechnischen Detailanforderungen letztlich seine konkretisierenden eigenen Vorstellungen von dem Regelwerk in zu weit gehender Weise an die Stelle derjenigen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers.37 In dieselbe Richtung zielen die Sondervoten der Richter Eichberger und Schluckebier zur Entscheidung des Gerichts zur Vorratsdatenspeicherung38. In dieser Entscheidung hatte das Gericht eine vorsorgliche Telekommunikationsverkehrsdatenspeicherung als nur dann mit Art. 10 Abs. 1 GG vereinbar angesehen, wenn ihre Ausgestaltung besonderen verfassungsrechtlichen Anforderungen 33 Ausgeklammert werden dabei solche Entscheidungen, die Landesrecht zum Gegenstand haben und damit das Verhältnis zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den Landesgesetzgebern betreffen. Dies gilt etwa für die Entscheidung über das Rauchverbot in Gaststätten (BVerfGE 121, 317 – Gröschner, Vom Ersatzgesetzgeber zum Ersatzerzieher, ZG 2008, 400 ff.) oder die Entscheidungen des Gerichts in Besoldungsfragen (BVerfGE 139, 64 ff. – Lindner, Besoldung und „Schuldenbremse“, BayVBl 2015, 801 (804 f.), sowie BVerfGE 130, 263 – Hartmann , Begründungspflichten der Besoldungsgesetzgeber, ZBR 2014, 228 ff.). 34 BVerfGE 141, 220. 35 Interview mit de Maizière, Der Spiegel vom 23. April 2016. 36 BVerfGE 141, 220 (354). 37 BVerfGE 141, 220 (363). 38 BVerfGE 125, 260. Siehe auch die entsprechende Kritik in der Literatur, etwa bei Wolff, Vorratsdatenspeicherung – Der Gesetzgeber gefangen zwischen Europarecht und Verfassung?, NVwZ 2010, 751 (751 f.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 119/17 Seite 11 entspricht. Es bedürfe insoweit hinreichend anspruchsvoller und normenklarer Regelungen zur Datensicherheit, zur Begrenzung der Datenverwendung, zur Transparenz und zum Rechtsschutz. Richter Schluckebier kritisiert an der Entscheidung unter anderem, dass sie dem Gebot verfassungsrichterlicher Zurückhaltung („judicial self-restraint“) gegenüber konzeptionellen Entscheidungen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers nicht hinreichend Rechnung trage. Sie gebe dem Gesetzgeber eine gesetzliche Regelung bis in die Einzelheiten nach Art einer Handlungsanleitung vor.39 Danach bleibe dem Gesetzgeber kein nennenswerter Raum mehr für eine Ausgestaltung in eigener politischer Verantwortung.40 Richter Eichberger schließt sich in seinem Sondervotum dieser Kritik im Wesentlichen an. Auch seiner Einschätzung nach fallen die vom Gericht gemachten Vorgaben über weite Strecken zu kleinteilig aus und berücksichtigen nicht hinreichend den Gestaltungsspielraum, den die Verfassung dem Gesetzgeber in diesem Zusammenhang einräumt.41 3.3. Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums Aus dem Bereich des Sozialrechts ist für die vorliegende Frage insbesondere die Entscheidung des Gerichts zu den Regelleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch („Hartz IV-Gesetz) aus 201042 zu nennen. Das Gericht hatte entschieden, dass die Vorschriften, die die Regelleistungen für Erwachsene und Kinder betreffen, nicht den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG erfüllen. Als Prüfungsmaßstab hatte das Gericht in seiner Entscheidung zunächst aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums hergeleitet. Während der Leistungsanspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG dabei dem Grunde nach von der Verfassung vorgegeben sei, müsse der Umfang vom Gesetzgeber in einem transparenten und sachgerechten Verfahren konkretisiert werden. Da das Grundgesetz selbst keine exakte Bezifferung des Anspruchs erlaube, beschränke sich die materielle Kontrolle des Gerichts darauf, ob die Leistungen evident unzureichend seien. In Bezug auf das Verfahren zur Ermittlung des Existenzminimums sei jedoch eine intensivere Kontrolle geboten. Das Gericht prüfe daher, ob der Gesetzgeber im Rahmen seines Gestaltungsspielraums ein zur Bemessung des Existenzminimums im Grundsatz taugliches Berechnungsverfahren gewählt habe, ob er die erforderlichen Tatsachen im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt habe und schließlich, ob er sich in allen Berechnungsschritten mit einem nachvollziehbaren Zahlenwerk innerhalb dieses gewählten Verfahrens und dessen Strukturprinzipien im Rahmen des Vertretbaren bewegt habe.43 39 Siehe auch die Kritik bei Tomuschat, Die Karlsruher Republik, Die Zeit vom 12. Mai 2010: „Man muss geradezu von einer Entmündigung des Gesetzgebers sprechen, dem offenbar nicht zugetraut wird, durch eigene Entscheidung das richtige Maß zu treffen.“ 40 BVerfGE 125, 260 (373). 41 BVerfGE 125, 260 (380 f.). 42 BVerfGE 125, 175. 43 BVerfGE 125, 175 (226). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 119/17 Seite 12 Im Hinblick auf die hier relevante Frage des Verhältnisses zwischen Bundestag und Bundesverfassungsgericht wurde etwa kritisiert, das im Ergebnis das Gericht eine Pflicht zu einem technischprozedural optimierten Gesetzgebungsverfahren formuliere und ein ausgesprochen striktes Gebot der prozeduralen Systemkonsistenz statuiere, das in all seinen Schritten der vollen Kontrolle des Gerichts unterliege, dessen Prüfungsdichte dabei eher an die Kontrolle der Verwaltung, nicht jedoch an die des parlamentarischen Gesetzgebers erinnere.44 3.4. Steuerrecht Auch im Bereich des Steuerrechts wird dem Bundesverfassungsgericht zuweilen vorgeworfen, dem Gesetzgeber zu detaillierte Vorgaben zu machen oder das Gebot verfassungsrichterlicher Zurückhaltung nicht hinreichend zu berücksichtigen. Als Beispiele mögen insoweit das Urteil des Gerichts zur Pendlerpauschale aus 2008 sowie der sogenannte Vermögenssteuerbeschluss von 1995 dienen. In dem Urteil zur Pendlerpauschale aus 200845 hatte das Gericht über die Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung der Pauschale aus 2007 zu entscheiden. Die Neuregelung sah vor, dass Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte erst ab dem 21. Kilometer wie Werbungskosten von der Steuer abgesetzt werden können anstatt wie zuvor ab dem ersten Kilometer. Das Gericht hat die Neuregelung mangels verfassungsrechtlich tragfähiger Begründung für unvereinbar mit den Anforderungen des Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG an eine folgerichtige Ausgestaltung einkommensteuerrechtlicher Belastungsentscheidungen und daher für verfassungswidrig erklärt. Das im Gesetzgebungsverfahren angeführte Ziel der Haushaltskonsolidierung könne für sich genommen die Neuregelung nicht rechtfertigen, da es bei der Abgrenzung der steuerlichen Bemessungsgrundlage um die gerechte Verteilung von Steuerlasten gehe. Hierfür könne die staatliche Einnahmenvermehrung kein Richtmaß bieten, denn diesem Ziele diene auch eine willkürliche Mehrbelastung. Auch ein den Gesetzgeber befreiender grundlegender Systemwechsel sei vorliegend nicht gegeben. Kritiker sehen in dem Urteil zur Pendlerpauschale eine erneute Einengung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit im Namen eines richterrechtlich erfundenen Prinzips der Folgerichtigkeit.46 Mit ihm werde ein hochpolitisches Rechtsgebiet wie das Steuerrecht an Systemerwartungen gemessen , die weder verfassungsrechtlich zwingend noch verfassungspolitisch wünschenswert seien. 44 Dann, Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), 630 (636 f.); siehe auch Hebeler, Ist der Gesetzgeber verfassungsrechtlich verpflichtet, Gesetze zu begründen?, DÖV 2010, 754 (759 ff.). Eine reduzierte Kontrolldichte kritisiert hingegen Rothkegel, Ein Danaergeschenk für den Gesetzgeber, ZFSH/SGB 2010, 135 (143 f.). 45 BVerfGE 122, 210. 46 Lepsius, Anmerkung zu BVerfG, Urteil v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07, 260 ff.; Dann, Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 49 (2010), 630 (632 ff.). Siehe auch die Kritik von Riedel, Keine Chance für Reformen, Handelsblatt vom 10. Dezember 2008. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 119/17 Seite 13 In dem sogenannten Vermögenssteuerbeschluss von 199547 hat das Bundesverfassungsgericht die unterschiedliche steuerliche Belastung von Grundbesitz und sonstigem Vermögen bei der Vermögenssteuer für mit dem Gleichheitssatz unvereinbar erklärt. Der Tenor des Beschlusses stand jedoch nicht im Fokus der kritischen Rezeption des Beschlusses. Moniert wurde vielmehr von Stimmen in der rechtswissenschaftlichen Literatur, dass sich das Gericht nicht auf die Feststellung eines Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz beschränkt habe, sondern weit darüber hinausgegangen sei und grundlegende Ausführungen zur verfassungsrechtlich gebotenen Bemessung der Vermögensteuer als Sollertragsteuer gemacht habe.48 In diese Richtung geht auch die Kritik, die Richter Böckenförde in seinem Sondervotum zum Vermögenssteuerbeschluss äußert. In dem Sondervotum führt er unter anderem aus, dass das Bundesverfassungsgericht mit seinen breit ausgeführten, durch die Vorlage nicht veranlassten Darlegungen in den Kompetenzbereich des Gesetzgebers übergreife. Es lasse den gebotenen „judicial self-restraint“ außer Acht, der dem Verfassungsgericht gegenüber dem Gesetzgeber obliege, und leiste der Veränderung des vom Grundgesetz festgelegten gewaltenteiligen Verhältnisses zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgericht weiter Vorschub.49 3.5. Eingetragene Lebenspartnerschaft Beispiele für die Diskussion über das Spannungsverhältnis zwischen Bundestag und Bundesverfassungsgericht lassen sich auch in Bezug auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Rechtsinstitut der eingetragenen Lebenspartnerschaft finden.50 Hier genannt werden soll etwa das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus 2013 zur Sukzessivadoption .51 Darin hatte das Gericht entschieden, dass die Nichtzulassung der sukzessiven Adoption angenommener Kinder eingetragener Lebenspartner durch den anderen Lebenspartner sowohl die betroffenen Kinder als auch die betroffenen Lebenspartner in ihrem Recht auf Gleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzt. Ferner bestimmte das Gericht, dass bis zur gesetzlichen Neuregelung das Lebenspartnerschaftsgesetz mit der Maßgabe anzuwenden ist, dass die Sukzessivadoption auch für eingetragene Lebenspartnerschaften möglich ist. In Bezug auf die Entscheidung des Gerichts zur Sukzessivadoption wurde teilweise kritisiert, dass das Urteil die gesellschaftliche Notwendigkeit und Realität nicht richtig wiedergebe und gesellschaftspolitische Grundentscheidungen durch Bundestag und Bundesrat zu fällen seien und nicht durch das Bundesverfassungsgericht.52 47 BVerfGE 93, 121. 48 Siehe beispielsweise Arndt/Schumacher, Die verfassungsrechtlich zulässige Höhe der Steuerlast – Fingerzeig des BVerfG an den Gesetzgeber?, NJW 1995, 2603 ff. 49 BVerfGE 93, 121 (151). 50 Siehe zur Entwicklung dieser Rechtsprechung Berning, Eingetragene Lebenspartnerschaft = Ehe? Die Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Rechtsinstitut der eingetragenen Lebenspartnerschaft , in: Becker/Lange (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Band 3, 2014, 167 ff. 51 BVerfGE 133, 59. 52 Siehe etwa das Zitat von Seehofer bei Göll, Verfassungsrichter in der Kritik, Bayern-Kurier vom 9. März 2013. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 119/17 Seite 14 Dementsprechend gab es auch kritische Stimmen zu der im selben Jahr ergangenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Ausschluss eingetragener Lebenspartnerschaften vom Ehegattensplitting53. Das Bundesverfassungsgericht hatte in den einschlägigen Vorschriften des Einkommensteuergesetzes einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz gesehen, da nach Auffassung des Gerichts hinreichend gewichtige Sachgründen für die Ungleichbehandlung fehlten. Die Rechtslage müsse rückwirkend ab der Einführung des Lebenspartnerschaftsgesetzes zum August 2001 geändert werden. Auch hier hat das Gericht angeordnet, dass übergangsweise die bestehenden Regelungen zum Ehegattensplitting auch auf eingetragene Lebenspartnerschaften anzuwenden sind. Kritiker warfen dem Bundesverfassungsgericht insoweit vor, dass das Gericht das Grundgesetz hüten solle und die Richter nicht Agenten seiner Veränderung seien sollten.54 Die Frage der Abgrenzung der Zuständigkeit für die Aufnahme und Bewertung des gesellschaftlichen Wandels und gegebenenfalls die Bereitstellung rechtlicher Formen hierfür zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgericht wird auch in dem Sondervotum von Richter Landau und Richterin Kessal-Wulf aufgegriffen.55 Das Bundesverfassungsgericht verkenne in seiner Entscheidung, dass die eingetragene Lebenspartnerschaft bis zum Inkrafttreten der Novellierung des Lebenspartnerschaftsrechts 2005 nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers nicht als eine der Ehe vergleichbare Gemeinschaft von Erwerb und Verbrauch ausgestaltet gewesen sei. Ferner entbehre die Annahme des Gerichts, die Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers rechtfertige nicht die festgestellte Ungleichbehandlung von Ehe und Lebenspartnerschaft, einer tragfähigen Begründung. Weiter wird in dem Sondervotum kritisiert, dass es dem Gesetzgeber angesichts des familienpolitischen Normzwecks des Splittingverfahrens zuzubilligen gewesen wäre, zunächst die eingetragene Lebenspartnerschaft im Hinblick auf ihre Vorwirkung für die Familie und Generationenfolge zu evaluieren und hieraus gegebenenfalls steuerliche Konsequenzen zu ziehen. Diesen Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers habe das Gericht durch seine rückwirkende Unvereinbarkeitserklärung übergangen. 3.6. Wahlrecht Schließlich soll auf den Bereich des Wahlrechts eingegangen werden, in dem das Spannungsverhältnis zwischen Bundestag und Bundesverfassungsgericht derzeit am intensivsten diskutiert wird. Bundestagspräsident Lammert verweist dabei darauf, dass im Bereich des Wahlrechts Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die als weitreichende Eingriffe der Judikative in den Spielraum des Gesetzgebers verstanden werden könnten, dadurch ermöglicht und begünstigt würden, dass das Grundgesetz zu den Grundsätzen des Wahlsystems schweige.56 So lasse das Grundgesetz beispielsweise die Frage nach Mehrheits- oder Verhältniswahlrecht, nach Sperrklauseln oder nach dem Ausgleich von Überhangmandaten offen. Anknüpfend an die Kritik des Staatsrechtlers Isensee, der 2013 mit der Aussage zitiert wird, dass die letzten vier Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Wahlrecht sämtlich überflüssig seien 53 BVerfGE 133, 377. 54 So beispielsweise Blüm, Achtung, Karlsruhe!, FAZ-Sonntagszeitung vom 5. Januar 2014. 55 BVerfGE 133, 377 (426 ff.). 56 Lammert, Produktive Spannung, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. Mai 2017. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 119/17 Seite 15 und das Gericht in diesen Fällen seine Kompetenz deutlich überschritten habe57, wird im Folgenden ein Überblick über die vier wichtigsten Entscheidungen zum Wahlrecht aus der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gegeben. Im Jahr 2008 hat das Bundesverfassungsgericht die Regelungen des Bundeswahlgesetzes, aus denen sich der Effekt des negativen Stimmgewichts ergab, für verfassungswidrig erklärt.58 Der Effekt des negativen Stimmgewichts könne dazu führen, dass in bestimmten Konstellationen abgegebene Zweitstimmen für solche Parteien, die Überhangmandate in einem Land gewinnen würden, insofern wirkten, als diese Parteien in demselben oder einem anderen Land Mandate verlieren würden. Umgekehrt sei es auch möglich, dass die Nichtabgabe einer Wählerstimme der zu unterstützenden Partei dienlich sei. Dieser Effekt verletzt die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl. Über die Verfassungsmäßigkeit der Fünf-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht hat das Bundesverfassungsgericht 2011 geurteilt und diese als verfassungswidrig angesehen.59 Die Klausel verstoße unter den gegebenen Verhältnissen gegen die Grundsätze der Wahlrechtgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien. Dem Gesetzgeber bleibe diesbezüglich für Differenzierungen nur ein eng bemessener Spielraum, weil die Gefahr bestehe, dass der „deutsche Wahlgesetzgeber mit einer Mehrheit von Abgeordneten die Wahl eigener Parteien auf europäischer Ebene durch eine Sperrklausel und den hierdurch bewirkten Ausschluss kleinerer Parteien absichern“ könnte. Nach diesen Maßstäben dürfe die Fünf-Prozent-Sperrklausel nicht beibehalten werden, da die bei der Europawahl 2009 gegebenen und fortbestehenden tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse keine hinreichenden Rechtfertigungsgründe böten. Die Einschätzung des Gesetzgebers, der bei Wegfall der Sperrklausel eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments befürchte, könne sich nicht auf ausreichende tatsächliche Grundlagen stützen und trage den spezifischen Arbeitsbedingungen des Europäischen Parlaments sowie seiner Aufgabenstellung nicht angemessen Rechnung. Gleiches gelte hinsichtlich der Fähigkeit der Fraktionen, durch Absprachen in angemessener Zeit zu Mehrheitsentscheidungen zu kommen. 57 Gaugele/Lachmann, Verfassungsrichter im Kreuzfeuer der Kritik, Die Welt vom 17. März 2014. Siehe auch Bull, Erfolgswertgleichheit – eine Fehlkonstruktion im deutschen Wahlrecht, DVBl 2014, 1213 (1217): „Die Politik ist auf diesem Gebiet vom BVerfG so sehr ‚gezähmt‘, dass sie nicht mehr eigenständig entscheidet.“ 58 BVerfGE 121, 266. 59 BVerfGE 129, 300. Siehe aber auch das Sondervotum der Richter Di Fabio und Mellinghoff, wonach die Senatsmehrheit durch eine zu formelhafte Anlegung der Prüfungsmaßstäbe den Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit politischer Parteien nicht überzeugend gewichtet und der Senat den Gestaltungsspielraum des Wahlgesetzgebers zu eng zieht und eine mögliche Funktionsbeeinträchtigung des Europäischen Parlaments trotz dessen gewachsener politischer Verantwortung in Kauf nimmt (BVerfGE 129, 300 (346 ff.)). Auch in der Literatur wurde die Entscheidung deutlich kritisiert, siehe hierzu die Nachweise bei Grzeszick, Weil nicht sein kann, was nicht sein darf: Aufhebung der 3 %-Sperrklausel im Europawahlrecht durch das BVerfG und dessen Sicht auf das Europäische Parlament, NVwZ 2014, 537 (538 – Fn. 18). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 119/17 Seite 16 Im Jahr 2014 hat das Bundesverfassungsgericht auch die – als Reaktion auf die Entscheidung des Gerichts zur Fünf-Prozent-Sperrklausel geschaffene – Drei-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht für verfassungswidrig erklärt.60 Das Gericht betont dabei wieder die strikte verfassungsgerichtliche Kontrolle, der die Ausgestaltung des Wahlrechts unterliege, da bei der Wahlgesetzgebung die Gefahr bestehe, dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten lasse. Nach diesen Maßstäben sei die Sperrklausel nicht mit den Grundsätzen der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der Parteien zu vereinbaren. Das Gericht verweist auf seine Entscheidung zur Fünf-Prozent-Sperrklausel aus 2011 und stellt fest, dass eine maßgebliche Veränderung der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse seither nicht eingetreten sei. Auch im Hinblick auf zu erwartende politische und institutionelle Entwicklungen und damit verbundene Änderungen der Funktionsbedingungen des Europäischen Parlaments in der nächsten Wahlperiode ergebe sich keine Rechtfertigung. Diese Entwicklung des Europäischen Parlaments stecke noch in den Anfängen und tatsächliche Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments seien derzeit nicht abzusehen, so dass für die Prognose des Gesetzgebers bezüglich der Erforderlichkeit der Drei-Prozent-Sperrklausel die Grundlage fehle. Weitere Korrekturen am Wahlrecht hat das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung aus 2012 gefordert.61 Die Entscheidung bezog sich auf die als Reaktion auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus 2008 geschaffene Neuregelung des Sitzzuteilungsverfahrens. Nach Auffassung des Gerichts verstößt diese gegen die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien. Zum einen ermögliche die Zuweisung von Ländersitzkontingenten nach der Wählerzahl den Effekt des negativen Stimmgewichts und zum anderen lasse die Neuregelung das ausgleichslose Anfallen von Überhangmandaten in einem Umfang zu, der den Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl aufhebe. In Bezug auf die Überhangmandate führt das Gericht aus, dass bei einem Anfallen von Überhangmandaten im Umfang von mehr als etwa einer halben Fraktionsstärke die Grundsätze der Gleichheit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien verletzt seien. Da das Gericht es für geboten hielt, die gesetzlichen Wertungen in einem handhabbaren Maßstab zusammenzuführen, an den der Gesetzgeber anknüpfen könne, hat es eine zulässige Höchstgrenze von etwa 15 Überhangmandaten statuiert.62 Gleichzeitig räumt das Gericht aber ein, dass diese Zahl als Akt richterlicher Normkonkretisierung nicht vollständig begründet werden könne. *** 60 BVerfGE 135, 259. Siehe aber auch die abweichende Meinung des Richters Müllers (BVerfGE 135, 259 (299 ff.)): „Nach meiner Überzeugung stellt der Senat zu hohe Anforderungen an die Feststellung einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments […] und trägt damit dem Auftrag des Gesetzgebers zur Ausgestaltung des Wahlrechts unzureichend Rechnung. […] Die Wertung dieses Korridors zwischen der rein theoretischen Möglichkeit und dem sicheren Eintritt einer Funktionsbeeinträchtigung ist dem Gesetzgeber vorbehalten . […] Es ist aber nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts, die vertretbare Entscheidung des Gesetzgebers durch eine eigene vertretbare Entscheidung zu ersetzen.“ 61 BVerfGE 131, 316. 62 Siehe die Kritik von Kauder bezüglich der Abgrenzung von rechtlichen und politischen Entscheidungen in: Kauder wirft Richtern Grenzüberschreitung vor, Die Welt vom 12. Juli 2013: „Bei den Urteilen zum Wahlrecht, wo Karlsruhe eine Korrektur wegen der zu hohen Zahl von Überhangmandaten verlangt hat, sehe ich die Grenze für überschritten an.“