© 2019 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 118/19 Wahlrechtsausschlüsse nach dem Europawahlgesetz Auswirkungen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. April 2019 (2 BvQ 22/19) zum Wahlrechtsausschluss dauerhaft vollbetreuter Personen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. 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April 2019 (Az.: 2 BvQ 22/19) im Wege der einstweiligen Anordnung den Ausschluss des aktiven Wahlrechts von dauerhaft vollbetreuten Personen von der Europawahl nach § 6a Abs. 1 Nr. 2 Europawahlgesetz (EuWG) für unanwendbar erklärt. Der Deutsche Bundestag hat die Ausschlüsse des aktiven und passiven Wahlrechts von dauerhaft vollbetreuten Personen von der Bundestagswahl und der Europawahl mit Gesetz vom 6. Mai 2019 aufgehoben. Die Änderungen treten jedoch erst mit Wirkung zum 1. Juli 2019 in Kraft. Es wird gefragt, wie sich das Urteil zum Ausschluss vom aktiven Wahlrecht auf das passive Wahlrecht von dauerhaft vollbetreuten Personen nach dem EuWG auswirkt und ob bzw. welche Überprüfungsmöglichkeiten sich daraus hinsichtlich der am 26. Mai 2019 stattfindenden Europawahl ergeben. Weiter wird gefragt, ob sich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auch auf weitere bestehende Wahlrechtsausschlüsse, insbesondere von 17-jährigen, auswirkt. 2. Passives Wahlrecht dauerhaft vollbetreuter Personen nach EuWG und Überprüfungsmöglichkeiten der Europawahl 2019 Der Tenor des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 15. April 2019 bezieht sich auf § 6a Abs. 1 Nr. 2 EuWG, der unmittelbar nur den Ausschluss dauerhaft Vollbetreuter vom aktiven Wahlrecht regelt. Dass diese auch vom passiven Wahlrecht ausgeschlossen sein sollten, ergibt sich erst aus § 6b Abs. 3 Nr. 1 EuWG. Da dieser aber wiederum auf den nunmehr unanwendbaren § 6a Abs. 1 Nr. 2 EuWG verweist, besteht auch vor Inkrafttreten der beschlossenen Änderungen des EuWG kein Ausschluss von dauerhaft vollbetreuten Personen vom passiven Wahlrecht für die Europawahl. Allerdings war die Aufstellung der Kandidaten für die Europawahl 2019 zur Zeit des Erlasses der einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts bereits abgeschlossen. Die Verletzung subjektiver Rechte bei der Vorbereitung oder Durchführung der Europawahl kann seit der Neufassung des § 26 EuWG und des § 48 BVerfGG allein1 oder verbunden mit der Ungültigkeit der Wahl mittels eines Wahleinspruchs und ggf. einer anschließenden Wahlprüfungsbeschwerde geltend gemacht werden. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Januar 2019 zu den Wahlrechtsausschlüssen in § 13 Nr. 2 und Nr. 3 Bundeswahlgesetz (BWG) steht ein Wahlrechtsausschluss der Beschwerdefähigkeit der betroffenen Personen im Wahlprüfungsverfahren nicht entgegen, wenn der Ausschlussgrund gerade Gegenstand der Beschwerde (bzw. des vorgeschalteten Einspruches) ist. Dies dürfte erst recht gelten, wenn der betreffende Wahlrechtsausschluss wegen materieller Verfassungswidrigkeit nachträglich im Gesetz (hier EuWG) aufgehoben worden ist. Über Wahleinsprüche von in Deutschland wahlberechtigten Personen bezüglich der Europawahl wird durch den Deutschen Bundestag entschieden, § 26 Abs. 1 und 2 EuWG i.V.m. § 1, § 2 Abs. 2 WahlprüfG. Diese können ab dem Wahltag binnen einer Frist von zwei Monaten nach dem Wahltag schriftlich beim Bundestag eingelegt werden und müssen begründet werden, § 26 EuWG i.V.m. § 2 Abs. 3 und 4 WahlprüfG. Der Beschluss des Bundestages über einen Wahleinspruch wird den Beteiligten mit einer Rechtsmittelbelehrung zugestellt, § 26 Abs. 2 EuWG i.V.m. § 13 Abs. 3 WahlprüfG. Gegen einen Beschluss mit dem der Einspruch einer wahlberechtigten Person oder einer Gruppe von wahlberechtigten Personen verworfen wurde, kann binnen zwei Monaten 1 Vgl. BVerfG, Urteil vom 29. Januar 2019, Az.: 2 BVC 62/14, juris, Rz. 31. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 118/19 Seite 4 schriftlich eine Wahlprüfungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht (§ 26 EuWG i.V.m. § 18 WahlprüfG und § 13 Nr. 3, § 48 BVerfGG) eingelegt werden. Diese ist binnen derselben Frist auch zu begründen, § 26 Abs. 3 S. 2 Hs. 2 EuWG. Erweist sich bei Prüfung der Beschwerde, dass die Rechte der Beschwerdeführer verletzt wurden, stellt das Bundesverfassungsgericht diese Verletzung fest, wenn es nicht die Wahl teilweise oder insgesamt für ungültig erklärt, § 26 Abs. 3 S. 3 EuWG i.V.m. § 48 Abs. 3 BVerfGG. Letzteres kommt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht in Betracht, wenn die gerügte Verletzung subjektiver Rechte bei der Vorbereitung oder Durchführung der Wahl oder der gerügte sonstige Wahlfehler keine Mandatsrelevanz besitzt und sich in tatsächlicher Hinsicht in keiner Weise auf die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments ausgewirkt hat.2 3. Auswirkung des Urteils auf sonstige Wahlrechtsausschlüsse bezüglich der Europawahl Das Urteil vom 15. April 2019 zu § 6a Abs. 1 Nr. 2 EuWG erging zunächst ohne Begründung, diese wird noch nachgereicht. Allerdings liegt bereits ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Januar 2019 (Az.: 2 BvC 62/14) zum gleichlautenden § 13 Nr. 2 Bundeswahlgesetz (BWG) mit vollständiger Begründung vor. Mit dieser Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht erneut seine Rechtsprechung bestätigt, nach der es grundsätzlich anerkennt, dass die in Art. 38 GG verbürgten Wahlrechtsgrundsätze nicht immer absolut verwirklicht werden können3, aber – bestehende und künftige - Einschränkungen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl stets eines besonderen rechtfertigenden Grundes bedürfen4. Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl „untersagt den unberechtigten Ausschluss einzelner Staatsbürger von der Teilnahme an der Wahl […] und verbietet den Ausschluss bestimmter Bevölkerungsgruppen aus politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gründen […]. Er ist – wie der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit – im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit bei der Zulassung zur Wahl zum Deutschen Bundestag zu verstehen […]“5. Er unterliege jedoch keinem absoluten Differenzierungsverbot. Aus seinem formalen Charakter folge allerdings, dass dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Wahlberechtigung nur ein eng bemessener Spielraum für Beschränkungen verbleibe. „Differenzierungen hinsichtlich der aktiven oder passiven Wahlberechtigung bedürfen zu ihrer Rechtfertigung stets besonderer Gründe, die durch die Verfassung legitimiert und von mindestens gleichem Gewicht wie die Allgemeinheit der Wahl sind […], so dass sie als ‚zwingend‘ […] qualifiziert werden können.“6 Differenzierende Regelungen müssen zudem zur Verfolgung ihrer Zwecke geeignet und erforderlich sein. „Ihr erlaubtes Ausmaß richtet sich auch danach, mit welcher Intensität in das Wahlrecht eingegriffen wird […]. Dabei hat sich der Gesetzgeber bei seinen Einschätzungen und Bewertungen 2 Vgl. insbesondere BVerfG, Beschlüsse vom 4. Juli 2012, Az.: 2 BvC 1/11, 2 BvC 2/11, juris, Rz. 63 m.w.N., bei denen sich der gerügte Wahlfehler allenfalls theoretisch hätte auswirken können. 3 Vgl. schon BVerfG, BVerfG, Urteil vom 1. August 1953, Az.: 1 BvR 281/53 = BVerfGE 3, 19 (24); Beschluss vom 24. November 1981, Az.: 2 BvC 1/81 = BVerfGE 59, 119 (124). 4 Vgl. BVerfG, Urteil vom 3. Juli 2008, Az.: 2 BvC 1/07 = BVerfGE 121, 266 (298). 5 BVerfG, Urteil vom 29. Januar 2019, Az.: 2 BvC 62/14, juris, Rz. 42. 6 BVerfG, Urteil vom 29. Januar 2019, Az.: 2 BvC 62/14, juris, Rz. 43 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 118/19 Seite 5 nicht an abstrakt konstruierten Fallgestaltungen, sondern an der politischen Wirklichkeit zu orientieren […].“7 Bei der Ausgestaltung der Wahlberechtigung erachtet das Bundesverfassungsgericht unter Berücksichtigung der Grenzen, die die Bedeutung des Wahlrechts und die Strenge demokratischer Egalität seinem Bewertungsspielraum setzen, auch Vereinfachungen und Typisierungen als zulässig.8 Das Bundesverfassungsgericht hat die Maßstäbe für die Überprüfung von Wahlrechtsausschlüssen zusätzlich wie folgt weiterentwickelt: Berühre eine differenzierende Behandlung mehrere in ihrem Anwendungsbereich unterschiedliche spezielle Gleichheitsgebote, die nicht in einem eigenständigen Spezialitätsverhältnis stehen, müsse sie an jedem dieser Gebote gemessen werden. Die Anwendungsbereiche der Gleichheitssätze des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG und des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, der die Benachteiligung einer Person wegen ihrer Behinderung untersagt, überschneiden sich im Fall einer Beschränkung des Zugangs zur Wahl zum Bundestag wegen einer Behinderung nur in einem Teilbereich und dienen zudem unterschiedlichen Schutzzwecken. Beide Gleichheitssätze stünden daher in Idealkonkurrenz zueinander und seien mithin nebeneinander als Maßstab für Wahlrechtsausschlüsse anwendbar.9 Zwar gelte auch das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG nicht schrankenlos; eine Schlechterstellung behinderter Menschen könne jedoch nur durch zwingende Gründe gerechtfertigt sein.10 Die herrschende Meinung in der Literatur11 nimmt darüber hinaus auch Idealkonkurrenz zwischen dem Grundsatz der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl nach Art. 38 GG und dem besonderen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG an, der Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechtes, der Abstammung, der Rasse, der Sprache, der Heimat und der Herkunft, des Glaubens, der religiösen oder politischen Anschauung verbietet. Weder das Urteil vom 29. Januar 2019 noch das bisher nur ohne Begründung veröffentlichte Urteil vom 15. April 2019 enthalten über diese allgemeinen Grundsätze hinausgehende konkrete Ausführungen zu weiteren Wahlrechtsausschlüssen12. 7 BVerfG, Urteil vom 29. Januar 2019, Az.: 2 BvC 62/14, juris, Rz. 46 m.w.N. 8 Vgl. BVerfG, Urteil vom 29. Januar 2019, Az.: 2 BvC 62/14, juris, Rz. 47 m.w.N. 9 Vgl. BVerfG, Urteil vom 29. Januar 2019, Az.: 2 BvC 62/14, juris, Rz. 49, 51. 10 Vgl. BVerfG, Urteil vom 29. Januar 2019, Az.: 2 BvC 62/14, juris, Rz. 49. 11 Vgl. Boysen, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 6. Auflage 2012, Art. 3 Rn. 202; Krieger, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann /Henneke, GG, 14. Auflage 2018, Art. 3 Rn. 92; Langenfeld, in: Maunz/Dürig, GG, 85. EL November 2018, Art. 3 Abs. 3 Rn. 102; Magiera, in: Sachs, GG, 8. Auflage 2018, Art. 38 Rn. 81. 12 Vgl. zur verfassungsrechtlichen Problematik des Ausschlusses 17-Jähriger vom aktiven und passiven Wahlrecht die Ausführungen unter Punkt 3. der Ausarbeitung der Wissenschaftliche Dienste zum Thema „Gesetzliche Regelungen zum aktiven und passiven Wahlrecht“ (WD 3 - 3000 - 012/13). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 118/19 Seite 6 Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Bundes- und Europawahlrecht betrifft formal zwar nicht die Geltung vergleichbarer landesrechtlicher Wahlrechtsausschlüsse etwa für Landtags - oder Kommunalwahlen. Die Entscheidung über eine Aufhebung bzw. Neufassung von Wahlrechtsausschlüssen obliegt den Landesgesetzgebern und deren gerichtliche Überprüfung den Landesverfassungsgerichten. Die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 GG gelten aber nach Art. 28 GG auch in den Ländern. So hat der Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen im Mai 2019 den Ausschluss dauerhaft vollbetreuter Personen vom Wahlrecht zu Gemeindeund Kreiswahlen im Anschluss an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu § 13 Nr. 2 BWG im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig für nicht anwendbar erklärt.13 *** 13 Vgl. SächsVerfGH, Beschluss vom 3. Mai 2019, Az.: Vf. 30-II-19 (e.A.), juris.