© 2015 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 118/15 Verfassungs- und versammlungsrechtliche Betrachtung von Wahlkampfauftritten eines Präsidenten eines anderen Staates in Deutschland Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 118/15 Seite 2 Verfassungs- und versammlungsrechtliche Betrachtung von Wahlkampfauftritten eines Präsidenten eines anderen Staates in Deutschland Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 118/15 Abschluss der Arbeit: 26. Mai 2015 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 118/15 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Verbots- und Auflösungsmöglichkeiten nach dem Versammlungsgesetz 5 2.1. Anwendbarkeit des Versammlungsgesetzes; Begriff der Versammlung 5 2.2. Versammlungen „in geschlossenen Räumen“ und „unter freiem Himmel“ 5 2.3. Verbots- und Auflösungsmöglichkeiten von Versammlungen in geschlossenen Räumen (§§ 5 und 13 VersG) 6 2.4. Verbots- und Auflösungsmöglichkeiten von Versammlungen unter freiem Himmel (§ 15 VersG) 8 2.5. Kostenfaktor 10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 118/15 Seite 4 1. Einleitung Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist im Vorfeld von Wahlen in der Türkei mehrfach auch in Deutschland bei Veranstaltungen aufgetreten: So besuchte er am 10. Mai 2015 die Bundesrepublik , um bei einer Veranstaltung in einer Messehalle in Rheinstetten bei Karlsruhe vor etwa 14.000 Zuhörern zu sprechen. Erdoğan forderte in seiner Rede seine in Deutschland lebenden Landsleute dazu auf, an der am 7. Juni 2015 stattfindenden türkischen Parlamentswahl teilzunehmen . An die in Deutschland lebenden türkischstämmigen Bürger appellierte er, die deutsche Sprache zu lernen und sich zu integrieren, ohne dabei ihre türkischen Wurzeln zu vergessen. Vor der Messehalle protestierten währenddessen mehrere tausend Menschen gegen Erdoğan. Nach Angaben der Polizei kam es zu Zusammenstößen zwischen Erdoğananhängern und Demonstranten. Dabei seien drei Menschen verletzt und zwei Versammlungsteilnehmer festgenommen worden.1 Am 24. Mai 2014 war es in Köln – circa drei Monate vor der türkischen Präsidentschaftswahl – bereits zu einem ähnlichen Auftritt Erdoğans gekommen. In der dortigen Lanxess-Arena hatte Erdoğan – damals noch Ministerpräsident – vor etwa 15.000 Zuhörern gesprochen. In der Kölner Innenstadt hatten sich etwa 30.000 Gegendemonstranten versammelt, zu Zusammenstößen kam es allerdings nicht.2 Vor diesem Hintergrund wird um die Beantwortung der Frage gebeten, ob es – insbesondere im Hinblick auf die entstehenden Kosten für Polizeieinsätze und aufgrund angeblich kritischer Äußerungen Erdoğans zur deutschen Integrationspolitik – rechtliche Möglichkeiten gibt, Auftritte Erdoğans der beschriebenen Art in Deutschland zu verbieten. 1 Zur Veranstaltung am 10. Mai 2015 in Rheinstetten siehe u.a. die folgende Berichterstattung: „Jubel und Verletzte bei Erdogan-Kundgebung“, SWR, online verfügbar unter: http://www.swr.de/landesschau-aktuell/bw/tuerkischer -staatspraesident-in-karlsruhe-jubel-und-verletzte-bei-erdogan-kundgebung/-/id=1622/did=15490004/ nid=1622/ha79nk/ (zuletzt abgerufen am 13. Mai 2015); „Tausende feiern Erdoğan in Karlsruhe“, Süddeutsche Zeitung, online verfügbar unter: http://www.sueddeutsche.de/politik/karlsruhe-tausende-protestieren-gegenerdoan -besuch-1.2473075 (zuletzt abgerufen am 13. Mai 2015). 2 Zur Veranstaltung am 24. Mai 2014 in Köln siehe u.a. die folgende Berichterstattung: „Erdogan wütet gegen deutsche Politiker und Medien“, FOCUS, online verfügbar unter: http://www.focus.de/politik/deutschland/ erdogan-in-koeln-erdogan-wuetet-gegen-deutsche-politiker-und-medien_id_3869980.html (zuletzt abgerufen am: 13. Mai 2015); „Erdogan kommt – trotz aller Kritik“, tagesschau, online verfügbar unter: https://www.tagesschau. de/inland/erdogan-koeln104.html (zuletzt abgerufen am 13. Mai 2015). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 118/15 Seite 5 2. Verbots- und Auflösungsmöglichkeiten nach dem Versammlungsgesetz 2.1. Anwendbarkeit des Versammlungsgesetzes; Begriff der Versammlung Ein Verbot einer solchen Veranstaltung und daraus folgend das Auftrittsverbot für den Redner ist rechtlich einzig denkbar nach Maßgabe des Versammlungsgesetzes (VersG).3 Adressat des Verbots ist der Veranstalter, also derjenige, der für Planung und Organisation verantwortlich ist.4 Damit das VersG anwendbar ist, muss es sich bei der Veranstaltung um eine Versammlung handeln.5 Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, das in seiner jüngeren Rechtsprechung den sogenannten engen Versammlungsbegriff vertritt, ist eine Versammlung eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtete Erörterung oder Kundgebung.6 Zwar fehlt einer Veranstaltung wie in Rheinstetten oder Köln das klassische diskursive Element, das in der Definition durch das Merkmal der „gemeinschaftlichen “ Erörterung oder Kundgebung ausgedrückt wird, allerdings bringen die Zuhörer allein schon durch ihre Teilnahme und direkte Rückmeldung während der Rede, etwa durch Applaus und Zwischenrufe, Zustimmung oder Ablehnung mit dem Redner zum Ausdruck.7 Somit sind Veranstaltungen dieser Art Versammlungen und der Anwendungsbereich des VersG eröffnet. 2.2. Versammlungen „in geschlossenen Räumen“ und „unter freiem Himmel“ Das VersG unterscheidet zwischen Versammlungen in geschlossenen Räumen und Versammlungen unter freiem Himmel und stellt an deren jeweilige Verbotsmöglichkeiten unterschiedliche Anforderungen . Die Unterscheidung liegt darin begründet, dass durch die unterschiedlichen Charakteristika der Veranstaltungsorte auch verschiedene Gefährdungspotentiale für Rechte Dritter begründet 3 Die Ausarbeitung bezieht sich auf das Versammlungsgesetz des Bundes. Durch das Föderalismusreform I von 2006 ist die Gesetzeskompetenz für das Versammlungsrecht in die ausschließliche Zuständigkeit der Länder übergegangen. Einige Bundesländer haben inzwischen eigene Versammlungsgesetze erlassen bzw. das des Bundes in Landesrecht überführt. Im Hinblick auf die in der Ausarbeitung angesprochenen Befugnisnormen ergeben sich jedoch keine wesentlichen Abweichungen zwischen Bundes- und Landesrecht. Für das Verbot und die Beschränkung der politischen Betätigung von Ausländern stellt § 47 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) eine Spezialvorschrift dar, die grundsätzlich vor dem VersG anzuwenden ist. Gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG ist das Gesetz in Bezug auf ein Staatsoberhaupt jedoch von vornherein nicht anwendbar. Denn § 1 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG ordnet an, dass das AufenthG keine Anwendung auf Ausländer findet, die nach Maßgabe der §§ 18 bis 20 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) nicht der deutschen Gerichtsbarkeit unterliegen. Dies ist gemäß § 20 Abs. 2 Alt. 1 GVG der Fall in Bezug auf Staatsoberhäupter. 4 Vgl. zum Begriff des Veranstalters Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, 16. Auflage 2011, § 1, Rn. 250 und zum Veranstalter als Adressaten Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, 16. Auflage 2011, § 5, Rn. 38 und § 15, Rn. 36. 5 Vgl. § 1 VersG. 6 BVerfGE 104, 92 (104). Diese Begriffsbestimmung bezieht sich auf Art. 8 Grundgesetz (GG), der die Versammlungsfreiheit des Einzelnen schützt. Sie ist jedoch auf das VersG übertragbar. 7 Vgl. in Bezug auf Wahlkampfveranstaltungen politischer Parteien Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, 16. Auflage 2011, § 1, Rn. 14 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 118/15 Seite 6 werden.8 Eine Versammlung in geschlossenen Räumen bietet wegen der räumlichen Begrenzung ein geringeres, eine Versammlung unter freiem Himmel ein höheres Gefährdungspotential für Rechte Dritter. Dementsprechend sind die Voraussetzungen der Verbotstatbestände des VersG für Versammlungen in geschlossenen Räumen strenger als für Versammlungen unter freiem Himmel. Für die Bestimmung, ob die Versammlung in geschlossenen Räumen stattfindet, ist – trotz des leicht missverständlichen Wortlautes – nicht maßgeblich, ob sie unter einer Überdachung stattfindet , sondern ob sie zu allen Seiten gegenüber ihrer Umwelt abgegrenzt ist.9 Entscheidendes Kriterium ist somit, ob Dritte jederzeit die Möglichkeit haben, zur Veranstaltung hinzuzutreten.10 Somit sind Versammlungen in Hallen oder Arenen, wie in Rheinstetten und Köln, bei denen die mögliche Besucherzahl begrenzt ist, Versammlungen in geschlossenen Räumen. Demgegenüber sind Versammlungen unter freiem Himmel solche, die nicht nach außen hin für den nicht steuerbaren Zutritt Dritter verschlossen sind. Da auch die Möglichkeit besteht, dass Präsident Erdoğan bei einer Versammlung unter freiem Himmel auftritt, sind die Verbots- und Auflösungsmöglichkeiten für solche Veranstaltungen auch Gegenstand der Ausarbeitung. 2.3. Verbots- und Auflösungsmöglichkeiten von Versammlungen in geschlossenen Räumen (§§ 5 und 13 VersG) Versammlungen in geschlossenen Räumen können im Vorfeld, also vor Beginn der Versammlung, nach § 5 VersG durch die zuständige Ordnungsbehörde verboten werden. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch klargestellt, dass Verbote (und Auflösungen) nur „unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit […] erfolgen dürfen“.11 Bevor es zu einem Verbot kommt, hat die Ordnungsbehörde zunächst Maßnahmen zum Schutze der Versammlung abzuwägen und ggf. weniger einschneidende Maßnahmen wie Auflagen zu erteilen.12 Gemäß § 5 Nr. 1 VersG kann eine Versammlung verboten werden, wenn dem Veranstalter das Versammlungsrecht wegen einer der in § 1 Abs. 2 Nr. 1 - 4 VersG genannten Gründe nicht zusteht. Der Kanon des § 1 Abs. 2 Nr. 1 - 4 VersG umfasst im Wesentlichen Fälle, in denen der Veranstalter das Grundrecht der Versammlungsfreiheit verwirkt hat oder Ziele von Parteien oder Organisationen verfolgt, die wegen ihrer Verfassungsfeindlichkeit verboten sind. Der Fall, dass sich ein Redner auf einer Versammlung kritisch gegenüber der nationalen Politik Deutschlands oder vermeintlich entgegen deutschen Interessen äußert, ist nicht von diesen Verbotsfällen erfasst. Vielmehr genießen auch solche kritischen Äußerungen grundrechtlichen Schutz. Denn der Schutzbereich des Art. 5 8 Vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, 16. Auflage 2011, II, Rn. 8. 9 Vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, 16. Auflage 2011, II, Rn. 8. 10 Vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, 16. Auflage 2011, II, Rn. 8. 11 BVerfGE 69, 315 (LS 2b). 12 Vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, 16. Auflage 2011, § 13, Rn. 38. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 118/15 Seite 7 GG, der die Meinungsfreiheit von jedermann – also auch von Ausländern – schützt, umfasst auch die Äußerung von Kritik am Staat oder von staatlichem Handeln.13 Darüber hinaus können gemäß § 5 Nr. 2 VersG solche Versammlungen verboten werden, in denen der Veranstalter oder Versammlungsleiter bewaffneten Teilnehmern Zutritt verschafft. Ein solcher Fall ist nicht Gegenstand der Prüfung. Weiterhin kann gemäß § 5 Nr. 3 VersG eine Versammlung verboten werden, wenn Tatsachen vorliegen, aus denen sich ergibt, dass der Veranstalter einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf der Versammlung anstrebt. Diese Tatsachen müssen sich dem Willensbereich des Veranstalters zuordnen lassen. Es muss also dem Veranstalter darauf ankommen, dass die Versammlung einen unfriedlichen Verlauf nimmt.14 Insofern kann die Prognose, dass es generell zu Zwischenfällen , etwa zwischen Versammlungsteilnehmern und Gegendemonstranten, kommen kann, nicht zu einem Versammlungsverbot nach § 5 Nr. 3 VersG führen. Schließlich erfasst § 5 Nr. 4 VersG den Fall, dass der Veranstalter strafbedrohte Ansichten vertritt bzw. strafbedrohte Äußerungen duldet. In diesem Zusammenhang sind etwa die Verunglimpfung des Bundespräsidenten (§ 90 StGB), des Staates und seiner Symbole (§ 90a StGB) oder anderer Verfassungsorgane (§ 90b StGB) denkbar. Es gilt jedoch das zu § 5 Nr. 1 VersG Gesagte entsprechend: Auch überspitzt oder scharf geäußerte Meinungen verlieren nicht den Schutz des Art. 5 GG. Dass vorliegend die Schwelle der Strafbarkeit überschritten wurde, ist nicht ersichtlich. Nach Beginn der Versammlung ist kein Verbot, sondern nur eine Auflösung gemäß § 13 Abs. 1 VersG durch die zuständige Ordnungsbehörde möglich.15 § 13 Abs. 1 Nr. 1 VersG ist identisch mit dem bereites oben erläuterten, nicht einschlägigen Verbotsgrund des § 5 Nr. 1 VersG. Zusätzlich sieht § 13 Abs. 1 Nr. 2 VersG die Möglichkeit vor, eine Versammlung aufzulösen, wenn sie einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nimmt oder unmittelbare Gefahr für Leben und Gesundheit der Teilnehmer besteht. Eine Versammlung nimmt dann einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf, wenn es zu schweren Hausfriedensbrüchen (§ 124 StGB) oder Landfriedensbrüchen (§ 125 StGB) kommt.16 Beide Straftatbestände enthalten als Bezugsobjekt den Begriff der Menschenmenge, die bewusst und gemeinschaftlich Gewalttätigkeiten gegen Personen oder Sachen begeht. Sofern es bei den Versammlungen zu kleineren, spontanen Zusammenstößen zwischen Versammlungsteilnehmern und Gegendemonstranten kommt, dürfte es sich schon nicht um Menschenmengen handeln, die absichtlich (§ 124 StGB) oder vorsätzlich mit vereinten Kräften (§ 125 StGB) handeln. Der zweite zum Ausdruck gebrachte Auflösungsgrund der unmittelbaren Gefahr für Leben oder Gesundheit der Teilnehmer läuft als Auflösungsgrund für die gesamte 13 Vgl. Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 73. EL 2014, Art. 5, Rn. 66. 14 Vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, 16. Auflage 2011, § 3, Rn. 30. 15 Vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, 16. Auflage 2011, § 5, Rn. 3. 16 Vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, 16. Auflage 2011, § 13, Rn. 13 und § 5, Rn. 32. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 118/15 Seite 8 Versammlung praktisch leer.17 Denn geht die Gewalthandlung, die Gefahr für Leben oder Gesundheit der Teilnehmer begründet, von einem Einzelnen aus und wird dadurch nicht die Versammlung im Ganzen unfriedlich, so sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur Maßnahmen gegen die gefahrverursachende Person zulässig. 18 Ansonsten hätte es jeder Einzelne in der Hand, entgegen dem Willen der anderen, friedlichen Teilnehmer eine Versammlung rechtswidrig werden zu lassen.19 Geht die Gewalthandlung stattdessen von mehreren aus, so ist in der Regel der Tatbestand des gewalttätigen oder aufrührerischen Verlaufs erfüllt.20 Diese qualitative Grenze ist aber, wie bereits geschildert, bei kleineren Zusammenstößen nicht erreicht. Der Auflösungstatbestand des § 13 Abs. 1 Nr. 3 VersG knüpft daran an, dass bewaffnete Personen nicht ausgeschlossen werden. Bezogen auf den hier in Rede stehenden Sachverhalt ist die Vorschrift nicht einschlägig. Schließlich besteht gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 4 VersG die Möglichkeit, die Versammlung aufzulösen, wenn durch deren Verlauf gegen Strafgesetze verstoßen wird oder in der Versammlung zu Straftaten aufgefordert wird. Die zweite Alternative dürfte nicht einschlägig sein. Hinsichtlich der ersten Alternative ist zu beachten, dass die Vorschrift im Lichte von Art. 8 GG verfassungskonform restriktiv zu interpretieren ist.21 Es kommen nur solche Straftaten in Betracht, die die Anwendung oder Androhung physischer Gewalt gegen Personen oder Sachen unter Strafe stellen.22 Darüber hinaus muss „durch den Verlauf“ der Versammlung gegen diese Strafgesetze verstoßen worden sein. Die Versammlung muss also durch ihre aggressive Grundstimmung die Straftaten provozieren.23 Die Veranstaltungen in Rheinstetten und Köln waren allerdings an sich, also in den Veranstaltungsräumen , offenbar friedlich. Zu den Zusammenstößen in Rheinstetten kam es laut Medienberichterstattung nicht wegen einer etwaigen aggressiven Grundstimmung der Versammlung, sondern aufgrund von Konflikten zwischen Erdoğans Sympathisanten und Gegendemonstranten vor der Halle. Insofern dürfte auch dieser Auflösungsgrund nicht einschlägig sein. 2.4. Verbots- und Auflösungsmöglichkeiten von Versammlungen unter freiem Himmel (§ 15 VersG) Versammlungen unter freiem Himmel können im Vorfeld nach § 15 Abs. 1 VersG durch die zuständige Ordnungsbehörde verboten werden.24 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der bereits 17 Vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, 16. Auflage 2011, § 13, Rn. 15. 18 Vgl. BVerfGE 69, 315 (361). 19 Vgl. BVerfGE 69, 315 (361). 20 Vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, 16. Auflage 2011, § 13, Rn. 15. 21 Vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, 16. Auflage 2011, § 13, Rn. 25. 22 Vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, 16. Auflage 2011, § 13, Rn. 25. 23 Vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, 16. Auflage 2011, § 13, Rn. 27. 24 Der besondere Verbotsgrund des § 15 Abs. 2 VersG, der dem Schutz von Orten dient, die an die Opfer nationalsozialistischer Gewalt- und Willkürherrschaft erinnern, ist nicht Gegenstand der Ausarbeitung. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 118/15 Seite 9 unter 2.3. dargestellt wurde, der die Ordnungsbehörde zunächst zur Ergreifung weniger einschneidender Maßnahmen verpflichtet und ein Verbot zur ultima ratio macht, muss auch bei Verboten von Versammlungen unter freiem Himmel gewahrt sein. § 15 Abs. 1 VersG setzt voraus, dass Umstände erkennbar sind, die die öffentliche Sicherheit und Ordnung bei der Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährden. Der Begriff der öffentlichen Sicherheit umfasst nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „den Schutz zentraler Rechtsgüter, wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre und Vermögen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen.“25 Unter dem Begriff der öffentlichen Ordnung ist nach dem Bundesverfassungsgericht „die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln zu verstehen, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden und mit dem Wertgehalt des Grundgesetzes zu vereinbarenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebietes angesehen wird.“26 Ein präventives Verbot setzt eine Gefahrenprognose der zuständigen Ordnungsbehörde voraus. Dabei verlangt das Bundesverfassungsgericht ein Wahrscheinlichkeitsurteil, das auf Tatsachen beruht.27 Bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen sind nicht ausreichend.28 Zu berücksichtigen ist ferner, dass es im Lichte der grundrechtlichen Gewährleistung von Art. 8 GG29 nicht Einzelne in der Hand haben dürfen, die Realisierung friedlicher Versammlungen durch friedliche Teilnehmer durch ihr unfriedliches Verhalten faktisch außer Kraft zu setzen.30 Sofern also eine gesicherte Gefahrenprognose nicht den Schluss zulässt, dass die geplante Versammlung mit hoher Wahrscheinlichkeit im Ganzen einen unfriedlichen Verlauf annimmt, scheidet ein Verbot aus.31 Die Ordnungsbehörde hat zunächst Maßnahmen zum Schutze der Versammlung abzuwägen und ggf. weniger einschneidende Maßnahmen wie Auflagen zu erteilen.32 Das Vorgesagte gilt entsprechend für die mögliche Auflösung einer bereits begonnenen Versammlung , da § 15 Abs. 3 VersG auf Abs. 1 verweist. Auch in diesem Fall sind zunächst weniger 25 Vgl. BVerfGE 69, 315 (352). 26 Vgl. BVerfGE 69, 315 (352). 27 Vgl. BVerfG, NJW 2001, 2072 (2074). 28 BVerfG, NVwZ 1998, 834 (835). 29 Träger des Grundrechts aus Art. 8 GG sind nur Deutsche. Ausländer können sich aber auf das Auffanggrundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) berufen (Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz-Kommentar, 13. Auflage 2014, Art. 8, Rn. 11, m. w. N. auch für die a. A.). Einfachgesetzlich ist die Versammlungsfreiheit nach § 1 VersG für jedermann gewährleistet. 30 Vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, 16. Auflage 2011, § 13, Rn. 38. 31 Vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, 16. Auflage 2011, § 13, Rn. 38. 32 Vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, 16. Auflage 2011, § 13, Rn. 38. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 118/15 Seite 10 einschneidende Maßnahmen als eine Auflösung zum Schutze der Versammlung im Ganzen zu ergreifen. 2.5. Kostenfaktor Die durch eine Versammlung entstehenden Kosten sind im Rahmen der Prüfung eines möglichen Versammlungsverbots grundsätzlich kein zu berücksichtigender Faktor, sondern häufig ein zwangsläufig entstehender Annex, der zum Schutz der individuellen Versammlungsfreiheit von staatlicher Seite aufgewandt werden muss. Eine eventuelle Kostentragungspflicht des Veranstalters darf die Versammlungsfreiheit nicht durch einen finanziellen „Einschüchterungseffekt“ konterkarieren.33 33 Vgl. jeweils in Bezug auf Straßenreinigungskosten: Wiefelspütz, Aktuelle Probleme des Versammlungsrechts in der Hauptstadt Berlin, DÖV 2001, 21 (25); Depenheuer, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 73. Ergänzungslieferung 2014, Art. 8, Rn. 128.