Verfassungsrechtliche und einfachgesetzliche Fragen zum Vertrag von Lissabon - Ausarbeitung - © 2008 Deutscher Bundestag WD 3 – 3000-116/08 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasser/in: Verfassungsrechtliche und einfachgesetzliche Fragen zum Vertrag von Lissabon Ausarbeitung WD 3 – 3000-116/08 Abschluss der Arbeit: 4. April 2008 Fachbereich WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W. Inhalt 1. Einleitung 3 2. Zum Begriff „Nationale Parlamente“ 4 2.1. Europarechtliche Vorgaben 4 2.2. Nationales Europaverfassungsrecht 5 3. Parlamentsvorbehalt bei autonomen Vertragsänderungen 6 3.1. Zur Möglichkeit der autonomen Vertragsänderung 6 3.2. Bisherige Bedeutung von autonomen Vertragsänderungen 8 3.3. Verfassungsrechtliche Notwendigkeit eines Parlamentsvorbehalts 8 3.4. Ergebnis 10 4. Details zum Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes 10 4.1. Änderung von Art. 23 GG 10 4.2. Änderung von Art. 45 GG 12 5. Details zum Entwurf des Begleitgesetzes 12 5.1. Rechtstechnische Überlegungen 13 5.2. Bezug auf die Geschäftsordnungen der obersten Staatsorgane 13 5.3. Regelung zur Prozessführung 13 5.4. Rechtsgrundlage für weitere Vereinbarungen 14 5.5. Übersendung von Unionsvorlagen 14 6. Anlagenverzeichnis 16 - 3 - 1. Einleitung Der Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 20071 führt zur Änderung des Vertrags von Nizza. Gemäß Art. 48 des Vertrags von Nizza (EUV) muss der Vertrag deshalb von allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorgaben ratifiziert werden. Europarechtlich determiniert ist nicht, ob dies parlamentarisch oder im Wege eines Referendums geschieht. Die maßgebenden verfassungsrechtlichen Vorschriften in Deutschland sind Art. 59 Abs. 2 Satz 1 und Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG.2 Danach müssen Bundestag und Bundesrat ein Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon beschließen.3 Das Zustimmungsgesetz bedarf nach Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 GG der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates.4 Der Entwurf des Zustimmungsgesetzes zum EUV-Liss ist am 13. März 2008 im Deutschen Bundestag in erster Lesung beraten worden.5 Es ist geplant, dass der Bundesrat dem Gesetz in seiner Sitzung am 23. Mai 2008 zustimmt.6 Vom Zustimmungsgesetz zu unterscheiden ist das so genannte Begleitgesetz7: Im Begleitgesetz werden die innerstaatlichen Voraussetzungen geschaffen, um die Rechte ausüben zu können, die den nationalen Parlamenten durch den Vertrag von Lissabon eingeräumt werden.8 Ursprünglich war geplant, das Begleitgesetz zum EUV-Liss an das Begleitgesetz9 zum Verfassungsvertrag anzulehnen. Dieses Begleitgesetz ist zwar ausgefertigt und verkündet; es ist jedoch nicht in Kraft getreten, da dies vom Inkrafttreten 1 Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, abrufbar unter http://www.auswaertigesamt .de/diplo/de/Europa/Verfassung/vertrag-von-lissabon.pdf; im Folgenden EUV-Liss. 2 Herrschende Auffassung, vgl. nur Jarass, Hans D.; Pieroth, Bodo, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 9. Auflage 2007, Art. 59 Rn. 1 m.w.N. 3 Im Folgenden als Zustimmungsgesetz bezeichnet; gelegentlich finden sich auch die Begriffe Ratifikations - oder Ratifizierungsgesetz bzw. Vertragsgesetz. 4 BT-Drs. 16/8300; siehe auch die Verträge von Maastricht, BGBl. II 1992, 1253; Amsterdam, BGBl. II 1998, 387 und Nizza, BGBl. II 2001, 1667. 5 BT-Plenarprotokoll 16/151, S. 15836 (D); Entwurf des Gesetzes zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007, BT-Drs. 16/8300, Vorgangsablauf unter http://dip21.bundestag.de/dip21.web/bt, GESTA-Ordnungsnummer XA010 sowie die Anhörungen des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zum Vertrag von Lissabon, Tagesordnungen abrufbar unter http://www.bundestag.de/ausschuesse/a21/tagesordnungen/index.html, letzter Aufruf am 2. April 2008. 6 Vgl. die Sitzungstermine unter http://www.bundesrat.de/nn_8338/DE/termine/plenum/plenumtermine -node.html?__nnn=true, letzter Aufruf am 2. April 2008. 7 Konkret lautet die Bezeichnung: „Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union“, vgl. den entsprechenden Entwurf in BT-Drs. 16/8489. 8 BT-Drs. 16/8489, S. 1 und Begründung S. 1. 9 Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 17. November 2005, BGBl. I S. 3178. - 4 - des Verfassungsvertrages abhängig gemacht worden war. Die Regelungen in diesem Gesetz zur Brückenklausel und zu den Quoren für die Subsidiaritätsklage hatten neuen Diskussionsbedarf ausgelöst.10 Aufgrund dieser Bedenken sind eine veränderte Fassung des Begleitgesetzes11 und ein Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes12 ebenfalls in der genannten Sitzung des Bundestags am 13. März 2008 in erster Lesung beraten und den zuständigen Ausschüssen überwiesen worden13. Im Folgenden werden Einzelfragen zum Vertrag von Lissabon und den genannten Gesetzentwürfen erörtert. Die Bundestagsdrucksache 16/8488 (GG-Änderung) und die Bundestagsdrucksache 16/8489 (Begleitgesetz) sind beigefügt als - Anlage 1 und 2 -. 2. Zum Begriff „Nationale Parlamente“ 2.1. Europarechtliche Vorgaben Der Begriff „nationale Parlamente“ findet sich im EUV-Liss an verschiedenen Stellen, vgl. hierzu die beigefügte Synopse in - Anlage 3 -. Eine Legaldefinition gibt es nicht. Insoweit ist fraglich, ob der Begriff „nationale Parlamente “ aus europarechtlicher Perspektive nur eine Kammer oder zwei Kammern umfasst . Maßgeblich für das Europarecht ist ein weites Verständnis des Begriffs der zweiten Kammer aus der Perspektive der Rechtsvergleichung. „Zweite Kammer“ ist danach jede Körperschaft, die formal oder funktional Teil des nationalen Parlaments ist, aber nicht wie diese Vertretung („Erste Kammer“) gewählt, sondern auf einer zumindest zum Teil abweichenden Legitimationsbasis beruht.14 Das bedeutet am Beispiel Deutschlands : Der Bundestag ist das aus allgemeinen, unmittelbaren und gleichen Wahlen hervorgegangene Parlament, das die Bundesgesetze beschließt. Der Bundesrat wirkt unter anderem an der Gesetzgebung mit. Er wird aber nicht gewählt, sondern besteht aus Mitgliedern der Regierungen der Bundesländer. Gerade wegen dieser bloßen Mitwirkungs- 10 Siehe hierzu Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste, WD 3 – 019/08. 11 BT-Drs. 16/8489. 12 BT-Drs. 16/7446. 13 BT-Plenarprotokoll 16/151, S. 15837 (A). 14 Groß, Thomas, Zwei-Kammer-Parlamente in der Europäischen Union, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV 63) 2003, S. 29 (31). - 5 - befugnis ist er aus der Sicht des Grundgesetzes keine zweite Kammer in einem einheitlichen Gesetzgebungsorgan.15 Es ist Aufgabe des nationalen Europaverfassungsrechts, die Ausübung der unionswärtigen Gewalt durch die Parlamente zu organisieren. In Zweikammersystemen muss die Entscheidungsbefugnis der beiden Kammern festgelegt werden. Konkret für die Bundesrepublik Deutschland ist demnach zu klären, ob europarechtlich determiniert ist, dass Bundestag und Bundesrat gemeint sind oder nur der Bundestag . Für Subsidiaritätsrügen bzw. Subsidiaritätsklagen gibt der EUV-Liss eine Antwort. Art. 6 Abs. 1 S. 1 des Subsidiaritätsprotokolls16 spricht von „nationalen Parlamenten“ oder den „Kammern eines dieser Parlamente“. Art. 7 Unterabs. 2 bestimmt: „Jedes nationale Parlament hat zwei Stimmen, die entsprechend dem einzelstaatlichen parlamentarischen System verteilt werden. In einem Zweikammersystem hat jede der beiden Kammern eine Stimme.“ Daraus könnte im Umkehrschluss zu folgern sein, dass ohne eine ausdrückliche Nennung beider Kammern im EUV-Liss nur eine Kammer gemeint ist. Dagegen lässt sich jedoch anführen, dass die ausdrückliche Nennung im Subsidiaritätsprotokoll notwendig ist, um Stimmenzahl und Quoren festzulegen. Ferner wird in Art. 8 des Protokolls über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Unterrichtungspflichten der Art. 1 bis 7 des Protokolls für jede der Kammern des Parlaments gelten, wenn es sich nicht um ein Einkammerparlament handelt.17 Daraus folgt, dass der Begriff „nationale Parlamente“ europarechtlich nur für das Subsidiaritätsprotokoll determiniert ist. Im Übrigen obliegt es den Mitgliedstaaten, den Begriff im nationalen Europaverfassungsrecht zu konkretisieren. 2.2. Nationales Europaverfassungsrecht Diese Konkretisierung ist notwendig, weil innerstaatlich Konflikte nicht ausgeschlossen sind. Es ist denkbar, dass Bundestag und Bundesrat bei bestimmten Vorhaben der EU zu unterschiedlichen Einschätzungen gelangen. 15 BVerfGE 37, 363 (380). 16 Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. 17 BT-Drs. 16/8300, S. 62. - 6 - Im Grundgesetz gibt es zu der aufgeworfenen Frage keine Regelung. Allerdings enthält § 4 des Entwurfs für das Begleitgesetz18 Konfliktlösungsmechanismen bei der Anwendung der so genannten Brückenklausel („Passerelle“)19. Diese Brückenklausel ermöglicht den Übergang von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit im Rat. Jedes nationale Parlament hat gegen diesen Übergang ein Widerspruchsrecht.20 In der Bundesrepublik ist dieses Widerspruchsrecht in § 4 des Entwurfs für das Begleitgesetz Bundestag und Bundesrat zugeordnet, je nachdem, ob im Kern Gesetzgebungskompetenzen des Bundes oder der Länder betroffen sind. Dieses Widerspruchsrecht bezieht sich auf alle Brückenklauseln des EUV-Liss, so auch auf die im Verfassungsvertrag noch nicht enthaltene Passerelle im Familienrecht.21 3. Parlamentsvorbehalt bei autonomen Vertragsänderungen 3.1. Zur Möglichkeit der autonomen Vertragsänderung Der EUV-Liss sieht in Kapitel 4 Regelungen zur Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen vor, vgl. Art. 69a bis Art. 69e EUV-Liss.22 Artikel 69b EUV-Liss entspricht Artikel III-271 des Verfassungsvertrages mit den am 23. Juni 2007 vereinbarten Änderungen. Er präzisiert die Rechtsgrundlage für die Angleichung des materiellen Strafrechts und erweitert sie.23 Artikel 69b EUV-Liss lautet auszugsweise24: „(1) Das Europäische Parlament und der Rat können gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Richtlinien Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen in Bereichen besonders schwerer Kriminalität festlegen, die aufgrund der Art oder der Auswirkungen der Straftaten oder aufgrund einer besonderen Notwendigkeit, sie auf einer gemeinsamen Grundlage zu bekämpfen, eine grenzüberschreitende Dimension haben. 18 BT-Drs. 16/8489, S. 5 f.; Begründung S. 4 f. 19 Siehe dazu die Erläuterungen in der Denkschrift zum Vertrag von Lissabon, Seite 15 ff., abrufbar unter http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Europa/Downloads/Denkschrift-lissabon.pdf, letzter Aufruf am 2. April 2008. 20 Vgl. Art. 48 Abs. 7 EUV-Liss. 21 Siehe BT-Drs. 16/8489, S. 5; siehe auch sogleich unter 3.3. 22 Vgl. BT-Drs. 16/8300, S. 31 ff., Begründung S. 175 ff. 23 BT-Drs. 16/8300, S. 176. 24 Hervorhebung durch die Verfasser. - 7 - Derartige Kriminalitätsbereiche sind: Terrorismus, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Fälschung von Zahlungsmitteln , Computerkriminalität und organisierte Kriminalität. Je nach Entwicklung der Kriminalität kann der Rat einen Beschluss erlassen , in dem andere Kriminalitätsbereiche bestimmt werden, die die Kriterien dieses Absatzes erfüllen. Er beschließt einstimmig nach Zustimmung des Europäischen Parlaments.“ Die Klausel betrifft eine neue Kompetenzgrundlage für das materielle Strafrecht. Sie lässt den Erlass von Richtlinien mit Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen unter alternativen Voraussetzungen zu.25 So ermöglicht Absatz 1 die Rechtsangleichung in Bereichen besonders schwerer Kriminalität mit grenzüberschreitender Dimension.26 Der Text enthält zunächst eine abschließende Aufzählung dieser Bereiche; die Liste kann unter Beachtung der Kriterien durch den Rat aber erweitert werden.27 Anders als beim Verfahren nach Art. 48 EUV beschließt der Rat – nach Zustimmung des Europäischen Parlaments – eine Änderung des Vertrages ohne Beteiligung der nationalen Parlamente. Einzige „Notbremse“28 ist Art. 69b Abs. 3 EUV-Liss: Hiernach kann ein Mitglied des Rates, das der Auffassung ist, dass der Entwurf einer Richtlinie nach den Absätzen 1 oder 2 grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung berühren würde, beantragen, dass der Europäische Rat befasst wird. In diesem Fall wird das ordentliche Gesetzgebungsverfahren zunächst ausgesetzt. Mit dieser Regelung enthält der Vertrag eine Möglichkeit zur so genannten autonomen bzw. vereinfachten Vertragsänderung. Dies ist keine neue Option; als Rechtsakte sui generis sind sie auch in früheren Verträgen enthalten gewesen.29 25 BT-Drs. 16/8300, S. 176. 26 BT-Drs. 16/8300, S. 176. 27 BT-Drs. 16/8300, S. 176; zu Absatz 2 vgl. a.a.O. sowie BT-Drs. 16/7683. 28 Vgl. diesen Begriff in BT-Drs. 16/8300, S. 175. 29 Vgl. nur Vedder, Christoph; Folz, Hans-Peter, in: Grabitz, Eberhard (Begr.); Hilf, Meinhard (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Band I EUV/EGV, Loseblattsammlung, Art. 48 EUV Rn. 23 (Ergänzungslieferung 14, Stand: Oktober 1999); allgemein zu autonomen Vertragsänderungen: Meng, Werner, in: von der Groeben, Hans; Schwarze, Jürgen (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG- Vertrag, 6. Auflage 2003, Art. 48 Rn. 82 ff. - 8 - 3.2. Bisherige Bedeutung von autonomen Vertragsänderungen Bislang betreffen das Regime der autonomen Vertragsänderungen nur Entscheidungen von relativ geringer Bedeutung für Struktur und Entwicklung der Union.30 Sie bezogen sich zum Beispiel auf die beschleunigte Abschaffung der Einfuhrzölle31, die Abschaffung mengenmäßiger Beschränkungen32 und die Möglichkeit der Einbeziehung weiterer Erzeugnisse in die Agrarpolitik33. Andere vereinfachte Änderungsverfahren gibt es für die Zusammensetzung der Organe, etwa hinsichtlich der Zahl der Richter und Generalanwälte am EuGH.34 Mit dem materiellen Strafrecht ist hingegen ein wichtiger Bereich staatlicher Aufgaben von einer möglichen autonomen Vertragsänderung betroffen. 3.3. Verfassungsrechtliche Notwendigkeit eines Parlamentsvorbehalts Fraglich ist deshalb, ob es aus verfassungsrechtlicher Sicht geboten ist, die Entscheidung eines Bundesministers im Rat an einen vorherigen Beschluss des Bundestages zu koppeln.35 Diese Frage stellt sich über die – hier einschlägige – Mitwirkungsmöglichkeit des Bundestages und Berücksichtigungspflicht nach Art. 23 Abs. 3 GG.36 Grundsätzlich enthält die Zustimmung zum Vertrag von Lissabon auch die Zustimmung zur Möglichkeit der autonomen Vertragsänderung. Deshalb müsste das Parlament nicht nach Art. 59 Abs. 2 GG zustimmen, wie es sonst bei Änderungen des Primärrechts notwendig wäre, die nicht auf eine Übertragung von Hoheitsrechten abzielen.37 Die Zulässigkeit der Ermächtigung zur autonomen Vertragsänderung setzt allerdings voraus, dass die – zunächst implizit gebilligten – Vertragsfortentwicklungen das Integrationsprogramm des betreffenden Vertrages als Grenze beachten.38 Wo diese Gren- 30 So ausdrücklich Meng (Fn. 29), Art. 48 EUV Rn. 79. 31 Art. 14 Abs. 7 EWGV (alt). 32 Art. 33 Abs. 8 EWGV (alt). 33 Art. 38 Abs. 3 S. 2 EGV a.F. 34 Art. 221 Abs. 4 EGV, Art. 222 Abs. 3 EGV; alle Beispiele nach Vedder/Folz (Fn. 29), dort Art. 48 EUV Rn. 23 und Meng (Fn. 29), Art. 48 EUV Rn. 85 ff. 35 In der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion der FDP wird zwar zu Einzelfragen zu Art. 69b EUV-Liss Stellung genommen, nicht aber zu der hier zu prüfenden Frage, vgl. BT-Drs. 16/7683. Auch die Denkschriften zum EUV-Liss und zum Vertrag für eine Verfassung für Europa enthalten keine Hinweise. 36 Die Stellungnahmen des Bundestages nach Art. 23 Abs. 3 GG als schlichte Parlamentsbeschlüsse sind für die Bundesregierung rechtlich nicht bindend, vgl. nur Rohjan, Ondolf, in: von Münch, Ingo (Begr.); Kunig, Philip (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Band 2, 5. Auflage 2001, Art. 23 Rn. 61. 37 Vgl. Jarras/Pieroth (Fn. 2), Art. 23 Rn. 26. 38 Hillgruber, Christian, in: Schmidt-Bleibtreu, Bruno; Klein, Franz (Begr.); Hofmann, Hans; Hopfauf, Axel (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 11. Auflage 2008, Art. 23 Rn. 19; siehe in diesem Sinne generell für die Fortentwicklung völkerrechtlicher Verträge am Beispiel der NATO Murswiek, Dietrich, Die Fortentwicklung völkerrechtlicher Verträge: verfassungsrechtliche Grenzen und Kontrolle im Organstreit, NVwZ 2007, 1130 (1131). - 9 - ze zu ziehen ist, entzieht sich einer pauschalen Einschätzung. Maßgeblich sollen nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die Vorhersehbarkeit und Bestimmbarkeit der Vertragsfortentwicklung sein.39 Weiterhin müssen dem Bundestag trotz der Möglichkeit der autonomen Vertragsänderung Einflussmöglichkeiten von substanziellem politischem Gewicht verbleiben.40 Die Vorhersehbarkeit dürfte gewahrt sein: Die Kompetenz ist begrenzt auf besonders schwere Kriminalität, die grenzüberschreitende Dimension haben muss. Aus dem bereits genannten Katalog können Anhaltspunkte für weitere Bereiche gezogen werden. Dafür spricht ein Vergleich mit Art. 308 EGV41, der als allgemeine Flexibilitätsklausel42 als grundsätzlich zulässig angesehen wird43. Die Klausel ermöglicht traditionell Fortschreibungen des Integrationsprogramms, die über die Möglichkeiten hinausgehen, die Art. 69b EUV-Liss eröffnet. Einfluss auf die Entscheidung des Rats kann der Bundestag nehmen, indem der deutsche Vertreter entsprechend beeinflusst wird. Dies ist etwa denkbar durch einen entsprechenden Beschluss des Bundestages, mit dem der deutsche Vertreter aufgefordert wird, die Willensbildung im Parlament zu beachten und entsprechend zu entscheiden. Dagegen spricht auch nicht, dass dies anders für Teilaspekte der Justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen, die in Kapitel 3 geregelt ist. Dort heißt es in Art. 65 Abs. 3 EUV-Liss: „Abweichend von Absatz 2 werden Maßnahmen zum Familienrecht mit grenzüberschreitendem Bezug vom Rat gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren festgelegt. Dieser beschließt einstimmig nach Anhörung des Europäischen Parlaments. Der Rat kann auf Vorschlag der Kommission einen Beschluss erlassen, durch den die Aspekte des Familienrechts mit grenzüberschreitendem Bezug bestimmt werden, die Gegenstand von Rechtsakten sein können, die gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen werden. Der Rat beschließt einstimmig nach Anhörung des Europäischen Parlaments. 39 „Maastricht-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Oktober 1993, Aktenzeichen 2 BvR 2134/92, 2 BvR 2159/92, Leitsatz Nr. 5 = BVerfGE 89, 155 ff. 40 BVerfG (Fn. 39), Leitsatz Nr. 4. 41 Im Vertrag Art. 352 AEUV. 42 Vgl. BT-Drs. 16/8300, S. 196. 43 Siehe nur Bungenberg, Marc, Dynamische Integration, Art. 308 und die Forderung nach dem Kompetenzkatalog , EuR 2000, 879 ff. - 10 - Der in Unterabsatz 2 genannte Vorschlag wird den nationalen Parlamenten übermittelt. Wird dieser Vorschlag innerhalb von sechs Monaten nach der Übermittlung von einem nationalen Parlament abgelehnt, so wird der Beschluss nicht erlassen. Wird der Vorschlag nicht abgelehnt, so kann der Rat den Beschluss erlassen.“ Für Harmonisierungsmaßnahmen im Familienrecht gilt eine Sonderregelung für die Beschlussfassung: Der Rat kann für bestimmte Aspekte des Familienrechts einstimmig den Übergang zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren beschließen.44 Hiergegen hat jedes nationale Parlament ein Widerspruchsrecht. Hier handelt sich jedoch um eine spezielle Form der Brückenklausel, vgl. Art. 48 Abs. 7 EUV45; insoweit ist es konsequent , hier die nationalen Parlamente bereits aus europarechtlicher Sicht einzubeziehen. Wegen der erwähnten Wichtigkeit des Strafrechts spricht aber auch nichts dagegen , den Bundestag bei der Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen stärker einzubeziehen und einen entsprechenden Parlamentsvorbehalt in das Grundgesetz aufzunehmen . 3.4. Ergebnis Verfassungsrechtlich zwingend dürfte ein Parlamentsvorbehalt bei der geprüften Möglichkeit zur autonomen Vertragsänderung nicht sein. 4. Details zum Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes Der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes46 sieht Änderungen in Art. 23 GG, Art. 45 GG und Art. 93 GG47 vor. 4.1. Änderung von Art. 23 GG Art. 23 soll einen neuen Absatz 1a erhalten: „Der Bundestag und der Bundesrat haben das Recht, wegen Verstoßes eines Gesetzgebungsakts der Europäischen Union gegen das Subsidiaritätsprinzip vor dem Gerichtshof der Europäischen Union Klage zu erheben. Der Bundestag ist hierzu auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder verpflichtet. Durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, können für die Wahrnehmung der Rechte, die dem Bundestag und dem Bundesrat in den 44 BT-Drs. 16/8300, S. 175. 45 Siehe dazu BT-Drs. 16/8300, 167. 46 BT-Drs. 16/8488 (identisch mit der Formulierungshilfe der Bundesregierung). 47 Hier wird das Antragsquorum für die Normenkontrolle geändert und an Art. 44 GG angepasst; dies spielt für die hier zu untersuchenden Fragen keine Rolle. - 11 - vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union eingeräumt sind, Ausnahmen von Artikel 42 Abs. 2 Satz 1 und Artikel 52 Abs. 3 Satz 1 zugelassen werden.“ Satz 1 der geplanten Ergänzung konkretisiert das Subsidiaritätsprotokoll, dürfte lediglich deklaratorische Bedeutung haben, weil der EUV-Liss bei der Subsidiaritätskontrolle den Begriff „nationales Parlament“ bereits im Sinne eines Zweikammersystems versteht.48 Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass mit dem Begriff „Gesetzgebungsakt “ ein neuer Begriff in Art. 23 GG eingeführt wird; bislang heißt es dort „Rechtsetzungsakt “, vgl. Art. 23 Abs. 3 GG. Satz 2 ist nach hiesiger Auffassung ebenfalls nicht zwingend notwendig, weil es sich bei der geplanten Regelung um ein Recht von Bundestagsminderheiten handelt und deshalb kein Beschluss im Sinne des Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG vorliegt.49 Satz 3 ist hingegen notwendig, um die Regelungen im Begleitgesetz zur Brückenklausel zu ermöglichen. Hier sind in § 4 Abweichungen von der in Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG geregelten einfachen Mehrheit vorgesehen. Ausweislich des Wortlauts kann von der einfachen Abstimmungsmehrheit abgewichen werden durch eine Regelung in der Verfassung . Hiervon ist an vielen Stellen im Grundgesetz Gebrauch gemacht worden.50 Mit dem vorliegenden Entwurf wird jedoch zum ersten Mal eine „Öffnungsklausel“ aufgenommen : Die im Grundgesetz bislang aufgeführten „anderen Bestimmungen“ nennen die Mehrheitserfordernisse nämlich ausdrücklich.51 Lege artis würde sich also eine ausdrückliche Benennung der Mehrheitserfordernisse in das jetzige System einfügen. Fraglich ist deshalb, ob nur formuliert werden darf, dass Ausnahmen von Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG durch Gesetz geregelt werden können. Es würde das erste Mal ein Mehrheitserfordernis nicht ausdrücklich im Grundgesetz selbst benannt, sondern dessen Benennung einem einfachen (und damit leicht abänderbaren) Gesetz überlassen. Es wäre wohl nicht verfassungswidrig, die Delegationslösung zu wählen. Dafür ist anzuführen , dass eine „andere Bestimmung“ im Sinne des Art. 42 Abs. 2 im Grundgesetz zu finden ist, nämlich in Art. 23 Abs. 1a n.F. Es könnte zwar dem Willen des historischen Verfassunggebers widersprechen, Festlegungen von Mehrheitserfordernissen in einem einfachen Gesetz, also nicht verfassungsfest vorzunehmen. Eine neue Grundgesetznorm kann jedoch zulässigerweise für eine neue Situation neue Regeln aufstellen. 48 Siehe oben 2.1. 49 Siehe dazu ausführlich (Fn. 10) und sogleich unter 5.5. 50 Siehe z.B. Art. 77 Abs. 4 GG; weitere Aufzählung bei Morlok, Martin, in: Dreier, Horst (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Band II, 2. Auflage 2006, Art. 42 Rn. 37. 51 Siehe zum Beispiel Art. 79 Abs. 3 GG (Zwei-Drittel-Mehrheit); Art. 77Abs. 4 (qualifizierte Mehrheit ). - 12 - Ein Verstoß gegen Art. 79 Abs. 3 GG ist nicht zu sehen. Hiernach sind unter anderem Änderungen unzulässig, welche die in Art. 20 GG niederlegten Grundsätze berühren. Dazu gehören auch Teilaspekte des Demokratieprinzips.52 Hierunter fällt der Modus der Entscheidung nach dem Kriterium der Mehrheit.53 Wie dieser Modus konkret ausgestaltet wird, ist jedoch nicht veränderungsfest. Sichergestellt sein müssen lediglich die Beteiligung der Minderheit am Willensbildungsprozess sowie die Chance, eine bestimmte Entscheidung später zu revidieren.54 Auch nicht erkennbar ist ein eklatanter Systembruch, der mit Hilfe der problematischen Figur des „verfassungswidrigen Verfassungsrechts“55 die Verfassungsgemäßheit des neuen Artikels in Frage stellen könnte. 4.2. Änderung von Art. 45 GG Art. 45 GG soll um einen Satz erweitert werden: „Er kann ihn auch ermächtigen, die Rechte wahrzunehmen, die dem Bundestag in den vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union eingeräumt sind.“ Mit dieser Ergänzung wird eine bereits verfassungsrechtlich verankerte Delegationsbefugnis erweitert. Das ist verfassungsrechtlich zulässig; es wäre aber wohl ausreichend, dies im einfachen Gesetz zu regeln.56 5. Details zum Entwurf des Begleitgesetzes Der Entwurf eines Gesetzes über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union57 ist ein Artikelgesetz . Es enthält in Art. 1 das Gesetz über die Ausübung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates aus dem Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007 zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft. Art. 2 ändert verschiedene Gesetze, so beispielsweise das Gesetz über 52 Statt vieler: Hain, Karl-E., in: v. Mangoldt, Hermann (Begr.); Klein, Friedrich; Starck, Christian (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Band 2, 5. Auflage 2005, Art. 79 Abs. 3 Rn. 75 ff. 53 Ausführlich Hain (Fn. 52), Rn. 86. 54 Hain (Fn. 52), Rn. 87. 55 Vgl. Nachweise bei Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf (Fn. 38), Art. 93 Rn. 101. 56 Vgl. (Fn. 10). 57 Gesetzentwurf in BT-Drs. 16/8489. - 13 - die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union58 (EUZBBG). Art. 3 regelt das Inkrafttreten. Soweit in diesem Gesetzentwurf davon gesprochen wird, dass das ursprüngliche Gesetz „erneut verabschiedet werden“ bzw. „erneut angenommen werden“ soll59, dürfte dies untechnisch zu verstehen sein, da ein bereits verabschiedetes Gesetz nicht erneut verabschiedet oder angenommen werden kann. 5.1. Rechtstechnische Überlegungen Gegenwärtig gibt es das Gesetz über die Zusammenarbeit zwischen Ländern und Bundesregierung 60 sowie das EUZBBG. Es erscheint unnötig kompliziert, diese beiden Gesetze mit Hilfe eines dritten Gesetzes zu modifizieren. Vorzugswürdig wäre die Lösung, nur die beiden Gesetze selbst zu ändern. 5.2. Bezug auf die Geschäftsordnungen der obersten Staatsorgane Im Gesetzentwurf zum Begleitgesetz wird durchgängig auf Regelungen verwiesen, die Bundestag und Bundesrat in ihren Geschäftsordnungen treffen sollen.61 Das ist zumindest überflüssig, denn den beiden Staatsorganen steht die Geschäftsordnungsautonomie durch Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG bzw. Art. 52 Abs. 3 S. 2 GG zu.62 Es sollte der falsche Eindruck vermieden werden, der einfache Gesetzgeber könne den Staatsorganen insoweit Vorgaben machen. 5.3. Regelung zur Prozessführung Problematisch könnte § 3 Abs. 5 des Gesetzentwurfs sein. Hier ist geregelt, dass das Organ, welches die Erhebung der Klage nach dem Subsidiaritätsprotokoll beschlossen hat, auch die Prozessführung vor dem Europäischen Gerichtshof übernimmt. Durch diese Festlegung könnte der Bundestag sehr stark belastet werden, da der Bundestag im Gegensatz zur Bundesregierung auf solche Prozessführungen nicht eingestellt ist.63 Jährlich werden zirka 500 Verfahren inhaltlich durch die Bundesregierung betreut.64 58 Gesetz vom 12. März 1993, BGBl. I S. 311; zuletzt geändert durch Gesetz vom 17. November 2005, BGBl. I S. 3178. 59 BT-Drs. 16/8489, S. 1 und S. 1 der Begründung. 60 Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union (EUBLG) vom 12. März 1993, BGBl. I S. 313, zuletzt geändert durch Gesetz vom 5. September 2006, BGBl. I S. 2098. 61 § 1; § 2 Abs. 2; § 3 Abs. 2 S. 3, Abs. 3; § 4 Abs. 3, vgl. BT-Drs. 16/8489, S. 3 ff. 62 Zu Details siehe nur Jaras/Pieroth (Fn. 2), Art. 40 Rn. 7 ff. und Art. 52 Rn. 3. 63 Anders als etwa bei Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. 64 http://www.bmwi.de/BMWi/Navigation/Europa/Europaministerium-BMWi/kompetenzzentrumeuroparecht ,did=141572.html, letzter Aufruf am 3. April 2008. - 14 - 5.4. Rechtsgrundlage für weitere Vereinbarungen § 6 des Gesetzentwurfs bestimmt, dass Einzelheiten der Unterrichtung nach diesem Gesetz in den Vereinbarungen auf Grundlage des EUZBBG und des EUBLG geregelt werden. Die Vereinbarung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union65 (BBV) konkretisiert § 6 EUZBBG. Das EUZBBG wiederum konkretisiert Art. 23 Abs. 2 GG, wonach in Angelegenheiten der Europäischen Union66 der Bundestag und durch den Bundesrat die Länder mitwirken. Hierfür hat die Bundesregierung den Bundestag und den Bundesrat umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten. Einfachgesetzliche Normen können diese Vorgabe lediglich konkretisieren und müssen die Details regeln. Das haben Bundesregierung und Bundestag in der BBV getan. Eine gesetzliche Grundlage ist für solche Vereinbarungen zwischen obersten Staatsorganen zwar möglich, aber nicht erforderlich.67 Insoweit ist § 6 des Gesetzentwurfs überflüssig . 5.5. Übersendung von Unionsvorlagen Durch Art. 2 des Gesetzes wird unter anderem das EUZBBG geändert. Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 lit. b) sieht vor, dass in § 4 nach Satz 1 folgende Sätze eingefügt werden68: „Der Deutsche Bundestag kann auf die Übersendung von oder Unterrichtung zu einzelnen oder Gruppen von Vorschlägen, Initiativen oder Anträgen für Rechtsakte verzichten. Der Verzicht kann nicht gegen den Widerspruch einer Fraktion oder 5 Prozent69 der Mitglieder des Bundestages erklärt werden.“ Ausweislich der Begründung soll sichergestellt werden, dass „die Mehrheit des Bundestages die Zuleitung oder Unterrichtung von oder zu Dokumenten nicht verhindern kann, die von einer Minderheit als wichtig angesehen wird“70. Die Regelung enthalte „für die Beschlussfassung des Bundestages eine Modifizierung des Mehrheitsprinzips“71. 65 Vereinbarung vom 28. September 2006, BGBl. I S. 2177. 66 Siehe zum Begriff Jarass/Pieroth (Fn. 2), Art. 23 Rn. 50. 67 Hoppe, Tilman, Drum prüfe, wer sich niemals bindet – Die Vereinbarung zwischen Bundesregierung und Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union, DVBl. 2007, 1540, m.w.N. 68 BT-Drs. 16/8489, S. 8, Hervorhebung durch die Verfasser. 69 Korrekt wäre die Formulierung „fünf vom Hundert“. 70 Begründung in BT-Drs. 16/8489, S. 6. 71 Begründung in BT-Drs. 16/8489, S. 6, Hervorhebung durch die Verfasser. - 15 - Dem ist nicht uneingeschränkt zuzustimmen. Zwar handelt es sich beim Beschluss nach Satz 1 der geplanten Änderung um einen Beschluss im Sinne des Art. 42 Abs. 2 GG. Mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen kann der Bundestag beschließen, auf die Unterrichtung zu verzichten. Bei der Regelung in Satz 2 handelt es sich hingegen um ein Recht von Bundestagsminderheiten. Art. 42 Abs. 2 GG soll in diesen Fällen keine Anwendung finden, weil diesen (Antrags-)Rechten zu entsprechen ist; es handle sich insoweit nicht um einen Beschluss des Bundestages im Sinne des Art. 42 Abs. 2 GG.72 Solche Minderheitenrechte durchbrechen daher nicht das in Art. 42 Abs. 2 GG festgeschriebene Mehrheitsprinzip.73 Als weitere Beispiele sind zu nennen § 20 Abs. 3 S. 1 und Abs. 5 GOBT und § 78 Abs. 2 GOBT.74 Im Ergebnis spricht viel dafür, dass das Widerspruchsrecht keine Abweichung von Art. 42 Abs. 2 GG und damit dem Mehrheitsprinzip bedeutet. 72 Klein, Hans H., in: Maunz, Theodor; Dürig, Günter, Grundgesetz Kommentar, Losblattsammlung, Band IV, Art. 42 Rn. 92 (Stand: Juli 2001); Morlok (Fn. 50), Art. 42 Rn. 39; ähnlich wohl auch Müller-Graff, Christian, BT-Drs. 15/5492, S. 18, zum Begleitgesetz zum Verfassungsvertrag bezogen auf Quoren für die Subsidiaritätsklage. 73 Im Übrigen ist bei Regelungen auf Geschäftsordnungsebene strittig, ob eine Abweichung vom Mehrheitsprinzip zulässig ist; hier existiert jedoch durch Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG eine verfassungsrechtliche Legitimation für mögliche Abweichungen, vgl. nur Klein (Fn. 72), Art. 42 Rn. 91, m.w.N.; kritisch Jarass/Pieroth (Fn. 2), Art. 42 Rn. 4. 74 Einzelheiten zu diesen Regelungen bei Ritzel, Heinrich G.; Bücker, Joseph; Schreiner, Hermann J., Handbuch für die Parlamentarische Praxis mit Kommentar zur Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, Loseblattsammlung. - 16 - 6. Anlagenverzeichnis - Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes, BT-Drs. 16/8488 - Anlage 1 - - Entwurf eines Gesetzes über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union, BT-Drs. 16/8489 - Anlage 2 - - Verankerung der nationalen Parlamente im Primärrecht, synoptische Darstellung - Anlage 3 -