© 2015 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 – 115/15 Überstellung eines Asylantragstellers nach der Dublin-III-Verordnung Rechtslage zum Fristbeginn der Sechsmonatsfrist zur Überstellung nach Art. 29 Abs. 1 Verordnung (EU) 604/2013 (Dublin-III-Verordnung) Xxxxxxxxxxxxx Sachstand Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 – 115/15 Seite 2 Überstellung eines Asylantragstellers nach der Dublin-III-Verordnung Rechtslage zum Fristbeginn der Sechsmonatsfrist zur Überstellung nach Art. 29 Abs. 1 Verordnung (EU) 604/2013 (Dublin-III-Verordnung) Verfasser/in: Xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx Aktenzeichen: WD 3 - 3000 – 115/15 Abschluss der Arbeit: 19.05.2015 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: xxxxxxxxxxxxxxx Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 – 115/15 Seite 3 1. Fragestellung Gebeten wurde um Beantwortung einer Frage in Bezug auf die Regelung in Art. 29 Abs. 2 Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung eines Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Verordnung (EU) 604/2013, sog. Dublin-III-Verordnung)1, nach der die Zuständigkeit für die Durchführung eines Asylverfahrens auf einen Mitgliedstaat übergeht, wenn nicht innerhalb einer Frist von sechs Monaten eine Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat (sog. Erstaufnahmeland) erfolgt ist. Erfragt wurde, ob die Frist mit der Zuständigkeitserklärung des sog. Erstaufnahmelandes oder der Entscheidung bei eventuellem Rechtsbehelf zu laufen beginne. Eingangs der Fragestellung wurde davon ausgegangen, dass ein Asylbewerber, der über ein EU-Erstaufnahmeland nach Deutschland eingereist ist, sich sechs Monate in Deutschland aufhalten müsse, damit sein Antrag auf Asyl in Deutschland und nicht im Erstaufnahmeland bearbeitet werde (und er entsprechend in Deutschland bleiben könne, statt in das Erstaufnahmeland überstellt zu werden). 2. Rechtsgrundlagen Mit dem am 1. September 1997 in Kraft getretenen Übereinkommen über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Überprüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft gestellten Asylantrags2 (Dubliner Übereinkommen) wurde erstmalig eine Zuständigkeitsregelung der Mitgliedstaaten für Asylverfahren innerhalb der Europäischen Union getroffen. Das Übereinkommen wurde zunächst durch die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 (Dublin-II-Verordnung)3 und schließlich durch die Verordnung (EU) 604/2013 vom 26. Juni 2013 (Dublin-III-Verordnung) abgelöst. Die Verordnung gilt in allen EU-Mitgliedstaaten einschließlich Großbritannien und Irland mit Ausnahme von Dänemark. Aufgrund von Parallelübereinkommen gilt sie auch in Norwegen, Island und der Schweiz.4 Sie ist unmittelbar geltendes EU-Recht, wobei den Mitgliedstaaten eine Umsetzung in nationales Recht freisteht. Eine Verpflichtung zur Konkretisierung in nationalem Recht ist zum Beispiel in Art. 27 Abs. 3 hinsichtlich der Rechtsschutzmöglichkeiten gefordert. Gemäß Art. 49 Abs. 2 Verordnung (EU) 604/2013 ist die Verordnung auf Anträge anwendbar, die seit dem 1. Januar 2014 gestellt wurden. Für frühere Anträge bleibt die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 mit Ausnahmen für Gesuche um Aufnahme und Wiederaufnahme anwendbar.5 1 Online verfügbar unter: http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32013R0604&qid= 1399150600127&from=DE, letzter Abruf: 18.05.2015. 2 Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. C 254/1 vom 19.08.1997, online abrufbar unter: http://eurlex .europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:41997A0819(01)&from=EN, letzter Abruf: 18.05.2015. 3 Online verfügbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:32003R0343:DE:HTML, letzter Abruf: 18.05.2015. 4 Hailbronner, Kommentar Ausländerrecht, § 27a AsylVfG, Rn. 5 (Stand: 89. Aktualisierung März 2015) m.w.N. 5 Hailbronner, Kommentar Ausländerrecht, § 27a AsylVfG, Rn. 31 (Stand: 89. Aktualisierung März 2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 – 115/15 Seite 4 Entscheidend für die Begründung der Zuständigkeit eines Mitgliedstaats sind die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats in Kapitel III (Art. 16 ff.) Verordnung (EU) 604/2013. Nach Art. 18 Verordnung (EU) 604/2013 ist der zuständige Mitgliedstaat verpflichtet, einen Antragsteller bzw. einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der – seinen Antrag während der Antragsprüfung zurückgezogen oder – in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat (Art. 18 Abs. 1 Buchst. c) Verordnung (EU) 604/2013) oder – sich ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält und für den eine Wiederaufnahmeverpflichtung nach Art. 23, 24, 25 oder 29 Verordnung (EU) 604/2013 besteht (Art. 18 Abs. 1 Buchst. c) und d) Verordnung (EU) 604/2013) oder – dessen Antrag abgelehnt wurde und der in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat (Art. 18 Abs. 1 Buchst d) Verordnung (EU) 604/2013), aufzunehmen bzw. wieder aufzunehmen. Die Überstellung des Antragstellers oder der anderen Person im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Buchst. c) und d) Verordnung (EU) 604/2013 erfolgt gemäß Art. 29 Abs. 1 nach Abstimmung zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten, sobald diese praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 Verordnung (EU) 604/2013 aufschiebende Wirkung im nationalen Recht des ersuchenden Mitgliedstaats hat.6 Die Zuständigkeit geht gemäß Art. 29 Abs. 2 Verordnung (EU) 604/2013 auf den ersuchenden Mitgliedstaat über, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt wurde. Dann ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet. Diese Frist kann auf ein Jahr verlängert werden, wenn eine Überstellung aufgrund einer Inhaftierung nicht erfolgen konnte. Darüber hinaus ist eine Verlängerung auf achtzehn Monate möglich, wenn die betreffende Person flüchtig ist. Für die Verlängerung der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 ist in Fällen der Inhaftierung der Person ausreichend, dass die zuständige Behörde ohne Verschulden den Aufenthaltsort nicht kennt. Eine Verlängerung, weil der Asylbewerber flüchtig ist, ist dann möglich, wenn ein Überstellungsverfahren bereits gescheitert oder aussichtlos ist, weil die Person ohne Verschulden der Behörden nicht auffindbar ist oder rechtmäßigen Anordnungen, ihren Aufenthaltsort mitzuteilen oder sonstigen Pflichten zur Mitwirkung an einer Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat nicht nachkommt.7 6 Die nationale Umsetzung in Deutschland erfolgte durch § 34a AsylVfG. 7 Hailbronner, Kommentar Ausländerrecht, § 27a AsylVfG, Rn. 44 (Stand: 89. Aktualisierung März 2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 – 115/15 Seite 5 3. Auslegung der Fristenregelung durch die Rechtsprechung Die Frage der Zuständigkeit eines Mitgliedstaates oder assoziierten Staates richtet sich nach der Verordnung (EU) 604/2013, wenn in einem Mitgliedstaat erstmals ein Antrag auf internationalen Schutz8 gestellt wird. Die Verordnung unterscheidet dabei zwischen Aufnahme und Wiederaufnahme . Im Fall einer Antragstellung in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat besteht eine Aufnahmepflicht. Hält sich ein Antragsteller illegal in einem anderen Mitgliedstaat auf oder stellt dort einen Antrag auf internationalen Schutz, ergibt sich eine Wiederaufnahmepflicht. Gleiches gilt für Drittstaatenangehörige oder Staatenlose, die ihren Antrag im zuständigen Staat zurückgezogen haben oder deren Antrag abgelehnt wurde und die in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt haben oder sich dort ohne Aufenthaltstitel aufhalten.9 Für die Bestimmung der Zuständigkeit eines Landes innerhalb der EU kommt es zur Erlangung der Zuständigkeit deutscher Behörden für das Asylverfahren damit nicht auf einen sechs Monate währenden Aufenthalt in Deutschland nach der Einreise über ein sog. Erstaufnahmeland an. Die zur organisatorischen Durchführung der Überstellung vorgesehene Frist von sechs Monaten nach Art. 29 Abs. 1 Verordnung (EU) 604/2013 beginnt für Fälle, in denen eine Annahme des Ersuchens um Aufnahme durch den zuständigen Mitgliedstaat erfolgte und kein Rechtsmittel eingelegt wurde, mit der Annahme des Ersuchens.10 Gemäß § 188 Abs. 2 BGB endet die Frist grundsätzlich mit Ablauf desjenigen Tages des letzten Monats der Frist, welcher durch seine Benennung oder Zahl dem Tage entspricht, in den das für den Anfang der Frist maßgebliche Ereignis – somit hier die Annahme des Ersuchens – fällt. Für Fälle, in denen ein Rechtsbehelf eingelegt wurde oder eine Überprüfung, die gemäß Art. 27 Abs. 3 Verordnung (EU) 604/2013 aufschiebende Wirkung hat, durchgeführt wird, beginnt die Frist gemäß Art. 29 Abs. 1 der Verordnung nach der endgültigen Entscheidung über den Rechtsbehelf oder die Überprüfung. Zur Frage des Fristbeginns in diesen Fällen bestehen allerdings divergierende Auffassungen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) stellte hierzu für die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (Dublin- II-Verordnung) fest, dass die Frist für die Überstellung nicht bereits ab der vorläufigen gerichtlichen Entscheidung läuft, mit der die Durchführung des Überstellungsverfahrens ausgesetzt wird, sondern erst ab der Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens, die der Durchführung der Überstellung nicht mehr entgegengesetzt werden kann. Hintergrund der Entscheidung ist, dass 8 Als Antrag auf internationalen Schutz werden nach der VO Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung subsidiären Schutzes gewertet. Nicht ausreichend ist daher die Beantragung eines Aufenthaltsrechts, einer Duldung aus humanitären Gründen oder die isolierte Geltendmachung nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG. (Hailbronner, Kommentar Ausländerrecht, § 27a AsylVfG, Rn. 32 [Stand: 89. Aktualisierung März 2015]). 9 Hailbronner, Kommentar Ausländerrecht, § 27a AsylVfG, Rn. 36 (Stand: 89. Aktualisierung März 2015). 10 Hailbronner, Kommentar Ausländerrecht, § 27a AsylVfG, Rn. 49 (Stand: 89. Aktualisierung März 2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 – 115/15 Seite 6 den Mitgliedstaaten die Überstellungsfrist zu deren Durchführung in vollem Umfang zur Verfügung stehen soll.11 Insbesondere bestehen unterschiedliche Auffassungen zum Fristbeginn in den Fällen, in denen der Antragsteller gemäß § 34a AsylVfG einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt hat. Zum Teil wird die Auffassung vertreten, dass entsprechend der vorgenannten Feststellung des EuGH nach Sinn und Zweck der Vorschrift Fristbeginn der Zeitpunkt sei, ab dem feststehe, dass die Überstellung in Zukunft erfolgen könne.12 Der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz wird dagegen andererseits von einigen Gerichten nicht als ausreichend erachtet. Erforderlich sei eine Klage mit aufschiebender Wirkung gegen die Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz. Einer Klage gegen einen Bescheid nach § 27a AsylVfG komme danach keine aufschiebende Wirkung zu. Die mit der Annahme des Überstellungsgesuchs beginnende Frist werde weder durch den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO noch durch die Ablehnung eines solchen Antrags verändert. Im Wesentlichen wird dies darauf begründet, dass Deutschland von der Umsetzung einer Überprüfung mit aufschiebender Wirkung nach Art. 27 Abs. 3 Verordnung (EU) 604/2013 keinen Gebrauch gemacht habe, da einem Antrag nach § 34a AsylVfG keine aufschiebende Wirkung zukomme, sondern lediglich die Abschiebung nicht zulässig sei. Auch die Ablehnung der Anordnung der aufschiebenden Wirkung würde damit nicht zu einem neuen Fristbeginn führen.13 Mit der Verordnung (EU) 604/2013 wurde in Art. 29 Abs. 1 als neuer Tatbestand für den Fristbeginn eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 aufschiebende Wirkung hat, eingeführt. Nach der Kommentierung belegten Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Zweck dieser Neufassung, dass alle Formen der aufschiebenden Wirkung erfasst werden sollten. Da für alle mit einer aufschiebenden Wirkung verbundenen Formen des gerichtlichen Rechtsschutzes eine Suspendierung des Vollzugs der Überstellung erforderlich sei und weiterhin der Grundgedanke maßgeblich sein solle, dass die zur organisatorischen Vorbereitung der Überstellung erforderliche Frist von sechs Monaten nicht durch eine vollzughemmende Wirkung eines Rechtsbehelfs oder -mittels verkürzt werden dürfe, beginne die Frist erst mit der Ablehnung des Asylantrags in der Hauptsache zu laufen.14 Insofern zeigt sich eine überwiegende Tendenz der Rechtsprechung in Richtung dieser Auffassung.15 Zu beachten ist jedoch, dass bei Nichtgewährung des vorläufigen Rechtschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO eine Überstellung grundsätzlich möglich ist. Ein diesbezüglich ablehnender Beschluss des Gerichts bewirke in diesen Fällen den Beginn der sechsmonatigen Überstellungsfrist.16 xxxxxxxxxxxxxxxxx 11 Hailbronner, Kommentar Ausländerrecht, § 27a AsylVfG, Rn. 45 (Stand: 89. Aktualisierung März 2015); Urteil des EuGH vom 29.01.2009, C-19/08, Rn. 44, online abrufbar: http://curia.europa.eu/juris/document/document .jsf?text=&docid=73617&pageIndex=0&doclang=DE&mode=req&dir=&occ=first&part=1, letzter Abruf: 19.05.2015. 12 Hailbronner, Kommentar Ausländerrecht, § 27a AsylVfG, Rn. 46 (Stand: 89. Aktualisierung März 2015), m.w.N. 13 Hailbronner, Kommentar Ausländerrecht, § 27a AsylVfG, Rn. 47 (Stand: 89. Aktualisierung März 2015), m.w.N. 14 Hailbronner, Kommentar Ausländerrecht, § 27a AsylVfG, Rn. 48 f. (Stand: 89. Aktualisierung März 2015). 15 Vgl. auch Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 27.08.2014, A 11 S 1285/14, Rn. 36 ff.; VG Würzburg, Urteil vom 31.03.2015, W 1 K 14.30151, Rn. 25. 16 Hailbronner, Kommentar Ausländerrecht, § 27a AsylVfG, Rn. 49 (Stand: 89. Aktualisierung März 2015), m.w.N.