Deutscher Bundestag „Moratorium“ zur Laufzeitverlängerung Ersatzansprüche der Kernkraftwerksbetreiber Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 3 – 3000 – 115/11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 115/11 Seite 2 „Moratorium“ zur Laufzeitverlängerung Ersatzansprüche der Kernkraftwerksbetreiber Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 – 3000 – 115/11 Abschluss der Arbeit: 4. April 2011 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 115/11 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Zusammenfassung 4 2. Fragestellung 5 3. Ansprüche aus der Rücknahme der Laufzeitverlängerung bzw. Neufestlegung der Reststrommengen 5 3.1. Rechtslage nach dem Atomgesetz 5 3.2. Aufhebung der Laufzeitverlängerung bzw. Änderung der derzeitigen Reststrommengen 6 3.2.1. Eigentumsgarantie – Art. 14 Abs. 1 GG 6 3.2.2. Eingriff 7 3.2.2.1. Enteignung 7 3.2.2.1.1. Diskussion vor dem Atomkonsens 7 3.2.2.1.2. Anwendung auf eine Senkung der Reststrommengen 8 3.2.2.2. Inhalts- und Schrankenbestimmung 9 4. Ansprüche wegen vorläufiger bzw. endgültiger Stilllegungsverfügungen 10 4.1. Vorläufige Stilllegung 10 4.1.1. Anspruchsvoraussetzungen 10 4.1.2. Rechtsfolge 11 4.1.3. Anspruchsgegner 11 4.2. Endgültige Stilllegung nach Widerruf der Genehmigung 11 4.2.1. Widerruf nach pflichtgemäßem Ermessen 12 4.2.2. Widerruf als gebundene Entscheidung 13 4.2.3. Rechtskraft 13 4.2.4. Entschädigungsanspruch 13 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 115/11 Seite 4 1. Zusammenfassung Diese Ausarbeitung befasst sich mit möglichen Entschädigungsansprüchen der Betreiber von Kernkraftwerken im Zusammenhang mit dem von der Bundesregierung verhängten „Moratorium “ zur Laufzeitverlängerung. Einige der angesprochenen Rechtsfragen sind bislang nicht gerichtlich geklärt, da der im Jahr 2002 gesetzlich verankerte Atomausstieg der Umsetzung des Atomkonsenses diente und von den Energieversorgungsunternehmen nicht angefochten wurde. Folgende Ansatzpunkte für Entschädigungsansprüche wären denkbar: 1. Eine mögliche gesetzliche Aufhebung der Laufzeitverlängerung bzw. eine weitere Kürzung der Reststrommengen muss sich an Art. 14 GG messen lassen. Es dürfte sich hierbei nach der Rechtsprechung des BVerfG um eine Inhalts- und Schrankenbestimmung handeln. Diese müsste verhältnismäßig ausgestaltet werden. Hierfür wäre u.U. auch eine gesetzliche Entschädigungsregelung erforderlich, wenn der Eingriff in das Eigentumsrecht besonders schwer wiegt, etwa bei drastischer Kürzung der Reststrommengen. 2. Sollten die vorläufigen Stilllegungsverfügungen für die sieben ältesten Kernkraftwerke rechtswidrig ergangen sein, kommt ein Anspruch auf Schadensersatz aus Amtshaftung in Betracht. Um diesen geltend zu machen, müssten die Betreiber der Kernkraftwerke im Wege des Primärrechtsschutzes gegen die Stilllegungsverfügungen Klage erheben. 3. Falls Kernkraftwerke auf der Grundlage von § 19 Abs. 3 Nr. 3 AtG nach Widerruf der Betriebsgenehmigung endgültig stillgelegt werden, besteht u.U. ein Anspruch der Kraftwerksbetreiber auf Entschädigung nach § 18 AtG. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 115/11 Seite 5 2. Fragestellung Die Bundesregierung hat nach dem Atomunfall im japanischen Kernkraftwerk Fukushima ein „Moratorium“ zur Laufzeitverlängerung verhängt. Mit der rechtlichen Einschätzung dieses Moratoriums sowie der zwischenzeitlich angeordneten vorläufigen Stilllegung der sieben ältesten Kernkraftwerke befasst sich die Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 112/11. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob und ggf. welche Schadensersatzansprüche den Kernkraftbetreibern zustehen. Nachfolgend werden zunächst Ansprüche wegen einer möglichen gesetzlichen Rücknahme bzw. Änderung der im vergangenen Jahr beschlossenen Laufzeitverlängerung erörtert. Daran schließt sich eine Prüfung etwaiger Entschädigungsansprüche wegen der vorübergehenden Stilllegung an. Abschließend werden Ansprüche bei einer endgültigen Stilllegung nach Widerruf der atomrechtlichen Genehmigung erörtert. 3. Ansprüche aus der Rücknahme der Laufzeitverlängerung bzw. Neufestlegung der Reststrommengen Seit dem Atomunfall in Japan wird von zahlreichen Politikern in Deutschland ein gegenüber der derzeitigen Rechtslage vorgezogener Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie gefordert. Rechtlich könnte dies über eine Rücknahme der im vergangenen Jahr beschlossenen Laufzeitverlängerung bzw. eine Neufestlegung der Reststrommengen erfolgen. Sofern es sich hierbei um entschädigungspflichtige Eingriffe in das Eigentum der Kernkraftbetreiber handelt, könnten ihnen Ansprüche gegen den Staat zustehen. 3.1. Rechtslage nach dem Atomgesetz Nach derzeitiger Rechtslage erlischt die Berechtigung zum Leistungsbetrieb eines Kernkraftwerks mit dem Erreichen der in Anlage 3 Spalte 2 und 4 des Atomgesetzes (AtG)1 festgelegten Reststrommengen , § 7 Abs. 1a S. 1 AtG. Diese rechtliche Konstruktion geht auf den sog. Atomkonsens zwischen der damaligen Bundesregierung und den betroffenen Energieversorgungsunternehmen (EVU) aus dem Jahr 2000 zurück. Die Modalitäten des Ausstiegs aus der Kernenergie wurden in einer Vereinbarung niedergelegt.2 Die gesetzliche Umsetzung erfolgte im Jahr 2002 durch das Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität .3 1 Atomgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Juli 1985 (BGBl. I S. 1565), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 8. Dezember 2010 (BGBl. I S. 1817) geändert worden ist. 2 Wortlaut abrufbar unter http://www.bmwi.de/BMWi/Redaktion/PDF/V/vereinbarung-14-juni- 2000,property=pdf,bereich=bmwi,sprache=de,rwb=true.pdf (abgerufen am 30. März 2011). 3 Gesetz vom 22. April 2002 (BGBl I S. 1357). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 115/11 Seite 6 Im vergangenen Jahr wurden den einzelnen Kernkraftwerken durch das 11. Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes4 zusätzliche Strommengen gewährt, um die mit den EVU vereinbarte Laufzeitverlängerung 5 gesetzlich zu verankern. 3.2. Aufhebung der Laufzeitverlängerung bzw. Änderung der derzeitigen Reststrommengen Eine gesetzliche Regelung, durch die die derzeit gültigen Reststrommengen gekürzt würden, müsste sich an der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG messen lassen. 3.2.1. Eigentumsgarantie – Art. 14 Abs. 1 GG Die Eigentumsgarantie schützt die rechtliche Zuordnung eines vermögenswerten Gutes zu einem Rechtsträger. Welche vermögenswerten Rechtsgüter als Eigentum im verfassungsrechtlichen Sinne geschützt werden, ergibt sich aus einem Vergleich mit dem Leitbild des verfassungsrechtlichen Eigentums, dem Sacheigentum nach bürgerlichem Recht, und dem Zweck sowie der Funktion der Eigentumsgarantie unter Berücksichtigung ihrer Bedeutung im Gesamtgefüge der Verfassung .6 Das durch Art. 14 Abs. 1 GG gewährleistete Eigentum ist in seinem rechtlichen Gehalt durch Privatnützigkeit und grundsätzliche Verfügungsbefugnis des Eigentümers über den Eigentumsgegenstand gekennzeichnet.7 Bezogen auf den Betrieb von Kernkraftwerken wurden in der Literatur vor dem gesetzlich geregelten Atomausstieg verschiedene Eigentumspositionen angeführt, die durch ein Ausstiegsgesetz betroffen gewesen wären.8 Nahe liegt zunächst, auf die aus dem Grundeigentum folgenden umfassenden Nutzungsbefugnisse9 abzustellen. Genannt wurde darüber hinaus auch die atomrechtliche Genehmigung, die nach alter Rechtslage unbefristet den Betrieb eines Kernkraftwerkes erlaubte .10 Als weitere betroffene Rechtsposition kommt der durch ein Kernkraftwerk eingerichtete und ausgeübte Gewerbebetrieb in Betracht.11 4 BGBl. I 2010, S. 1814. 5 Vereinbarung abrufbar unter: http://www.bundesregierung.de/Content/DE/__Anlagen/2010/2010-09-09- foerderfondsvertrag,property=publicationFile.pdf (abgerufen am 30. März 2011). 6 Axer in: Epping/Hillgruber, Beck'scher Online-Kommentar GG, Stand 15. Januar 2011, Art. 14 Rn. 42. 7 BVerfGE 102, 1, 15. 8 Vgl. Übersicht bei Bender/Sparwasser/Engel, Umweltrecht, 4. Auflage, 2000, S. 504. 9 Di Fabio, Der Ausstieg aus der wirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie, 1999, S. 123. 10 Stüer/Loges, Ausstieg aus der Atomenergie zum Nulltarif?, NVwZ 2000, 9 (12). 11 Di Fabio (Fn. 9), S. 123; Ossenbühl, Verfassungsrechtliche Fragen eines Ausstiegs aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie, AöR 124 (1999), 1 (7 f.); allerdings hat das BVerfG bislang die Frage, ob es sich beim eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb um ein von Art. 14 Abs. 1 GG geschütztes Eigentumsrecht oder nur um ein Bündel einzelner, eigentumsrechtlich geschützter Rechtpositionen handelt, offen gelassen, vgl. Nachweise bei Papier in: Maunz/Dürig, Grundgesetz 60. Ergänzungslieferung 2010, Art. 14 Rn. 95. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 115/11 Seite 7 Durch eine Kürzung der derzeit geltenden Reststrommengen wären die Betreiber von Kernkraftwerken jedenfalls in den aus dem Grundeigentum folgenden Nutzungsbefugnissen betroffen. 3.2.2. Eingriff Eingriffe in das Eigentumsrecht können in Form von Inhalts- und Schrankenbestimmungen nach Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG oder als Enteignung, d.h. vollständiger Entziehung von Eigentumspositionen nach Art. 14 Abs. 3 GG erfolgen. Letztere sind nach Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG nur auf Grund eines Gesetzes zulässig, das auch Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Demgegenüber sind Inhalts- und Schrankenbestimmungen nur im Ausnahmefall ausgleichspflichtig.12 Ferner gilt, dass eine rechtswidrige Inhalts- und Schrankenbestimmung nicht in eine entschädigungspflichtige Enteignung umgedeutet werden kann.13 3.2.2.1. Enteignung Eine Kürzung der Reststrommengen könnte als Enteignung zu qualifizieren sein. Ein entsprechendes Gesetz müsste in diesem Fall eine Entschädigungsregelung vorsehen. 3.2.2.1.1. Diskussion vor dem Atomkonsens Früher konnten Inhaber einer atomrechtlichen Genehmigung ein Kernkraftwerk unbefristet betreiben . Durch den im Jahr 2002 gesetzlich verankerten Atomausstieg hat sich die Rechtslage insoweit geändert, als die Betriebsgenehmigung nicht mehr unbefristet gültig ist, sondern mit Erreichen der Reststrommenge erlischt. Ob es sich hierbei um eine Enteignung oder lediglich eine Inhalts- und Schrankenbestimmung handelte, wurde gerichtlich nicht geklärt, da es sich um die gesetzliche Umsetzung des Atomkonsenses handelte. In der Literatur war diese Frage allerdings umstritten. Vertreter, die die Laufzeitbegrenzung als Enteignung werteten, verwiesen zur Begründung auf die gebräuchliche „Faustformel“ zur Abgrenzung von Enteignung und Inhalts- und Schrankenbestimmung . Danach ist eine Enteignung durch eine konkret-individuelle Entziehung von Eigentumspositionen gekennzeichnet. Demgegenüber ist eine Inhalts- und Schrankenbestimmung eine generell-abstrakte beschränkende Regelung.14 Daran anknüpfend wurde vertreten, dass eine gesetzliche Regelung zum Atomausstieg die konkreten Eigentumspositionen der Kraftwerksbetreiber gezielt entziehen würde. Das Recht zur Nutzung eines in ihrem Eigentum stehenden Kernkraftwerks würde in der Zukunft dauerhaft entfallen und 12 BVerfGE 58, 137. 13 BVerfGE 58, 300, 330 ff.; 79, 174, 191 f.; 100, 226, 240 f. 14 Depenheuer in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Band 1, 6. Auflage, 2010, Art. 14 Rn. 253 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 115/11 Seite 8 damit eine Eigentumsposition von erheblichem Wert entzogen.15 Zudem seien die betroffenen Kraftwerksbetreiber dem Gesetzgeber bekannt, sodass eine individuelle Regelung vorliege.16 Ferner wurde angeführt, dass die Begrenzung der Laufzeit einem Verbot der Nutzung eines bestimmten Brennstoffs gleich komme, und damit den Betreibern der Kernkraftwerke die Produktionsbasis entzogen werden solle.17 Die Gegenauffassung verwies darauf, dass die Laufzeitbegrenzung im Zuge einer generellen Neugestaltung eines Rechtsgebiets erfolgen solle. Sofern dabei bestehende Rechtspositionen abgeschafft würden, für die es im neuen Recht keine Entsprechung gebe, liege hierin nach der Rechtsprechung des BVerfG zum bergrechtlichen Vorkaufsrecht18 keine Enteignung sondern eine (u.U. ausgleichs-pflichtige) Inhalts- und Schrankenbestimmung.19 Hinzu komme, dass es bei der Laufzeitbeschränkung an dem für eine Enteignung typischen Übergang von Eigentumsbefugnissen fehle.20 In der Rechtsprechung werden Enteignungen aber regelmäßig nur in Fällen angenommen, die als „Güterbeschaffungsvorgänge“ umschrieben werden könnten. Im Fall der Laufzeitbeschränkung gelangen die Kernkraftwerke bzw. das Recht zur Stromerzeugung weder in staatliche Hand noch werden diese Rechtspositionen an private Dritte übertragen. Auch der Gesetzgeber des Gesetzes zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität ging davon aus, dass die Laufzeitbeschränkung eine Inhalts- und Schrankenbestimmung darstellte.21 Folgt man dieser an die neuere Rechtsprechung des BVerfG anknüpfenden Auffassung, wäre die im Jahr 2002 eingeführte Laufzeitbegrenzung als Inhalts- und Schrankenbestimmung zu qualifizieren. 3.2.2.1.2. Anwendung auf eine Senkung der Reststrommengen Fraglich ist allerdings, ob dies auch für eine mögliche Senkung der Reststrommengen gelten würde. Einerseits ließe sich argumentieren, dass den Kernkraftbetreibern durch die Gewährung von Reststrommengen ein eigentumsrechtlich geschützter Anspruch auf Nutzung ihres Kernkraftwerks bis zum Erreichen der Reststrommenge eingeräumt wird, ihnen dieser Anspruch durch eine Kürzung aber entzogen werden würde. Anderseits könnte angeführt werden, dass der Gesetzgeber hierdurch nur eine (weitere) Inhalts- und Schrankenbestimmung vornehmen würde, 15 Di Fabio (Fn. 9), S.137 ff.; Schmidt-Preuß, Atomausstieg und Eigentum, NJW 2000, 1524, 1525; Wagner, Atomkompromiss und Ausstiegsgesetz, NVwZ 2001, 1089, 1096. 16 Di Fabio (Fn. 9), S. 139. 17 Schmidt-Preuß (Fn. 15), S. 1526. 18 BVerfGE 83, 201, 211 f. 19 Bender/Sparwasser/Engel (Fn. 8), S. 505; Koch, Der Atomausstieg und der verfassungsrechtliche Schutz des Eigentums , NJW 2000, 1529, 1535; Roller in: Roßnagel/Roller, Die Beendigung der Kernenergienutzung durch Gesetz , 1998, S. 386 ff.; Roßnagel (ebd.) S. 34; Stüer/Loges (Fn. 10), S. 13. 20 Stüer/Loges (Fn. 10), S. 13. 21 BR-Drs. 705/01, S. 35. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 115/11 Seite 9 die verhältnismäßig auszugestalten wäre. Sofern dies im Zuge einer grundsätzlichen Neubewertung der Nutzung der Kernenergie und grundlegenden Neugestaltung des Atomrechts erfolgt, dürfte eine Kürzung der Reststrommengen nach der unter 3.2.2.1.1 vertretenen Auffassung als Inhalts- und Schrankenbestimmung zu qualifizieren sein. 3.2.2.2. Inhalts- und Schrankenbestimmung Bei der konkreten Ausgestaltung einer Inhalts- und Schrankenbestimmung hat der Gesetzgeber grundsätzlich einen weiten Spielraum, er muss jedoch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren und dem Vertrauensschutz Rechnung tragen.22 Dies gilt in besonderem Maße, wenn durch eine Inhalts- und Schrankenbestimmung letztlich Rechtspositionen für die Zukunft entzogen werden.23 In diesen Fällen können Übergangsregelungen sowie u.U. auch Entschädigungsregelungen (sog. ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmungen) geboten sein.24 Diese Pflicht zum finanziellen Ausgleich ist eine von der Rechtsprechung entwickelte Besonderheit des Eigentumsgrundrechts.25 Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung einer Laufzeitverkürzung wären folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen: Die Betreiber der Kernkraftwerke haben sich nach der Vereinbarung und gesetzlichen Festlegung von längeren Laufzeiten darauf eingestellt, dass ihre Kraftwerke länger in Betrieb bleiben und möglicherweise entsprechende Dispositionen getroffen.26 Andererseits dient eine Kürzung der Reststrommengen dem Schutz hochrangiger Rechtsgüter wie dem Recht auf Leben und Gesundheit nach Art. 2 Abs. 2 GG und dem Schutz der Umwelt nach Art. 20a GG.27 Hinzu kommen soll nach einer Auffassung in der Literatur der Umstand, dass die Erzeugung von Kernenergie in hohem Maße öffentlich gefördert wurde.28 Sollte sich im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung eine drastische Kürzung der Laufzeiten als unzumutbar erweisen, bestünde für den Gesetzgeber die Möglichkeit, die Verhältnismäßigkeit ausnahmsweise über eine Regelung zum finanziellen Ausgleich der Belastung durch die Inhaltsund Schrankenbestimmung sicherzustellen.29 Damit läge ein – seltener – Fall einer ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmung vor. 22 Bender/Sparwasser/Engel (Fn. 8), S. 505. 23 Koch/Roßnagel, Neue Energiepolitik und Ausstieg aus der Kernenergie, NVwZ 2000, 1, 5. 24 BVerfGE 100, 226, 244; BVerwG NJW 1999, 2877; Stüer/Loges (Fn. 10), S. 14. 25 Depenheuer in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 14), Art. 14 Rn. 236 ff. 26 In diesem Sinne: Wieland, Interview im Deutschlandradio Kultur am 31. März 2011, Mitschrift abrufbar unter http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/interview/1425253/ (abgerufen am 31. März 2011). 27 Vgl. Roller (Fn. 19), S. 81. 28 Bender/Sparwasser/Engel (Fn. 8), S. 505. 29 Stüer/Loges (Fn. 10), S. 14. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 115/11 Seite 10 4. Ansprüche wegen vorläufiger bzw. endgültiger Stilllegungsverfügungen 4.1. Vorläufige Stilllegung Im Zuge des von der Bundesregierung verhängten „Moratoriums“ zur Laufzeitverlängerung erließen die Atomaufsichtsbehörden der Länder vorläufige Stilllegungsverfügungen für die sieben ältesten Kernkraftwerke. Gestützt wurden diese Verfügungen auf § 19 Abs. 3 Nr. 3 AtG. Die Rechtmäßigkeit dieser Verfügungen ist umstritten.30 Sollten sie sich als rechtswidrig erweisen, könnten Schadensersatzansprüche der Betreiber unter dem Gesichtspunkt der Amtshaftung bestehen. Anspruchsgrundlage hierfür wäre Art. 34 S. 1 GG i.V.m. § 839 Abs. 1 S.1 BGB. 4.1.1. Anspruchsvoraussetzungen Voraussetzung für einen Amtshaftungsanspruch ist ein Handeln in Ausübung eines öffentlichen Amtes, durch das eine einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht verletzt wurde. Für staatliche Hoheitsträger, in diesem Fall die Atomaufsichtsbehörden der Länder, besteht die generelle Pflicht, gegenüber dem Bürger keine rechtswidrigen Bescheide zu erlassen.31 Diese Pflicht wäre verletzt, wenn die Stilllegungsverfügungen rechtswidrig sein sollten. Zudem müsste die Pflichtverletzung schuldhaft, d.h. vorsätzlich oder fahrlässig erfolgt sein. Hier könnte jedenfalls fahrlässiges Handeln in Betracht kommen, wenn die Verfügungen bei näherer Prüfung durch die hierfür zuständige Behörde erkennbar nicht auf § 19 Abs. 3 Nr. 3 AtG hätten gestützt werden können. Die Pflichtverletzung müsste Ursache für den eingetretenen Schaden sein. Die Betreiber der Kernkraftwerke sind den Stilllegungsverfügungen nachgekommen und erleiden dadurch einen Produktionsausfall in nicht unerheblichem Maße. Nach Einschätzung von Fachleuten kann der entgangene Gewinn für jeden Tag des Stillstands eines Kernkraftwerks rund 1 Mio. Euro betragen .32 Ferner müssten Kernkraftwerksbetreiber gegen die aus ihrer Sicht rechtswidrigen Verfügungen Rechtsmittel einlegen. Andernfalls wäre die Geltendmachung eines Amtshaftungsanspruchs nach § 839 Abs. 3 S. 1 BGB ausgeschlossen. Gegen die Stilllegungsverfügung für das Kraftwerk Biblis hat RWE am 1. April 2011 Klage beim hessischen Verwaltungsgerichtshof eingereicht.33 Um einen etwaigen Amtshaftungsanspruch geltend zu machen, müsste RWE den rechtskräfti- 30 Zur rechtlichen Bewertung der Stilllegungsverfügungen vgl. die Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 112/11. 31 Reinert in: Bamberger/Roth, Beck'scher Online-Kommentar zum BGB, § 839 Rn. 56 m.w.N. 32 Streit über Biblis könnte Wochen dauern, Bericht auf FAZ.NET, abrufbar unter http://www.faz.net/s/RubD16E1F55D21144C4AE3F9DDF52B6E1D9/Doc~EF5EC7B4A23B4494EA174F7F840DAC 44E~ATpl~Ecommon~Scontent.html (abgerufen am 1. April 2011). 33 RWE, Pressemitteilung vom 1. April 2011, abrufbar unter http://www.rwe.com/web/cms/de/37110/rwe/pressenews /pressemitteilung/?pmid=4006050 (abgerufen am 1. April 2011). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 115/11 Seite 11 gen Abschluss dieses Verfahrens abwarten. Nach Medienberichten sehen EnBW, Eon und Vattenfall davon ab, die Stilllegungsverfügungen anzufechten.34 4.1.2. Rechtsfolge Sollte der Tatbestand des Amtshaftungsanspruchs erfüllt sein, wäre einem Kernkraftwerksbetreiber der Schaden zu ersetzen, der ihm durch das rechtswidrige Handeln entstanden ist. Dies beträfe insbesondere den entgangenen Gewinn durch die angeordnete Stilllegung eines Kernkraftwerks .35 4.1.3. Anspruchsgegner Die Stilllegungsverfügungen wurden von den Atomaufsichtsbehörden der Länder erlassen. Sollte ein Amtshaftungsanspruch bestehen, wäre von dem entsprechenden Land Schadensersatz zu leisten, Art. 34 S. 1 GG. 4.2. Endgültige Stilllegung nach Widerruf der Genehmigung Für den Fall, dass eine endgültige Einstellung des Betriebs eines Kernkraftwerkt behördlich angeordnet wird, kommt § 18 Abs. 1 AtG als Anspruchsgrundlage für einen Entschädigungsanspruch in Betracht. Nach § 19 Abs. 3 Nr. 3 AtG kann von der zuständigen Aufsichtsbehörde die endgültige Einstellung des Betriebs eines Kernkraftwerks angeordnet werden, wenn die hierfür erteilte Genehmigung rechtskräftig widerrufen wurde. Die Voraussetzungen für den Widerruf einer atomrechtlichen Genehmigung sind in § 17 Abs. 3 bis 5 AtG geregelt. Daneben finden die allgemeinen Regelungen über den Widerruf von Verwaltungsakten in § 49 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG)36 keine Anwendung.37 34 FAZ.NET (Fn. 32). 35 Vgl. Baldus/Grzeszick/Wienhues, Staatshaftungsrecht, 3. Auflage 2009, Rn. 175 ff. 36 Verwaltungsverfahrensgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. Januar 2003 (BGBl. I S. 102), das zuletzt durch Artikel 2 Absatz 1 des Gesetzes vom 14. August 2009 (BGBl. I S. 2827) geändert worden ist. 37 Rosin in: Büdenbender/Heintschel von Heinegg/Rosin, Energierecht I – Recht der Energieanlagen, 1999, Rn. 1028 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 115/11 Seite 12 4.2.1. Widerruf nach pflichtgemäßem Ermessen § 17 Abs. 3 AtG sieht für vier Fallkonstellationen die Möglichkeit eines Widerrufs vor.38 Dabei handelt es sich um Entscheidungen, die in das pflichtgemäße Ermessen der Aufsichtsbehörde gestellt sind, d.h. die Genehmigung kann widerrufen werden. Dies gilt zunächst für den Fall, dass von einer Genehmigung innerhalb von zwei Jahren kein Gebrauch gemacht wurde, § 17 Abs. 3 Nr. 1 AtG. Des Weiteren ist ein Widerruf möglich, wenn eine der Genehmigungsvoraussetzungen später weggefallen ist und nicht in angemessener Zeit Abhilfe geschaffen wurde, § 17 Abs. 3 Nr. 3 AtG. Dabei ist zu beachten, dass hinsichtlich des Wegfalls der Genehmigungsvoraussetzungen eine allgemeine Neubewertung der Gefahren von Kernkraftwerken als Begründung für einen Widerruf nicht ausreichen dürfte.39 Erforderlich wäre vielmehr eine Bewertung der Gefahrenlage und Sicherheitsvorsorge jedes einzelnen Kernkraftwerks. In der Literatur ist ähnlich wie bei einer vorübergehenden Stilllegung nach § 19 Abs. 3 Nr. 3 AtG umstritten, ob bei der Beurteilung der Gefahrenlage auch der sog. Restrisikobereich einzubeziehen ist (s. Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 112/11, S. 10 ff.).40 Sofern nach Einschätzung der Aufsichtsbehörde aufgrund der Gefahrenlage keine Genehmigung hätte erteilt werden dürfen, ist zu prüfen, ob durch nachträgliche Auflagen Abhilfe geschaffen werden könnte.41 Dies wäre gegenüber dem Widerruf der Genehmigung das mildere Mittel. Auch hierfür ist eine sorgfältige und umfassende Prüfung der tatsächlichen Umstände des Einzelfalls durchzuführen. Die dritte Fallgruppe in § 17 Abs. 3 Nr. 3 AtG erfasst erhebliche oder wiederholte Verstöße gegen das AtG, atomrechtliche Rechtsverordnungen, Anordnungen, Verfügungen der Aufsichtsbehör- 38 § 17 Abs. 3 AtG lautet: „(3) Genehmigungen und allgemeine Zulassungen können widerrufen werden, wenn 1. von ihnen innerhalb von zwei Jahren kein Gebrauch gemacht worden ist, soweit nicht die Genehmigung oder allgemeine Zulassung etwas anderes bestimmt, 2. eine ihrer Voraussetzungen später weggefallen ist und nicht in angemessener Zeit Abhilfe geschaffen wird oder 3. gegen die Vorschriften dieses Gesetzes oder der auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen, gegen die hierauf beruhenden Anordnungen und Verfügungen der Aufsichtsbehörden oder gegen die Bestimmungen des Bescheids über die Genehmigung oder allgemeine Zulassung erheblich oder wiederholt verstoßen oder wenn eine nachträgliche Auflage nicht eingehalten worden ist und nicht in angemessener Zeit Abhilfe geschaffen wird, 4. auch nach Setzung einer angemessenen Nachfrist ein ordnungsgemäßer Nachweis nach § 9a Abs. 1a bis 1e nicht vorgelegt wird oder auch nach Setzung einer angemessenen Nachfrist keine Ergebnisse der nach § 19a Abs. 1 durchzuführenden Sicherheitsüberprüfung vorgelegt werden.“ 39 Wagner, Ausstieg aus der Kernenergie durch Verwaltungsakt, DVBl. 1987, 524, 528. 40 Rosin (Fn. 37), Rn. 1029. 41 Haedrich, Atomgesetz, 1986, § 17 Rn. 13. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 115/11 Seite 13 den, Bestimmungen des Genehmigungsbescheids oder nachträgliche Auflagen. Erforderlich ist außerdem, dass in angemessener Zeit keine Abhilfe geschaffen wird. Schließlich kommt ein Widerruf in Betracht, wenn nach Setzung einer ordnungsgemäßen Nachfrist kein ordnungsgemäßer Entsorgungsvorsorgenachweis nach § 9a AtG bzw. kein Ergebnis der nach § 19a Abs. 1 AtG durchzuführenden Sicherheitsüberprüfung vorgelegt wird. 4.2.2. Widerruf als gebundene Entscheidung In § 17 Abs. 4 und 5 AtG ist geregelt, in welchen Fällen die Aufsichtsbehörde eine Genehmigung widerrufen muss. Ihr steht dabei kein Ermessen zu. Dies gilt nach § 17 Abs. 4 AtG, falls die Deckungsvorsorge für die Erfüllung gesetzlicher Schadensersatzansprüche nicht den Anforderungen von § 13 AtG entspricht und auch nicht binnen einer angemessenen Nachfrist nachgewiesen wird. § 17 Abs. 5 AtG verpflichtet die Aufsichtsbehörde zum Widerruf, wenn dies wegen einer erhebliche Gefährdung der Beschäftigten, Dritter oder der Allgemeinheit erforderlich ist und nicht durch nachträgliche Auflagen in angemessener Zeit Abhilfe geschaffen werden kann. Unter „erheblicher Gefährdung“ soll nach wohl überwiegender Auffassung in der Literatur eine klassische Gefahr im polizeirechtlichen Sinne zu verstehen sein.42 Auch insoweit wäre eine umfassende Prüfung jedes Einzelfalls erforderlich. 4.2.3. Rechtskraft Um eine endgültige Einstellung des Betriebs nach § 19 Abs. 3 Nr. 3 AtG anordnen zu können, muss der Widerruf einer Betriebsgenehmigung rechtskräftig geworden sein. Dies ist der Fall, wenn der Betroffene keinen Widerspruch hiergegen eingelegt hat oder ein Widerspruchs- und ggf. sich anschließendes Gerichtsverfahren rechtskräftig abgeschlossen ist. 4.2.4. Entschädigungsanspruch Ein Widerruf der Betriebsgenehmigung verpflichtet das Land, dessen Behörde den Widerruf ausgesprochen hat, nach § 18 Abs. 1 S. 1 AtG zur Zahlung einer angemessenen Entschädigung an den Betreiber. Ausnahmen von dieser Entschädigungspflicht sind in § 18 Abs. 2 AtG geregelt. Danach ist keine Entschädigung zu leisten, wenn der Inhaber der Genehmigung diese auf Grund von Angaben erhalten hat, die in wesentlichen Punkten unrichtig oder unvollständig waren, § 18 Abs. 2 Nr. 1 AtG. Des Weiteren besteht keine Entschädigungspflicht, wenn der Inhaber der Genehmigung oder für ihn tätige Personen durch ihr Verhalten Anlass zum Widerruf, insbesondere durch wiederholten Verstoß gegen atomrechtlich Vorschriften, Anordnungen, Verfügungen etc. gegeben haben, § 18 Abs. 2 Nr. 2 AtG. Schließlich ist die Entschädigungspflicht ausgeschlossen, 42 Rosin (Fn. 34), Rn. 1036 ff. m.w.N.; nach der von Schneider vertretenen Gegenauffassung soll jede Gefahr i.S.d. § 1 Nr. 2 AtG ausreichen, also auch ein Gefahrenverdacht; vgl. Schneider, Die Verantwortung des Staates für den sicheren Betrieb kerntechnischer Anlagen in Schneider/Steinberg, Schadensvorsorge im Atomrecht zwischen Genehmigung , Bestandsschutz und staatlicher Aufsicht, 1991, S. 174. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 – 3000 – 115/11 Seite 14 wenn der Widerruf wegen einer nachträglich eingetretenen, in der genehmigten Anlage begründeten erheblichen Gefährdung der Beschäftigten, Dritter oder der Allgemeinheit ausgesprochen werden musste. Sofern für ein Land eine Entschädigungspflicht besteht, sind nach § 19 Abs. 4 AtG der Bund oder ein anderes Land dem entschädigungspflichtigen Land entsprechend ihrem sich aus der Gesamtlage ergebenden Interesse an dem Widerruf zum Ausgleich verpflichtet.