© 2021 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 113/21 Verfassungsmäßigkeit einer Pflicht zur Impfung von Kindern gegen COVID-19 Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 113/21 Seite 2 Verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Pflicht zur Impfung von Kindern gegen COVID-19 Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 113/21 Abschluss der Arbeit: 15.06.21 (zugleich letzter Aufruf der Online-Quellen) Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 113/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung 4 2. Gesetzgebungskompetenz und aktuelle Rechtslage 4 2.1. Gesetzgebungskompetenz des Bundes 4 2.2. Aktuelle Regelungen von Impfpflichten 4 2.3. Anforderungen des § 20 Abs. 6 IfSG 5 3. Prüfungsmaßstab 5 4. Betroffene Grundrechte 6 4.1. Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG 6 4.1.1. Schutzbereich 6 4.1.2. Eingriff 6 4.1.3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung 7 4.1.3.1. Legitimes Ziel 7 4.1.3.2. Geeignetheit 8 4.1.3.3. Erforderlichkeit 9 4.1.3.4. Angemessenheit 10 4.1.3.4.1. Schutz der individuellen Gesundheit der Kinder 11 4.1.3.4.2. Interessen der Allgemeinheit 11 4.2. Elterliches Erziehungsrecht, Art. 6 Abs. 2 GG 12 4.2.1. Eingriff in den Schutzbereich 12 4.2.2. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung 13 4.3. Kein Grundrecht auf Bildung, Art. 7 GG 14 5. Ergebnis 15 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 113/21 Seite 4 1. Fragestellung Es wird nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer Pflicht zur Impfung von Kindern gegen COVID-19 hinsichtlich eines Rechts auf Bildung und der Ausübung der Grundrechte (u. a. Art. 2 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 2 Grundgesetz - GG) gefragt.1 2. Gesetzgebungskompetenz und aktuelle Rechtslage2 2.1. Gesetzgebungskompetenz des Bundes Eine gesetzliche Regelung für eine Impfpflicht setzt zunächst eine Gesetzgebungskompetenz voraus. Eine Zuständigkeit des Bundes ergibt sich aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG, wonach der Bund die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für Maßnahmen gegen gemeingefährliche und übertragbare Krankheiten ausüben kann. Hierunter fällt sowohl die Bekämpfung von Krankheiten als auch die entsprechende Vorsorge.3 2.2. Aktuelle Regelungen von Impfpflichten Der Bund hat von seiner Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht und das Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (IfSG) erlassen. Durch das „Gesetz für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (Masernschutzgesetz)“4 hat der Bundesgesetzgeber mit Wirkung ab 1. März 2020 im IfSG faktisch eine grundsätzliche Impfpflicht gegen Masern für bestimmte Bevölkerungsgruppen geregelt, vgl. § 20 Abs. 8 bis Abs. 12 IfSG. Die Impfpflicht besteht gemäß § 20 Abs. 8 S. 1 IfSG für Personen, die nach dem 31. Dezember 1970 geboren sind und die in bestimmten, in § 20 Abs. 8 S. 1 IfSG aufgeführten Einrichtungen entweder betreut werden bzw. untergebracht sind oder dort Tätigkeiten ausüben. Bei diesen Einrichtungen handelt es sich insbesondere um Kindertagesstätten, Schulen, Heime und Einrichtungen zur gemeinschaftlichen Unterbringung von Asylbewerbern und vollziehbar Ausreisepflichtigen. Ferner besteht die Impfpflicht auch für solche Personen, die in Einrichtungen gemäß § 23 Abs. 1 IfSG (beispielsweise Krankenhäusern, Tageskliniken, Rehabilitationseinrichtungen, Arzt- und Zahnarztpraxen ) tätig sind. Ein Verstoß gegen die Masernimpfpflicht führt zu den in § 20 Abs. 9 bis Abs. 12 IfSG geregelten Konsequenzen. Für Kinder gilt insbesondere ein Betreuungsverbot in 1 Bezüglich weiterführender Informationen wird auf die Ausarbeitungen der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages „Verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Impfpflicht“, WD 3 - 3000 - 019/16 (abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource/blob/413560/40484c918e669002c4bb60410a317057/WD-3-019-16- pdf-data.pdf), „Verfassungsmäßigkeit einer gesetzlichen Impfpflicht für Kinder“, WD 3 - 3000 - 056/16 (abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource/blob/424536/d5ca52c1db5c8e0a837031b5e0f105ef/WD-3-056-16-pdfdata .pdf) und „Fragen zur Verfassungsmäßigkeit von Schulschließungen und dadurch bedingtes Homeschooling zwecks Infektionsschutz“, WD 3 - 3000 - 127/20 (abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource /blob/705368/06e8126a28491f9ee7ee094ee3962c4f/WD-3-127-20-pdf-data.pdf) verwiesen. 2 Die folgenden Ausführungen entstammen der Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages „Verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Impfpflicht“, WD 3 - 3000 - 019/16 (Fn. 1). 3 Maunz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Stand: 90 EL Februar 2020, Art. 74 GG Rn. 213; Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 9. Auflage 2021, Art. 74 GG Rn 85. 4 Gesetz für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (Masernschutzgesetz) vom 10. Februar 2020, BGBl. 2020 I, S. 148 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 113/21 Seite 5 Kindertagesstätten bzw. im Hort, wenn der gemäß § 20 Abs. 1 IfSG geforderte Nachweis nicht vorgelegt wird, § 20 Abs. 9 S. 6 und S. 7 IfSG. Das Betreuungsverbot gilt allerdings nicht für Kinder und Jugendliche, die der gesetzlichen Schulpflicht unterliegen, soweit es um den Schulbesuch geht, § 20 Abs. 9 S. 9 IfSG. Bei einem fehlenden Nachweis ist das Gesundheitsamt zu benachrichtigen , das die betroffenen Personen zu einer Beratung laden kann und zur Impfung aufzufordern hat, § 20 Abs. 9 S. 4, Abs. 12 S. 2 IfSG. Die Gesetzesbegründung betont, dass es sich bei der Masernimpfpflicht nicht um eine Pflicht handelt, die durch unmittelbaren Zwang durchsetzbar ist.5 Gegen das Masernschutzgesetz wurden mehrere Verfassungsbeschwerden eingereicht, über die das Bundesverfassungsgericht voraussichtlich in diesem Jahr entscheiden wird.6 Zwei hiergegen gerichtete Eilanträge hat das Bundesverfassungsgericht im Mai 2021 auf Grund der Folgenabwägung abgewiesen, aber eine offensichtliche Unbegründetheit verneint.7 2.3. Anforderungen des § 20 Abs. 6 IfSG In § 20 Abs. 6 IfSG wird das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) ermächtigt, durch Rechtsverordnung anzuordnen, dass bedrohte Teile der Bevölkerung an Schutzimpfungen teilzunehmen haben, wenn eine übertragbare Krankheit mit klinisch schweren Verlaufsformen auftritt und mit ihrer epidemischen Verbreitung zu rechnen ist. Von dieser Ermächtigung hat das BMG bislang bezüglich einer Corona-Impfpflicht keinen Gebrauch gemacht. Deshalb sind die Landesregierungen bezüglich einer Corona-Impfung gemäß § 20 Abs. 7 IfSG zum Erlass einer Rechtsverordnung nach Absatz 6 ermächtigt. Soweit ersichtlich haben die Länder bislang keine entsprechenden Rechtsverordnungen erlassen, sodass aktuell keine Rechtsgrundlagen bestehen, die zu einer beschränkten Impfpflicht im Seuchenfall ermächtigen. Zwar kann bei der Bestimmung des zu impfenden Bevölkerungsteils auch das Alter einen Bezugspunkt bilden. Eine Impfpflicht für Kinder kann hierauf nicht gestützt werden, da es sich bei Kindern wohl nicht um einen bedrohten Teil der Bevölkerung handelt. Vielmehr stellt sich der Verlauf von COVID-19-Infektionen bei Kindern vorwiegend mild bzw. asymptomatisch dar. § 20 Abs. 6 IfSG stellt damit keine Rechtsgrundlage für eine Impfpflicht von Kindern dar. 3. Prüfungsmaßstab Für die Beurteilung der Zulässigkeit einer Impfpflicht ist die konkrete Ausgestaltung maßgeblich. Die Beeinträchtigung durch eine solche Pflicht darf nicht unzumutbar sein.8 Eine verfassungsgemäße Ausgestaltung einer Impfpflicht muss daher Ausnahmeregelungen enthalten, um die betroffenen Grundrechte ausreichend zu berücksichtigen. So müsste z. B. ein Impfpflichtiger, der nach ärztlichem Zeugnis ohne Gefahr für sein Leben oder seine Gesundheit nicht geimpft werden kann, von der Impfpflicht freigestellt werden. Weiterhin müssten Ausnahmeregelungen getroffen 5 BT-Drs. 19/13452, S. 27; ausführlich zu den Regelungen des Masernschutzgesetzes Rixen, Die Impfpflicht nach dem Masernschutzgesetz, NJW 2020, S. 647 ff. 6 Siehe den Bericht in der Ärztezeitung vom 23. März 2021, abrufbar unter https://www.aerztezeitung.de/Wirtschaft /Bundesverfassungsgericht-urteilt-2021-ueber-Masernimpfpflicht-und-Triage-418157.html (Stand 7. Juni 2021). 7 BVerfG, Beschluss vom 11. Mai 2020 - 1 BvR 469/20 -. 8 BVerfGE 13, 97. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 113/21 Seite 6 werden, dass bei bereits bestehendem ausreichendem Immunstatus, beispielsweise durch eine vorangegangene Erkrankung, für die Zeit der Immunisierung keine Impfverpflichtung statuiert wird.9 Unsicherheit besteht jedoch nach aktuellem Stand über die Dauer einer Immunisierung.10 Des Weiteren müsste sichergestellt sein, dass eine ausreichende Menge an Impfstoffen zu Verfügung stünde.11 Eine weitere Ausnahme von einer Impfpflicht könnte, wie im Fall der Masern nach § 20 Abs. 9 S. 9 IfSG, für schulpflichtige Kinder gelten, sodass deren Betreuung in der Schule weiterhin möglich wäre.12 Erforderlich ist außerdem, das aktuelle Infektionsgeschehen in die Regelung miteinzubeziehen. So muss eine gewisse Gefahr bestehen, gemessen anhand von Inzidenz- und anderer wissenschaftlicher Werte, um die Erforderlichkeit einer Impfpflicht zu rechtfertigen. Da vorliegend keine bestimmte Regelung sondern eine Impfpflicht für Kinder ohne konkrete Ausgestaltung untersucht wird, kann deren verfassungsrechtliche Zulässigkeit nicht abschließend beurteilt werden. 4. Betroffene Grundrechte Der Bund hat bei der Gesetzgebung die Grundrechte zu wahren. Eine Impfpflicht für Kinder würde mehrere Grundrechte betreffen. 4.1. Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG Dieses Grundrecht wäre verletzt, wenn eine Impfpflicht einen Eingriff in den Schutzbereich von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG darstellte und dieser Eingriff verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt wäre. 4.1.1. Schutzbereich Der Schutzbereich müsste in persönlicher und sachlicher Hinsicht betroffen sein. Nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG hat jeder das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, sodass der Schutzbereich für natürliche Personen eröffnet ist. Ferner schützt das Grundrecht die physische Gesundheit eines Menschen, die auch die körperliche Integrität umfasst. Der Schutzbereich ist somit auch in sachlicher Hinsicht eröffnet. 4.1.2. Eingriff Ein Eingriff in ein Grundrecht ist immer dann gegeben, wenn eine unmittelbare, zielgerichtete Beeinträchtigung des Schutzbereiches erfolgt. Sowohl das Einführen der Nadel in den Oberarm wie auch die Zuführung des Impfstoffs selbst beeinträchtigen die körperliche Integrität. Eine Impfung gegen das Coronavirus stellt somit einen Eingriff in den Schutzbereich von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG dar. 9 Agibe, in: Eckart/Winkelmüller (Hrsg.), Infektionsschutzrecht, 5. Edition Stand: 10. Mai 2021, § 20 IfSG Rn. 246. 10 Siehe https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html;jsessionid =38DE5086E02AE2D1DF179AE5EB78E973.internet061?nn=13490888#doc13776792bodyText17. 11 Agibe, in: Eckart/Winkelmüller (Hrsg.), Infektionsschutzrecht, 5. Edition Stand: 10. Mai 2021, § 20 IfSG Rn. 247. 12 Agibe, in: Eckart/Winkelmüller (Hrsg.), Infektionsschutzrecht, 5. Edition Stand: 10. Mai 2021, § 20 IfSG Rn. 251. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 113/21 Seite 7 Zur näheren Erläuterung der einzelnen Impfstoffe soll folgende Zusammenfassung dienen: Zur Bekämpfung der Corona-Pandemie sind zum Stand des 15. April 2021 in Deutschland die Impfstoffe der Hersteller BioNTech/Pfizer, Moderna, AstraZeneca und Janssen-Cilag (Johnson&Johnson) gegen COVID-19 zugelassen.13 Bei den Impfstoffen von AstraZeneca und Johnson&Johnson handelt es sich um Vektorimpfstoffe,14 während die Präparate von BioNTech/Pfizer und Moderna mit der mRNA- Technologie arbeiten.15 Beide Arten von Impfstoff, wenn auch in der Wirkungsweise unterschiedlich , zielen auf den Aufbau des passenden sog. Spikeproteins ab. Zu diesem Zweck werden dem Körper dafür notwendige Bestandteile des Virus mittels einer Spritze zugeführt. Das Immunsystem erkennt die gebildeten Spikeproteine anschließend als Fremdeiweiße und bildet in Folge dessen Antikörper und Abwehrzellen.16 4.1.3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Da Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG einen Gesetzesvorbehalt enthält, kann das Grundrecht nur auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden. Mangels entsprechender Ermächtigung im IfSG ist dies derzeit nicht der Fall. Darüber hinaus müsste zur Einführung einer Impfpflicht die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar sein. Sie wäre verhältnismäßig, sofern damit ein legitimes Ziel verfolgt wird und sie ferner geeignet, erforderlich und angemessen ist. 4.1.3.1. Legitimes Ziel Zunächst müsste die Regelung ein legitimes Ziel verfolgen. Die Corona-Impfungen haben unterschiedliche Schutzbedürftige im Blick. Durch die Impfungen sollen sowohl die bereits Geimpften als auch die bisher nicht Geimpften vor Erkrankungen mit dem Coronavirus geschützt werden. Dies soll durch den Aufbau einer sogenannten Herdenimmunität geschehen. Diese bewirkt die Unterbrechung von Infektionsketten, sodass einzelne Infizierungen nicht zu größeren Ausbrüchen der Krankheit führen.17 Dies kann langfristig zu einer Ausrottung der Krankheit beitragen. Des Weiteren soll durch die Impfung als Schutzmaßnahme vor Corona-Erkrankungen verhindert werden, dass das Gesundheitssystem zusammenbricht, damit auch weiterhin die Behandlung von schwererkrankten Menschen gewährleistet bleibt.18 Diese Erwägungen würden legitime Ziele darstellen. 13 Siehe hierzu Epidemiologisches Bulletin 19/2021 vom 12. Mai 2021, online abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2021/Ausgaben/19_21.pdf?__blob=publicationFile, S. 3. 14 Siehe hierzu https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/COVID-Impfen/FAQ_Liste_Impfstofftypen.html. 15 Siehe Aufklärungsmerkblatt zur Schutzimpfung gegen COVID-19 mit mRNA-Impfstoffen, online abrufbar unter https://www.pei.de/SharedDocs/Downloads/DE/arzneimittel/aufklaerungsbogen-mrna-impfstoffe .pdf?__blob=publicationFile&v=6. 16 Siehe Aufklärungsmerkblatt zur Schutzimpfung gegen COVID-19 mit mRNA-Impfstoffen, online abrufbar unter https://www.pei.de/SharedDocs/Downloads/DE/arzneimittel/aufklaerungsbogen-mrna-impfstoffe .pdf?__blob=publicationFile&v=6. 17 Siehe vfa, Herdenimmunität: Mit Impfungen sich selbst und andere schützen, online abrufbar unter https://www.vfa.de/de/arzneimittel-forschung/impfen/herdenimmunitaet. 18 Thüringer Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 9. April 2020, Az. 3 EN 238/20, Rn. 8 (-juris). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 113/21 Seite 8 4.1.3.2. Geeignetheit Ferner muss eine Impfpflicht für Kinder zur Erreichung dieser legitimen Ziele auch geeignet sein. Eine Maßnahme ist geeignet, wenn mit ihrer Hilfe das angestrebte Ziel erreicht oder gefördert werden kann. Impfungen gehören laut der nach § 20 Abs. 2 IfSG am Robert Koch-Institut (RKI) eingerichteten ständigen Impfkommission (STIKO) generell zu den wirksamsten und wichtigsten präventiven medizinischen Maßnahmen.19 Auch die COVID-19-Beauftragte der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Maria van Kerkhove, betont, dass die Weltbevölkerung nur durch umfangreiche Impfungen vor dem Coronavirus SARS-CoV-2 geschützt werden kann. Bisherige Studien zu den Corona-Impfstoffen zeigen eine hohe Wirksamkeit und einen anhaltenden Immunisierungsschutz.20 Auch wird das Risiko einer Virusübertragung stark vermindert.21 Das bedeutet, dass sie sowohl zur Unterbrechung von Infektionsketten als auch zur Entlastung des Gesundheitssystems beitragen. Eine Herdenimmunität hingegen auf natürlichem Wege, das heißt durch Infizierung vieler Menschen, aufzubauen, könnte zu vielen schweren Krankheitsverlaufen führen22 und das Gesundheitssystem übermäßig belasten. Es könnte an einem geeigneten Mittel für eine Impfpflicht für Kinder fehlen. Die STIKO hatte die bisher zugelassenen Impfstoffe zunächst nur für Menschen ab frühestens 16 Jahren empfohlen. Nach Zulassung des Impfstoffs Comirnaty des Herstellers BioNTech/Pfizer wurde eine Empfehlung auch für solche Kinder und Jugendlicher ab 12 Jahren ausgesprochen, bei denen aufgrund bestimmter Vorerkrankungen ein erhöhtes Risikos für einen schweren Verlauf der COVID-19- Erkrankung anzunehmen ist sowie bei Kindern und Jugendlichen mit Angehörigen bzw. Kontaktpersonen mit hoher Gefährdung für einen schweren Covid-19-Verlauf, die selbst nicht geimpft werden können.23 Die STIKO-Impfempfehlungen geben an, welche Impfungen für wen sinnvoll sind, um sich vor gefährlichen Infektionskrankheiten zu schützen.24 Entscheidend für die Verwendung eines Impfstoffs ist aber die Zulassung durch die EMA oder das Paul-Ehrlich-Institut. Vor der Zulassung eines Impfstoffes werden die Vakzine umfassend auf ihre Sicherheit geprüft. Auch nach der Zulassung findet eine weitere Beobachtung statt.25 Bisher wurde nur der Impfstoff von BioNTech/Pfizer für Kinder ab 12 Jahren zugelassen,26 für den Impfstoff von Moderna wurde 19 Vgl. Robert Koch-Institut, Epidemiologisches Bulletin, Ausgabe Nr. 35 vom 24. August 2015. 20 Siehe https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/COVID-Impfen/gesamt.html. 21 Siehe https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/COVID-Impfen/gesamt.html. 22 Siehe aerzteblatt.de, WHO: Herdenimmunität bei Coronavirus nur durch Impfung sicher, online abrufbar unter https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/116050/WHO-Herdenimmunitaet-bei-Coronavirus-nur-durch-Impfung-sicher. 23 Vgl. Robert Koch-Institut, Epidemiologisches Bulletin, Ausgabe Nr. 23 vom 10. Juni 2021. 24 Siehe https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/COVID-Impfen/FAQ_Liste_STIKO_Empfehlungen.html;jsessionid =500639B24E45019DA3C5F7DC0746DD74.internet092#FAQId14993766. 25 Siehe https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/COVID-Impfen/gesamt.html. 26 Siehe https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/biontech-zulassung-jugendliche-1919360. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 113/21 Seite 9 die Zulassung beantragt.27 Für Kinder ab 12 Jahren gibt es derzeit also ein geeignetes Mittel. Für Kinder unter 12 Jahren ist noch kein Impfstoff zugelassen und es ist nicht bekannt, dass dies demnächst bevorstehen könnte. Eine Impfpflicht für Kinder dieses Alters scheidet daher aus. Problematisch erscheint für die Geeignetheit, dass es unklar ist, ob das Ziel der Herdenimmunität durch eine Impfpflicht nur für Kinder überhaupt erreicht werden könnte. Die für eine Herdenimmunität erforderliche Durchimpfungsrate ist derzeit noch nicht wissenschaftlich belegt.28 Da es für die Geeignetheit ausreicht, wenn die Maßnahme die legitimen Ziele zumindest fördert, wäre diese bei einer Impfpflicht für Kinder derzeit gegeben. 4.1.3.3. Erforderlichkeit Die Impfpflicht für Kinder müsste zudem erforderlich sein. Dies ist der Fall, wenn kein anderes Mittel verfügbar ist, das in gleicher Weise geeignet ist, den Zweck zu erreichen, aber den Betroffenen und die Allgemeinheit weniger belastet.29 Dabei ist vorliegend zwischen dem Individualschutz und dem Schutz der Allgemeinheit zu differenzieren. Für die individuelle Gesundheit der Kinder könnten Impfempfehlungen und Behandlungsmöglichkeiten zunächst als mildere Mittel angesehen werden. Allerdings sind Impfempfehlungen gerade aufgrund ihres freiwilligen Charakters im Unterschied zu einer Impfpflicht weniger gut geeignet, um die legitimen Ziele zu erreichen. Die Behandlung der Krankheit findet erst nach einer Infektion statt und ist daher ebenfalls nicht gleich gut geeignet. Zudem können derzeit lediglich die Symptome einer Infektion mit COVID-19 therapiert werden, nicht die Krankheit selbst. Ferner können nach überstandener Infektion mit dem Coronavirus „Long-COVID“-Folgen auftreten, welche sich durch Symptome wie beispielsweise chronische Erschöpfung, Kopfschmerzen, Atembeschwerden, Kreislaufproblemen , Schlafstörungen und Aufmerksamkeitsdefizite äußern.30 Impfempfehlungen und Behandlungsmöglichkeiten stellen somit keine milderen Mittel gegenüber einer Impfpflicht dar. Weiterhin kommt als milderes Mittel für die Individualgesundheit die Aufrechterhaltung der bisherigen Schutzmaßnahmen in Betracht. In den §§ 28, 28a und 28b IfSG werden unterschiedliche Schutzmaßnahmen geregelt, um die Verbreitung der Corona-Pandemie zu verhindern. Hierzu gehören beispielsweise neben Schulschließungen die Schließung von Läden, Ausgangsbeschränkungen und auch die die „AHA+L-Regeln“ (Abstand, Hygienemaßnahme, Alltagsmasken und Lüften). Insbesondere im Hinblick auf die Schließung von Schulen und die daraus resultierenden negativen Auswirkungen auf Kinder ist jedoch anzumerken, dass sie keine milderen Mittel darstellen. 27 Corona-Impfstoff: Moderna beantragt Zulassung für Jugendliche, Stand 7. Juni 2021, 16:16 Uhr, https://www.tagesschau .de/wirtschaft/unternehmen/moderna-impfstoff-kinder-101.html. 28 Siehe WDR, Wie wichtig Herdenimmunität ist und wann sie erreicht ist, online abrufbar unter https://www1.wdr.de/nachrichten/coronavirus-impfen-herdenimmunitaet-100.html. 29 Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), GG, 15. Auflage 2018, Art. 20 Rn. 119. 30 Siehe ÄrzteZeitung, Neue Ambulanz für Long-COVID bei Kindern in München, online abrufbar unter https://www.aerztezeitung.de/Nachrichten/Neue-Ambulanz-fuer-Long-COVID-bei-Kindern-in-Muenchen-419695.html und Epidemiologischer Steckbrief zu SARS-CoV-2 und COVID-19, Nr. 9, online abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html#doc13776792bodyText8. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 113/21 Seite 10 Gegen eine Erforderlichkeit könnte zudem sprechen, dass Kinder und Jugendliche bisher eher milde Krankheitsverläufe gezeigt haben oder gänzlich symptomlos blieben.31 Schwere Krankheitsverläufe wie schwere Pneumonien oder Lungenversagen sind jedoch nicht ausgeschlossen. Auch „Long- COVID“ kann bei Kindern nicht gänzlich ausgeschlossen werden.32 Zudem ist für eine ernsthafte Erkrankung nicht allein das Alter der infizierten Person entscheidend; auch Kinder und Jugendliche können aufgrund einer Vorerkrankung zu den gefährdeten Personenkreis gehören. Solange keine Herdenimmunität herrscht, besteht darüber hinaus die Gefahr der Entstehung von gefährlicheren Mutationen, die auch bei Kindern und Jugendlichen vermehrt zu schweren Erkrankungen führen könnten. Auch eine Impfpflicht für besonders gefährdete Gruppen anstelle von Kindern könnte ein milderes Mittel darstellen, sowohl bezüglich des individuellen Schutzes, aber auch im Hinblick auf die Erreichung der Herdenimmunität, der Unterbrechung der Infektionsketten und der Entlastung des Gesundheitssystems. Ob diese gleich geeignet wäre, ist aufgrund der unklaren Datenlage nicht beurteilbar. Schließlich erscheint die Erforderlichkeit gegenwärtig im Hinblick auf die derzeit sinkenden Infektionszahlen fraglich. Die 7-Tage-Inzidenz stellt jedoch das aktuelle pandemische Geschehen dar, eine erneute Verschlechterung ist möglich. Das RKI schätzt seit dem 1. Juni 2021 die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland weiterhin insgesamt als hoch ein, eine Anpassung der früheren Bewertung als sehr hoch.33 Dem Gesetzgeber kommt schließlich bei der Beurteilung der Erforderlichkeit eine Einschätzungsprärogative zu. An ihr fehlt es nur, „wenn bei dem als Alternative vorgeschlagenen geringeren Eingriff in jeder Hinsicht eindeutig feststeht, dass er einen bestimmten Zweck sachlich gleichwertig erreicht“.34 4.1.3.4. Angemessenheit Fraglich ist jedoch, ob eine generelle Impfpflicht für Kinder auch verhältnismäßig im engeren Sinne wäre. Um angemessen zu sein, dürfte das Ziel nicht außer Verhältnis zum Mittel stehen. Es erfolgt insoweit eine Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs einerseits und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe andererseits. In die Abwägung sind alle Krankheits-, Ansteckungs- und Impfrisiken einzubeziehen. Dabei ist stets zu berücksichtigen, dass gerade die verschiedenen wissenschaftlichen und medizinischen Aspekte, die in die Abwägung einzustellen 31 Epidemiologischer Steckbrief zu SARS-CoV-2 und COVID-19, Robert Koch-Institut, Stand: 19. April 2021, abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html;jsessionid =5723978483AF174B979FEC38779F84FC.internet102?nn=13490888#doc13776792bodyText16. 32 Siehe ÄrzteZeitung, Neue Ambulanz für Long-COVID bei Kindern in München, online abrufbar unter https://www.aerztezeitung.de/Nachrichten/Neue-Ambulanz-fuer-Long-COVID-bei-Kindern-in-Muenchen- 419695.html. 33 Siehe Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) vom 1. Juni 2021, online abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Jun_2021/2021-06- 01-de.pdf?__blob=publicationFile. 34 BVerfGE 105, 17, 36. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 113/21 Seite 11 sind, auf – nach aktuellen Forschungsstand – gesicherten Erkenntnissen beruhen müssen.35 Es ist wiederum zwischen dem Individualschutz und den Interessen der Allgemeinheit zu differenzieren. 4.1.3.4.1. Schutz der individuellen Gesundheit der Kinder Impfungen können Impfreaktionen und Nebenwirkungen unterschiedlicher Intensität und Dauer hervorrufen. Der Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit wiegt somit schwer. Besonders zu beachten ist – neben den bei früheren Impfstoffen bekannten Risiken – im Zusammenhang der COVID-19-Schutzimpfung die von den Herstellern BioNTech/Pfizer und Moderna neuartige mRNA-Technologie. Diese wird erstmalig in einem Impfstoff verwendet, sodass deren Auswirkungen nicht abschließend erforscht und bekannt sind. Die Impfstoffe gegen COVID-19 wurden in Deutschland bisher nur für Erwachsene zugelassen. Auch die Studien fanden zunächst nur an Erwachsenen statt. Bisher sind nur wenige klinische Studien zur Sicherheit und Effektivität von Impfungen für Kinder und Jugendliche verfügbar. Die bisherigen Studiendaten zeigen, dass die Impfungen für Kinder und Jugendlichen gut verträglich sind und vor einer Erkrankung schützen.36 Aufgrund der von den zuständigen Stellen erteilten Zulassungen ist davon auszugehen, dass diese Impfstoffe sicher sind. 4.1.3.4.2. Interessen der Allgemeinheit In die Angemessenheit ist neben dem Interesse der Kinder an ihrer körperlichen Unversehrtheit auch das Interesse der Allgemeinheit einzubeziehen. Zudem soll eine Impfpflicht dazu beitragen, dass die Herdenimmunität der Gesellschaft überhaupt erst entstehen kann und in der Folge Infektionsketten unterbrochen und intensivmedizinische Behandlungen nicht erforderlich werden. Es ist wissenschaftlich noch nicht erwiesen, ab wann eine Herdenimmunität entstehen kann.37 Eine hohe Immunisierungsrate führt dazu, dass auch Menschen, die sich aufgrund ihres Alters oder bestehender Vorerkrankungen nicht impfen können, ebenfalls geschützt werden. Auch bewirkt eine breite Immunisierung die Entlastung des Gesundheitssystems, sodass Situationen verhindert werden können, bei denen Menschen aufgrund der Auslastung nicht mehr ausreichend versorgt werden können. In diesem Fall könnte der Staat seine Verpflichtung, seine Bevölkerung zu schützen, nicht mehr ausreichend erfüllen. Dass Kinder oft nur milde oder keine Symptome bei einer bestehenden Infektion aufweisen, führt auch dazu, dass Infektionsketten nicht durchbrochen werden können. Auch wenn Schulen wohl 35 So im Ergebnis beispielsweise auch Gassner, Impfzwang und Verfassung, Mit Macht gegen Masern, abrufbar unter http://www.lto.de/recht/hintergruende/h/masern-impfzwang-bahr/. 36 Siehe aerzteblatt.de, Studie: Coronaimpfstoff von Moderna schützt Teenager offenbar vor COVID-19, online abrufbar unter https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/124113/Studie-Coronaimpfstoff-von-Moderna-schuetzt- Teenager-offenbar-vor-COVID-19. 37 Siehe WDR, Wie wichtig Herdenimmunität ist und wann sie erreicht ist, online abrufbar unter https://www1.wdr.de/nachrichten/coronavirus-impfen-herdenimmunitaet-100.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 113/21 Seite 12 nicht ‚Motor‘ der Pandemie sind,38 können Schulen Infektionsherde bilden, gerade weil Kinder dort den Großteil ihres Tages auf engem Raum zusammen verbringen. Der andauernde Wegfall eines Präsenzunterrichtes hat bereits jetzt zu vielfältigen Problemen auch gesundheitlicher Art bei Kindern und Jugendlichen geführt. Zudem dient die Schule nicht nur als Ort des Lernens, sondern bietet den Kindern auch feste Strukturen und den Austausch mit Gleichaltrigen. Durch eine Impfpflicht kann unter wesentlich verringertem Risiko der Präsenzunterricht durchgeführt werden; sie kann zu einer Lösung der durch die Schließungen entstandenen Probleme beitragen. Eine Impfpflicht für Kinder könnte auch zu einem Sinken der Inzidenz beitragen, sodass bereits bestehende Schutzmaßnahmen wie Kontaktbeschränkungen und Schließungen überflüssig und dann aufgehoben werden könnten. Allerdings dürfen allein wirtschaftliche Erwägungen und Kostengründe nicht ausschlaggebend für eine Impfpflicht sein. 4.2. Elterliches Erziehungsrecht, Art. 6 Abs. 2 GG39 Das elterliche Erziehungsrecht wäre verletzt, wenn eine Impflicht einen Eingriff in den Schutzbereich von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG darstellte und dieser Eingriff verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt wäre. 4.2.1. Eingriff in den Schutzbereich Von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG umfasst sind die Pflege und Erziehung von Kindern. Während die Pflege auf das körperliche Wohl gerichtet ist und insbesondere die physische Sorge umfasst,40 ist die Erziehung auf die Sorge für die seelische Entwicklung des Kindes gerichtet.41 Art. 6 Abs. 2 GG ist sowohl ein Grundrecht gegen eine staatliche Einmischung in die Sorge des Kindes als auch eine Grundpflicht, die Kinder zu pflegen und zu erziehen.42 Maßgeblich ist insgesamt das Kindeswohl , an dem sich Pflege und Erziehung zu orientieren haben.43 Art. 6 Abs. 2 GG beruht auf der Annahme des Verfassungsgebers, dass die Interessen des Kindes in aller Regel am besten 38 Robert Koch-Institut, Epidemiologisches Bulletin Modellprognosen für die dritte Welle der SARS-CoV-2-Pandemie, COVID-19 im Schulsetting, 1. April 2021, abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv /2021/Ausgaben/13_21.pdf?__blob=publicationFile. 39 Die folgenden Ausführungen entstammen der Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages „Verfassungsmäßigkeit einer gesetzlichen Impfpflicht für Kinder“, WD 3 - 3000 - 056/16 (Fn. 1). 40 Brosius-Gersdorf, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Band 1, 3. Auflage 2013, Art. 6 Rn. 158; Erichsen, Elternrecht – Kindeswohl – Staatsgewalt, 1985, S. 31; Trapp, Impfzwang – Verfassungsrechtliche Grenzen staatlicher Gesundheitsvorsorgemaßnahmen, DVBl. 2015, S. 11; Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Begr./Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Band 1, 7. Auflage 2018, Art. 6 Abs. 2 Rn. 143. 41 Robbers (Fn. 40), Art. 6 Abs. 2 Rn 143; Brosius-Gersdorf (Fn. 40), Art. 6 Rn. 159. 42 BVerfGE 31, 194 (204; 56, 363 (381); Brosius-Gersdorf (Fn. 40), Art. 6 Rn. 141. 43 Vgl. BVerfGE 24, 130 (143); 60, 79 (88); 61, 358 (372); 107, 104 (117); siehe Brosius-Gersdorf (Fn. 40), Art. 6 Rn. 142; Jestaedt/Reimer, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Band 4, 195. EL 2018, Art. 6 Abs. 2 und 3, Rn. 70 f., 75, 77, 82, 90, 94. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 113/21 Seite 13 von den Eltern wahrgenommen werden44. Insoweit ist in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG der Vorrang der Eltern bei der Pflege und Erziehung der Kinder verankert.45 Von der Pflege ist auch die Entscheidung über eine medizinische Behandlung der Kinder im Sinne des Kindeswohls umfasst.46 Schutzimpfungen für Kinder stellen medizinische Maßnahmen für das körperliche Wohl dar und sind als solche Maßnahmen der physischen Sorge, weswegen sie dem Schutzbereich des elterlichen Erziehungsrechts unterfallen.47 Indem diese verpflichtend – gegebenenfalls unter Androhung von Sanktionen – durchgeführt werden, wird in das elterliche Erziehungsrecht eingegriffen.48 4.2.2. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Eingriffe in das elterliche Erziehungsrecht bedürfen einer gesetzlichen Eingriffsgrundlage49 und können nach herrschender Meinung aufgrund der Ausübung des staatlichen Wächteramtes gerechtfertigt sein.50 Jedoch darf der Staat nur dann eingreifen, wenn die Pflege- und Erziehungspflicht vernachlässigt wird und dadurch das Kindeswohl zumindest gefährdet wird.51 In diesem Fall ist der Staat zudem nur auf ein „Interventionsminimum“ beschränkt.52 Er kann gerade nicht von sich aus die optimalste Gesundheitsversorgung für die Kinder verpflichtend anordnen,53 da den Eltern insoweit ein vorrangiges Entscheidungsrecht zukommt. Daher dürfte die gesetzliche Anordnung von Zwangsimpfungen (allein) aufgrund des staatlichen Wächteramtes wohl hohen Anforderungen unterliegen. Es soll der Elternverantwortung zugewiesen sein, zu bestimmen, „welches Maß an 44 Badura, in: Maunz/Dürig, 93. EL Oktober 2020, GG Art. 6 Rn. 109, BVerfGE 24, 119 (150). 45 BVerfGE 24, 120 (138, 143 ff.); 56, 363 (381); 107, 104 (118); Brosius-Gersdorf (Fn. 40), Art. 6 Rn. 155 ff., 175; Erichsen (Fn. 40), S. 49 ff.; Höfling, Elternrecht, in: Isensee/Kirchhoff (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band 7, 3. Auflage 2009, § 155 Rn. 80; Jestaedt/Reimer (Fn. 43), Art. 6 Abs. 2 und 3 Rn. 95; Wedlich, Nationale Präventionsmaßnahmen zur Erreichung des WHO-Impfziels bei Masern, 2014, S. 47; vgl. Trapp (Fn. 40), S. 11 (18); siehe auch Ossenbühl, Das elterliche Erziehungsrecht im Sinne des Grundgesetzes, 1981, S. 64, 71. 46 Trapp (Fn. 40), S. 11 (18 f.); vgl. Brosius-Gersdorf (Fn. 40), Art. 6 Rn. 158. 47 Sacksofsky/Nowak, Grundrechte und Staatsorganisationsrecht – Masernimpfpflicht, JuS 2015, S. 1007 (1010); vgl. Trapp (Fn. 40), S. 11 (19). 48 Vgl. Sacksofsky/Nowak (Fn. 47), S. 1007 (1010); Trapp (Fn. 40), S. 11 (19); siehe auch Wedlich (Fn. 45), S. 47. 49 BVerfGE 107, 104 (120); Brosius-Gersdorf (Fn. 40), Art. 6 Rn. 178; Erichsen (Fn. 40), S. 47; Höfling (Fn. 45), § 155 Rn. 53; Jestaedt/Reimer (Fn. 43), Art. 6 Abs. 2 und 3 Rn. 70 f., 75, 77, 82, 90, 94; vgl. Wedlich (Fn. 45), S. 48. 50 In diese Richtung z. B. BVerfGE 24, 119 (138); 59, 360 (376); sie auch Erichsen (Fn. 40), S. 47 f.; Höfling (Fn. 45), § 155 Rn. 53; in diese Richtung auch Trapp (Fn. 40), S. 11 (18), darauf, dass die Rechtsprechung des BVerfG einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt statuiert, weist auch Jestaedt/Reimer (Fn. 43), Art. 6 Abs. 2 und 3 Rn. 343; als vorbehaltlos garantiert sehen das elterliche Erziehungsrecht beispielsweise BVerwGE 64, 308 (312) und Brosius- Gersdorf (Fn. 40), Art. 6 Rn. 171 f. sowie Ossenbühl (Fn. 45), S. 59, an. 51 Brosius-Gersdorf (Fn. 40), Art. 6 Rn. 179 ff.; vgl. in diese Richtung auch Ossenbühl (Fn. 45), S. 72. 52 Jestaedt/Reimer (Fn. 43), Art. 6 Abs. 2 und 3 Rn. 429. 53 Vgl. Brosius-Gersdorf (Fn. 40), Art. 6 Rn. 183; vgl. Trapp (Fn. 40), S. 11 (18 f.); siehe auch Sacksofsky/Nowak, Grundrechte und Staatsorganisationsrecht – Masernimpfpflicht, JuS 2015, S. 1007 (1010). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 113/21 Seite 14 Belastung und risikobehaftetem Eingriff sie ihrem Kind unter Abwägung seiner Lebenschancen noch zumuten wollen.“54 In Bezug auf Impfungen wird der Staat daher im Grundsatz auch das Recht der Eltern zu berücksichtigen haben, die Vorteile der Impfung mit ihren möglichen Nachteilen (Nebenwirkungen, „Impfschäden“) für ihre Kinder abzuwägen. Daher ist der Staat im Rahmen seines Wächteramtes grundsätzlich nur befugt, Empfehlungen abzugeben.55 Eine Rechtfertigung kann sich auch aufgrund einer staatlichen Schutzpflicht gegenüber dem Leben und der körperlichen Unversehrtheit Dritter nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ergeben (kollidierendes Verfassungsrecht).56 Hinzuweisen ist insoweit vor allem auf die mit einer flächendeckenden Impfung zu erzielende „Herdenimmunität“ durch die Unterbrechung der Infektionskette, mit der die Zirkulation einer Krankheit unterbunden wird.57 Durch flächendeckende Impfungen werden damit – im Gegensatz zu anderen Maßnahmen – auch z.B. solche Personen geschützt, die selbst gegen Impfstoffe überempfindlich reagieren und denen deswegen keine eigene Schutzimpfung zu Gute kommen kann.58 Auf die obigen Ausführungen zur Rechtfertigung durch die Interessen der Allgemeinheit (4.1.3.4.2.) wird diesbezüglich verwiesen. Entscheidend ist auch hier wiederum die genaue Ausgestaltung der fraglichen Impfpflicht. So ist das Elternrecht ausreichend zu berücksichtigen, beispielsweise durch weitere Beratungsmöglichkeiten für Eltern, die ihr Kind nicht impfen lassen wollen. Regelungen müssten auch bestehen für den Fall, dass der Staat das Pflege- und Erziehungsrecht von Kindern wahrnimmt, deren Eltern dazu nicht in der Lage sind. Zudem kommt dem Gesetzgeber wiederum eine Einschätzungsprärogative zu, sodass eine abschließende Beurteilung der Vereinbarkeit einer Impfpflicht für Kinder mit dem Recht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 GG von der konkreten Anwendung der Einschätzungsprärogative abhängt. 4.3. Kein Grundrecht auf Bildung, Art. 7 GG Art. 7 Abs. 1 GG unterstellt das gesamte Schulwesen der Aufsicht des Staates. Nach einhelliger Ansicht enthält Art. 7 Abs. 1 GG kein Grundrecht auf Bildung, sondern stellt lediglich eine organisatorische Vorschrift dar, deren Adressat ausschließlich der Staat ist.59 Art. 7 Abs. 1 GG überträgt dem Staat einen eigenständigen Bildungs- und Erziehungsauftrag im Schulbereich. Die Verantwortung und Gewährleistung des Staates für Erziehung, Bildung und Schule „tritt in einen – nicht 54 Höfling (Fn.45), § 155 Rn. 84; vgl. dazu auch noch Jestaedt (Fn. 43), Art. 6 Abs. 2 und 3 Rn. 136. 55 Pieper/Schwager-Wehmig: Impfpflicht zur Bekämpfung von Masern- und COVID-19-Viren auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand, in: DÖV 2021, 287 (295). 56 BVerfGE 107, 104 (118); Höfling (Fn. 45), § 155 Rn. 54. 57 Schaks/Kahnert, Die Einführung einer Impfpflicht zur Bekämpfung der Masern. Eine zulässige staatliche Handlungsoption , MedR 2015, S. 860 (862); vgl. Wedlich (Fn. 46), S. 49. 58 Schaks/Kahnert, S. 860 (864); Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Impfpflicht, WD 3 - 3000 - 019/16, Fn. 1, S. 5. 59 Statt vieler Uhle, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), BeckOK Grundgesetz, 46. Edition, Stand: 15. Februar 2021, Art. 7 Rn. 6. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 113/21 Seite 15 konfliktfreien – Zusammenhang mit dem „natürlichen“ Recht der Eltern (Art. 6 Abs. 2 GG), der „pädagogischen Freiheit“ der Lehrer, der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) und den staatskirchlichen Garantien der Religionsgemeinschaften (Art. 140 GG) und nicht zuletzt mit den Grundrechten der Schüler“.60 Auch wenn die Reichweite des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrages im Einzelnen in diesen Spannungsverhältnissen kontrovers diskutiert wird, besteht kein Zweifel daran, dass dem Staat einerseits eine umfassende Ordnungs- und Gestaltungsmacht im Schulbereich zukommt und er anderseits in der Verantwortung steht, ein leistungsfähiges öffentliches Schulwesen zu schaffen und vorzuhalten.61 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat der Staat ein funktionierendes Schulsystem zu gewährleisten, das jedem Schüler entsprechend seiner Begabung eine Schulausbildung ermöglicht.62 Insbesondere hat der Staat im Rahmen seiner finanziellen und organisatorischen Möglichkeiten eine ausreichende Chancengleichheit sicherzustellen.63 Aus dem Verfassungsauftrag des Art. 7 Abs. 1 GG lässt sich jedoch kein bestimmtes Vorgehen für die Bewältigung dieser bisher beispiellosen Krisensituation durch die SARS-CoV-2-Pandemie herleiten. Dem Staat kommt auch hier vielmehr ein Gestaltungsspielraum zu, um auf das Infektionsgeschehen und seinen Verlauf zu reagieren. Dies ist Teil der dem Gesetzgeber zustehenden Einschätzungsprärogative. 5. Ergebnis Eine Impfpflicht für Kinder wäre nicht grundsätzlich verfassungswidrig. Die Zulässigkeit kann durch eine angemessene Ausgestaltung des sie implementierenden Gesetzes sichergestellt werden. Dabei sind Ausnahmeregelungen und die tastsächlichen Entwicklungen zu berücksichtigen. *** 60 Badura, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 93. EL Oktober 2020, Art. 7 Rn. 1. 61 Stern/Sachs/Dietlein, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht: Die einzelnen Grundrechte Bd. IV/2, 1. Auflage 2011, § 116 IV 3. 62 BVerfGE 138, 1 (Rn. 80). 63 Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), GG, 16. Auflage 2020, Art. 7 Rn. 3 mit Rechtsprechungsnachweisen.