© 2015 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 111/15 Schadensersatzansprüche bei Streikmaßnahmen von Erziehern in Kindertagesstätten Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 111/15 Seite 2 Schadensersatzansprüche bei Streikmaßnahmen von Erziehern in Kindertagesstätten Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 111/15 Abschluss der Arbeit: 08.05.2015 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Telefon: Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 111/15 Seite 3 1. Fragestellung Vor dem Hintergrund der aktuellen Tarifauseinandersetzungen zum TVöD wird die Frage gestellt, welche Leistungs- oder Schadensersatzansprüche die drittbetroffenen Eltern im Fall von Streikmaßnahmen der Erzieher in Kindertagesstätten gegenüber den Trägern der öffentlichen und freien Jugendhilfe haben. Im Zentrum der vorliegenden Ausarbeitung steht die Prüfung von Schadensersatzansprüchen , mögliche Leistungsansprüche sind Gegenstand eines weiteren Gutachtens,1 dessen Ergebnisse hier zugrunde gelegt werden. Anknüpfungspunkt für Schadensersatzansprüche könnten insbesondere die in § 24 SGB VIII verankerten Ansprüche auf Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege sein (Primäransprüche). Bei einem Streik werden die Förderleistungen gegenüber den Kindern faktisch nicht erbracht. Es stellt sich daher die Frage, ob Schadensersatzansprüche in Betracht kommen (Sekundäransprüche). Schadensersatzansprüche beziehen sich im Gegensatz zu Erstattungsansprüchen auf zusätzliche Kosten der Geschädigten (unfreiwillige Vermögensopfer). Im Zusammenhang mit Kitastreiks sind insoweit Kosten für Ersatzbetreuungen, Verdienstausfall oder entgangene Gewinne denkbar.2 2. Förderansprüche aus § 24 SGB VIII Die in § 24 SGB VIII enthaltenen Förderansprüche richten sich an die Träger der öffentlichen Jugendhilfe und sind auf die Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege gerichtet.3 Nach § 24 SGB VIII sind die Träger der öffentlichen Jugendhilfe verpflichtet, jedem anspruchsberechtigten Kind einen Platz in einer eigenen Kindertageseinrichtung zu verschaffen .4 Dabei müssen sie die Fördereinrichtungen nicht selbst betreiben, Träger der Einrichtungen können auch kreisangehörige Kommunen sein sowie Träger der freien Jugendhilfe (z.B. 1 , Zum Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung nach § 24 SGB VIII, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (WD 9 - 3000 - 034/15). 2 Die von der vorliegenden Fragestellung nicht umfassten Erstattungsansprüche betreffen die bereits geleisteten Kitabeiträge, vgl. dazu aber Stähr, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB VIII (Stand: November 2011), Rn. 11c zu § 90, der davon ausgeht, dass die Kostenbeitragspflicht gegenüber öffentlichen Trägern im Streikfall entfällt, da die Voraussetzung der Kostenbeteiligung in der Regel die Leistungserbringung sei und Regelungen zur Weiterzahlung bei Ausfällen (z.B. Ferien) wegen der eingesparten Personalkosten im Streikfall nicht analog anzuwenden seien. Gegenüber freien Trägern könnte die Pflicht zur Zahlung der Kitabeiträge gemäß § 326 Abs. 1 BGB entfallen. Beitragserstattungen im Streikfall könnten aber durch die jeweils anwendbaren öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Benutzungsbedingungen ausgeschlossen sein, was im Einzelfall zu prüfen ist. 3 Vgl. (Fn. 1), 3. Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe werden nach § 69 Abs. 1 SGB VIII durch Landesrecht bestimmt. So ist z.B. das Land Berlin nach § 33 Abs. 1 des Gesetzes zur Ausführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes örtlicher und überörtlicher Träger der öffentlichen Jugendhilfe im Sinne des § 69 Abs. 1 SGB VIII, in Mecklenburg-Vorpommern sind nach § 1 Abs. 1 des Landeshilfeorganisationsgesetzes die Landkreise und kreisfreien Städte örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe. 4 Vgl. (Fn. 1), 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 111/15 Seite 4 Vereine).5 Die freie Jugendhilfe ist nach § 74 SGB VIII von den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe ausdrücklich zu fördern. Die hier zugrunde gelegte gutachterliche Prüfung zur Reichweite der Förderansprüche aus § 24 SGB VIII hat ergeben, dass die Träger der öffentlichen Jugendhilfe ihre (Gewährleistungs-)Pflichten aus § 24 SGB VIII erfüllt haben, „wenn jedes anspruchsberechtigte Kind, das seinen Anspruch geltend macht, einen Betreuungsplatz erhalten hat“.6 3. Nichtgewährleistung „streikfreier“ Kitas Im Hinblick auf mögliche Schadensersatzansprüche stellt sich zunächst die Frage, ob bei einem Streik ein Verstoß gegen § 24 SGB VIII vorliegt, der Schadensersatzansprüche auslösen könnte. In eine ähnliche Richtung geht die Prüfung von Schadensersatzansprüchen in den Konstellationen, in denen die Träger der öffentliche Jugendhilfe Kitaplätze nicht oder nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stellen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommen bei der Nichtverschaffung von Förderplätzen Schadensersatzansprüche für eine Ersatzbetreuung („Selbstbeschaffung“) aus § 36a Abs. 3 SGB VIII analog in Betracht sowie für weitere Schäden aus Amtshaftung, Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGB.7 Man könnte die Auffassung vertreten, die Nichtgewährung von Kitaplätzen stehe der tatsächlichen Nichterfüllung der Betreuungsleistung bei einem Streik gleich. Voraussetzung dafür wäre allerdings, dass sich die Gewährleistungsverantwortung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe aus § 24 SGB VIII nicht nur – wie oben erwähnt – darauf bezieht, Förderplätze durch Dritte oder selbst zur Verfügung zu stellen, sondern diese auch so einzurichten, dass es zu keinen streikbedingten Ausfällen kommt. Eine solche Gewährleistungsverantwortung der Träger der öffentlichen Jugendhilfe besteht allerdings nicht. In Ergänzung zu den gutachterlichen Ausführungen zu den Primäransprüchen aus § 24 SGB VIII8 ist insoweit darauf zu verweisen, dass die Träger der öffentlichen Jugendhilfe streikbedingte Ausfälle nur dann ausschließen könnten, wenn sie die Fördereinrichtungen mit Beamten betrieben. Eine so weit verstandene Gewährleistungsverantwortung liefe aber darauf hinaus, dass die Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Aufgaben aus § 24 SGB VIII nicht an Träger der freien Jugendhilfe übertragen könnten, was angesichts der ausdrücklichen Regelung in § 74 SGB VIII zur Förderung der freien Jugendhilfe vom Gesetzgeber nicht intendiert ist. Somit kommt eine Pflicht der Träger der öffentlichen Jugendhilfe zur Gewährleistung „streikfreier“ Förderplätze nicht in Betracht. Die Reichweite der Gewährleistungsverantwortung bzw. die Beschränkung der Gewährleistungsverantwortung der Träger der öffentlichen Jugendhilfe auf die Bereitstellung von Förderplätzen unabhängig von streikbedingten Ausfällen wirkt sich unmittelbar auf denkbare Schadensersatzansprüche aus. 5 Vgl. (Fn. 1), 3. 6 (Fn. 1), 4 7 BVerwG NJW 2014, 1256 ff. Zur Problematik der Nichtbereitstellung von Förderplätzen siehe auch Pauly/Beutel, DÖV 2013, 445 ff 8 Vgl. (Fn. 1). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 111/15 Seite 5 Nach § 36a Abs. 3 SGB VIII analog ist der Träger der öffentlichen Jugendhilfe verpflichtet, die erforderlichen Aufwendungen für die Selbstbeschaffung der Hilfen – hier der Betreuungsleistungen – durch den Leistungsberechtigten zu übernehmen (sozialrechtlicher Schadensersatzanspruch). Dabei setzt der Schadensersatzanspruch nach § 36a Abs. 3 SGB VIII analog u.a. voraus, dass „die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe vorlagen“ (§ 36a Abs. 3 Nr. 2 SBG VIII). Danach müsste also ein Anspruch auf die den Bedarf deckende Leistung bestanden haben.9 Mit der Bereitstellung eines Kitaplatzes durch den Träger der öffentlichen Jugendhilfe wurde jedoch die Pflicht aus § 24 SGB VIII erfüllt und somit die „Hilfe“ im Sinne des § 36a Abs. 3 SGB VIII gegenüber dem Leistungsberechtigten gewährt. Die Voraussetzungen für die Gewährung von Hilfe lagen also bei Bereitstellung eines Förderplatzes gerade nicht mehr vor, so dass ein Aufwendungsersatz für die Selbstbeschaffung im Streikfall ausscheidet. Voraussetzung für einen Schadensersatzanspruch aus Amtshaftung nach Art. 34 i.V.m. § 839 BGB ist, dass jemand in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht schuldhaft verletzt hat. Die hier denkbare Amtspflicht zur Bereitstellung „streikfreier“ Kitaplätze aus § 24 SGB VIII besteht aber nicht. Vielmehr hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe seine Amtspflicht aus § 24 SGB VIII durch die Bereitstellung der Förderplätze erfüllt, so dass es an einer Amtspflichtverletzung, die Schadensersatzansprüche aus Amtshaftung auslösen könnte, fehlt. Weitere Anspruchsgrundlagen für die Nichtbereitstellung „streikfreier“ Förderplätze sind nicht ersichtlich. 4. Nichterfüllung der Betreuungsleistung Schadensersatzansprüche könnten aber aus der Nichterfüllung der Betreuungsleistung folgen. Soweit die bestreikten Kitas in öffentlicher Trägerschaft liegen, kommen die öffentlichen Träger der Einrichtungen als Anspruchsgegner in Betracht, werden die Einrichtungen in freier Trägerschaft betrieben, wären Ansprüche gegen die Träger der freien Jugendhilfe zu prüfen. Die öffentlichen Träger von Kindertageseinrichtungen können das Benutzungsverhältnis öffentlichrechtlich oder privatrechtlich ausgestalten.10 Entsprechende Schadensersatzsprüche wegen Nichterfüllung der Betreuungsleistung würden sich dann entweder nach öffentlichem oder nach privatem Recht richten. Für Träger der freien Jugendhilfe kommt nur die privatrechtliche Ausgestaltung in Betracht. Bei öffentlich-rechtlicher Ausgestaltung des Benutzungsverhältnisses wären Schadensersatzansprüche aus Amtshaftung (Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGB) sowie aus öffentlich-rechtlichem Schuldverhältnis (§§ 280 ff. BGB analog) zu prüfen. Bei privatrechtlicher Ausgestaltung durch öffentliche Träger oder Träger der freien Jugendhilfe kommen schuldrechtliche Schadensersatzansprüche aus den §§ 280 ff. BGB in Betracht. Gemeinsam ist den genannten Anspruchsgrundlagen, dass sie schuldhafte Pflichtverletzungen der Anspruchsgegner, hier der Träger der öffentlichen oder privaten Jugendhilfe voraussetzen. Je nach Ausgestaltung des Benutzungsverhältnisses wäre zunächst zu prüfen, ob die Nichterfüllung der öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich geschuldeten Betreuungsleistungen überhaupt öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche Pflichtverletzungen 9 Vgl. Stähr, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB VIII (Stand: November 2011), Rn. 33 zu § 36a. 10 Siehe Stähr, in: Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB VIII (Stand: November 2011), Rn. 16 zu § 90. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 111/15 Seite 6 darstellen oder ob insoweit satzungsrechtliche oder vertragliche Ausschlussklauseln greifen, die Pflichtverletzungen bzw. Amtspflichtverletzungen wirksam ausschließen. Eine diesbezügliche abstrakte Prüfung kann hier nicht erfolgen. Unabhängig davon dürfte es aber für die genannten Anspruchsgrundlagen bei Streikmaßnahmen der Erzieher jedenfalls am Verschulden auf Seiten der öffentlichen oder freien Träger der Kindertageseinrichtungen fehlen. Verschulden bedeutet vorsätzliche oder fahrlässige Pflichtverletzung, § 276 BGB. Der zivilrechtliche Verschuldensmaßstab würde gegenüber den öffentlichen Trägern auch bei öffentlich-rechtlicher Ausgestaltung des Benutzungsverhältnisses zum Tragen kommen, denn er ist sowohl im Rahmen eines Amtshaftungsanspruches11 als auch im Rahmen von Ansprüchen aus öffentlich-rechtlichen Schuldverhältnissen (analog) anwendbar.12 Bei privatrechtlicher Ausgestaltung des Benutzungsverhältnisses durch öffentliche Träger sowie gegenüber freien Trägern gilt der zivilrechtliche Verschuldensmaßstab des § 276 BGB unmittelbar. Streikmaßnahmen der Belegschaft sind den Arbeitgebern aber nicht als eigenes Verschulden zurechenbar . Insoweit kann man entweder darauf abstellen, dass den Arbeitgebern ein Nachgeben im Tarifkonflikt nicht zuzumuten ist, da dies eine wesentliche Beeinträchtigung der Tarifautonomie aus Art. 9 Abs. 3 GG darstellen würde.13 Oder man sieht die öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Erfüllungspflichten gegenüber Dritten als durch die Tarifautonomie aus Art. 9 Abs. 3 GG überlagert an mit der Folge, dass aus der zulässigen Grundrechtswahrnehmung keine schuldhaften Pflichtverletzungen folgen können.14 11 Vgl. Grzeszick, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Beck`scher Online-Kommentar GG, Rn. 19.1 zu Art. 34. 12 Siehe Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht mit Verwaltungsprozessrecht (12. Aufl. 2014), Rn. 1265. 13 So Ricken, in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht (3. Aufl. 2009), § 206 Rn. 13. 14 Vgl. Thüsing, Arbeitskampfklauseln, in: Graf von Westphalen/Thüsing (Hrsg.), Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke (Stand: 2014), Rn. 3 m.w.N.