© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 109/20 „Mund-Nasen-Bedeckung“ und Freiheitsrechte Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 109/20 Seite 2 „Mund-Nasen-Bedeckung“ und Freiheitsrechte Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 109/20 Abschluss der Arbeit: 30. April 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 109/20 Seite 3 1. Fragestellung 4 2. Schutzbereich 5 3. Eingriff 8 4. Schranke 10 4.1. Rechtsgrundlage 10 4.1.1. Verordnungsermächtigung 10 4.1.2. Verordnungen 11 4.2. Verhältnismäßigkeit 13 4.2.1. Legitimes Ziel 14 4.2.2. Geeignetheit 14 4.2.3. Erforderlichkeit 18 4.2.4. Angemessenheit 19 4.2.4.1. Grundsatz 19 4.2.4.2. Abwägung Zweck/Mittel 20 4.2.4.3. Befristung und Evaluierung 21 4.2.4.4. Mögliche Ausnahmen 21 4.2.5. Umsetzungsebene 22 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 109/20 Seite 4 1. Fragestellung Die Länder können nach § 32 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) im Wege der Rechtsverordnung „Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten […] erlassen“. Alle Länder haben von dieser Befugnis Gebrauch gemacht (siehe z. B. die „SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung des Landes Berlin“).1 Die Verordnungen verpflichten die Bürger, in bestimmten Fällen eine „Mund-Nasen-Bedeckung“ zu tragen (im Folgenden: Schutzmaskenpflicht). In einzelnen Fällen haben auch Kommunen eine entsprechende Pflicht eingeführt und sich dabei auf Öffnungsklauseln in den Länderverordnungen gestützt.2 Die von den Ländern und Kommunen vorgesehenen Schutzmaskenpflichten erfassen insbesondere den öffentlichen Personennahverkehr, sowie Verkaufsstellen und Handelsgeschäfte. Nachdem Berlin3 als letztes Bundesland am 28. April 2020 die Schutzmaskenpflicht auch im Einzelhandel eingeführt hat, gilt die Pflicht in beiden Lebensbereichen nun flächendeckend für alle Bundesländer.4 So lautet etwa § 3 Abs. 1 CoronaVO des Landes Baden-Württemberg: „[…] Personen ab dem vollendeten sechsten Lebensjahr müssen zum Schutz anderer Personen vor einer Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus 1. im öffentlichen Personennahverkehr, an Bahn- und Bussteigen und 2. in den Verkaufsräumen von Ladengeschäften und allgemein in Einkaufszentren eine nicht-medizinische Alltagsmaske oder eine vergleichbare Mund-Nasen-Bedeckung tragen, wenn dies nicht aus medizinischen Gründen oder aus sonstigen zwingenden Gründen unzumutbar ist oder wenn nicht ein anderweitiger mindestens gleichwertiger baulicher Schutz besteht.“5 1 https://www.berlin.de/corona/massnahmen/verordnung/#headline_1_10; siehe auch die Vereinbarung zwischen Bundesregierung und den Bundesländern „Leitlinien zum Kampf gegen die Corona-Epidemie“, vom 16. März 2020, https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/meseberg/leitlinien-zum-kampf-gegen-die-corona-epidemie -1730942. 2 Siehe z. B. die auf § 15 der Zweiten Thüringer SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung gestützte Allgemeinverfügung der Stadt Jena vom 31. März 2020, https://rathaus.jena.de/sites/default/files/2020-04/unterzeichnete %20Allgemeinverfügung%20vom%2031.03.2020%20mit%20Begründung_0.pdf. 3 Fünfte Verordnung zur Änderung der SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung vom 28. April 2020, https://www.berlin.de/corona/massnahmen/verordnung/#headline_1_9. 4 Morgenpost vom 29. April 2020, Maskenpflicht in Deutschland, https://www.morgenpost.de/vermischtes/article 228815037/Maskenpflicht-In-welchen-Geschaeften-und-wo-ist-Mundschutz-Pflicht.html. 5 https://www.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/dateien/PDF/Coronainfos/200423_CoronaVO_Konsolidierte _Fassung_nach6AendVO_Stand_ab_270420_nurArtikel1.pdf (Hervorhebung durch Autor). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 109/20 Seite 5 Darüber hinaus erfasst insbesondere die Verordnung Nordrhein-Westfalens weitere Lebensbereiche: „Beschäftigte und Kunden sind zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung im Sinne von Absatz 1 Satz 3 verpflichtet 1. in Verkaufsstellen und Handelsgeschäften im Sinne von § 5, auf Wochenmärkten, bei der Abholung von Speisen und Getränken innerhalb von gastronomischen Einrichtungen nach § 9 sowie auf sämtlichen Allgemeinflächen von Einkaufszentren, „Shopping Malls“ [Einkaufszentren], „Factory Outlets“ [Fabrikverkauf] und vergleichbaren Einrichtungen im Sinne von § 10, 2. in sämtlichen Verkaufs- und Ausstellungsräumen von Handwerkern und Dienstleistern sowie bei der Erbringung und Inanspruchnahme von Handwerks- und Dienstleistungen, die ohne Einhaltung eines Sicherheitsabstands von 1,5 m zum Kunden erbracht werden (§ 7 Absatz 3 Satz 2) außer beim Führen eines Fahrzeugs im Straßenverkehr, 3. in Arztpraxen und ähnlichen Einrichtungen des Gesundheitswesens, 4. bei der Nutzung von Beförderungsleistungen des Personenverkehrs sowie seiner Einrichtungen. […].“6 Nach § 1 Abs. 8a, Abs. 7 Satz 1 und 2 Nr. 1, 2, 4 der Verordnung zur Bekämpfung des Corona- Virus des Landes Hessen7 gilt die Mundschutzpflicht dort zudem für Bibliotheken und Archive. Es stellt sich die Frage, ob eine solche Pflicht zum Tragen eines Mundschutzes („Schutzmaskenpflicht “) in Grundrechte eingreift und ob diese Eingriffe gerechtfertigt sind. 2. Schutzbereich Die verschiedenen Aspekte von Schutzmaskenpflichten berühren den Schutzbereich insbesondere der folgenden Grundrechte: – Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG – allgemeines Persönlichkeitsrecht: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht „zielt auf die Abwehr von Beeinträchtigungen der engeren persönlichen Lebenssphäre, der Selbstbestimmung und der Grundbedingungen der Persönlichkeitsentfaltung.“8 Umfasst ist dabei auch das Recht über die Gestaltung der äußeren Erscheinung eigenverantwortlich zu bestimmen.9 6 https://www.land.nrw/sites/default/files/asset/document/stk_verordnung_24.04.2020.pdf. 7 https://www.hessen.de/sites/default/files/media/lesefassung4.coronavo_3.pdf. 8 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 89. EL Oktober 2019, Art. 2 Abs. 1 Rn. 147. 9 Murswiek/Rixen, in: Sachs, Grundgesetz 8. Auflage 2018, Art. 2 Rn. 132. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 109/20 Seite 6 – Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG – körperliche Unversehrtheit: Die körperliche Unversehrtheit erfasst die biologisch-physiologische Gesundheit, die psychisch-seelische Gesundheit und die körperliche Integrität, unabhängig von der Zufügung körperlicher oder seelischer Schmerzen.10 Nicht geschützt ist das bloße Wohlbefinden, insbesondere auch das soziale Wohlbefinden.11 – Art. 4 Abs. 1, 2 GG – Glaubensfreiheit: Das Grundrecht der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit und der Religionsausübung umfasst sowohl die „innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, d. h. einen Glauben zu bekennen, zu verschweigen, sich von dem bisherigen Glauben loszusagen und einem anderen Glauben zuzuwenden“12 als auch die externe Freiheit des „Handelns, des Werbens, der Propaganda“13 und der Ausübung religiöser Gebräuche, wie der Teilnahme an Gottesdiensten.14 – Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GG – Informationsfreiheit: Der Schutzbereich der Informationsfreiheit umfasst die „ungehinderte Unterrichtung aus allgemein zugänglichen Quellen und hat damit das Recht auf Informationsempfang zum Gegenstand“.15 Eine Informationsquelle ist allgemein zugänglich, wenn sie „technisch geeignet und bestimmt ist, der Allgemeinheit, d. h. einem individuell nicht bestimmbaren Personenkreis, Informationen zu verschaffen“16. Neben Massenkommunikationsmitteln wie Presse, Rundfunk, Fernsehen und Film werden auch Ausstellungen, Flugblätter und Bibliotheken erfasst.17 – Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG – Pressefreiheit: Der Schutzbereich umfasst die Wahrnehmung aller wesensmäßig mit der Pressearbeit im Zusammenhang stehenden Tätigkeiten. Dieser Schutz reicht von der Beschaffung der Information bis zur Verbreitung der Nachricht und der Meinung.18 10 Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2013, Art. 2 Abs. 2 Rn. 33 f. 11 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 89. EL Oktober 2019, Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 Rn. 56. 12 BVerfGE 24, 236 (245). 13 BVerfGE 24, 236 (245). 14 Kokott, in: Sachs, Grundgesetz 8. Auflage 2018, Art. 4 Rn. 60. 15 Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 89. EL Oktober 2019, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 996. 16 BVerfGE 27, 71 (83). 17 Wendt, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 6. Auflage 2012, Art. 5 Rn. 23; Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 89. EL Oktober 2019, Art. 5 Abs. 1, Abs. 2 Rn. 1032. 18 Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 89. EL Oktober 2019, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 271. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 109/20 Seite 7 – Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG – Wissenschaftsfreiheit: Wissenschaft ist als Oberbegriff von Forschung und Lehre zu verstehen.19 Bei der Lehre handelt es sich um die Wiedergabe des Erforschten.20 Erfasst wird die universitäre und außeruniversitäre pädagogisch-didaktische Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse in jeglicher Form, wie etwa durch Vorlesungen .21 Die Lehrfreiheit beinhaltet auch die freie Wahl des Ablaufs der Lehrveranstaltung.22 Der Unterricht an allgemeinbildenden Schulen fällt mangels Verbindung zur Forschung nicht in den Schutzbereich der Norm.23 – Art. 8 Abs. 1 GG – Versammlungsfreiheit: Der Begriff der Versammlung erfasst „eine aus zwei oder mehr Personen bestehende Gruppe, die durch das Zusammentreffen einen gemeinsamen Zweck verfolgt, der sie innerlich verbindet“.24 Eine einzelne Person fällt damit nicht in den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit. Als Auffanggrundrecht greift aber die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG. – Art. 12 Abs. 1 GG – Berufsfreiheit: Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts umfasst der Schutzbereich der Berufsfreiheit „jede auf Erwerb gerichtete Tätigkeit […], die auf gewisse Dauer angelegt ist und der Schaffung und Aufrechterhaltung einer Lebensgrundlage dient“.25 Erfasst werden auch Zweitberufe, Nebentätigkeiten, Gelegenheitsarbeiten und Ferienjobs.26 Art. 12 Abs. 1 GG schützt zudem die freie Wahl der Ausbildungsstätte: „Hierzu zählen insbesondere Universitäten und Fachhochschulen […] sowie Berufs- und sonstige berufsbildende Schulen.27 Nicht in den Schutzbereich fallen allgemeinbildende Schulen, weil der unmittelbare Bezug zur späteren Berufstätigkeit fehlt.28 19 Kempen, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition, Stand: 1. Dezember 2019, Art. 5 Rn. 179. 20 Kempen, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition, Stand: 1. Dezember 2019, Art. 5 Rn. 183. 21 Kempen, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition, Stand: 1. Dezember 2019, Art. 5 Rn. 183. 22 Kempen, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition, Stand: 1. Dezember 2019, Art. 5 Rn. 183. 23 Kempen, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition, Stand: 1. Dezember 2019, Art. 5 Rn. 183. 24 Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2013, Art. 8 Rn. 24. 25 BVerfGE 102, 197 (212). 26 Manssen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 12 Rn. 38. 27 Manssen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 12 Rn. 61. 28 Manssen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 12 Rn. 62. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 109/20 Seite 8 – Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG – Eigentum: Der Eigentumsschutz im Bereich des Privatrechts betrifft grundsätzlich „alle vermögenswerten Rechte, die dem Berechtigten von der Rechtsordnung in der Weise zugeordnet sind, dass er die damit verbundenen Befugnisse nach eigenverantwortlicher Entscheidung zu seinem privaten Nutzen ausüben darf.“29 Das Vermögen unterfällt jedoch nicht dem Eigentumsbegriff.30 – Art. 2 Abs. 1 – Allgemeine Handlungsfreiheit: Das Recht der Allgemeinen Handlungsfreiheit ist im Verhältnis zu den anderen Grundrechten als „Auffangrecht“31 konzipiert. Es schützt „jede Form menschlichen Handelns ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht der Betätigung für die Persönlichkeitsentfaltung zukommt“.32 Auch banale Tätigkeiten und alltägliche Verhaltensweisen genießen Grundrechtsschutz.33 3. Eingriff Grundsätzlich greifen Schutzmaskenpflichten in den Schutzbereich der Freiheitsrechte wohl insbesondere wie folgt ein: – Allgemeines Persönlichkeitsrecht: Die Pflicht, einen Mundschutz zu tragen kann das Recht, das äußere Erscheinungsbild selbstbestimmt zu gestalten, beeinträchtigen.34 – Körperliche Unversehrtheit: Das Tragen eines Mundschutzes stellt jedenfalls dann eine Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit dar, wenn es sich auf die Gesundheit auswirkt, beispielsweise durch Verursachung von Atemschwierigkeiten, Hervorrufen allergischer Reaktionen oder gar durch unsachgemäße Anwendung und eine dadurch hervorgerufene Anreicherung der Viren.35 Bei nur geringfügigen Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit durch rein äußerliche Maßnahmen (z. B. die bloße Beeinträchtigung des sozialen Wohlbefindens) liegt nach überwiegender Meinung kein Eingriff vor.36 29 BVerfGE 83, 201 (209); 101, 239 (258); 112, 93 (107). 30 So das BVerfG, siehe Axer, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition Stand: 1. Dezember 2019, Art. 14 Rn. 55 mit Nachweisen zur Rechtsprechung. 31 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 89. EL Oktober 2019, Art. 2 Abs. 1 Rn. 15. 32 BVerfG, Beschluss vom 6. Juni 1989, 1 BvR 921/85, BeckRS 9998, 164952. 33 Dreier, in: Dreier Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2013, Art. 2 Abs. 1 Rn. 26. 34 Im Kontext der Haarlänge eines Polizeibeamten: BVerwG, Urteil vom 2. März 2006, 2 C 3/05, BVerwGE 125, 85-95, Rn. 15. 35 Deutschlandfunk vom 27. April 2020, Pflicht für nicht funktionierende Masken ist ein Armutszeugnis, https://www.deutschlandfunk.de/weltaerztepraesident-montgomery-pflicht-fuer-nicht.694.de.html?dram:article _id=475525. 36 Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage, Art. 2 Abs. 2 Rn. 49. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 109/20 Seite 9 – Glaubensfreiheit: Das Tragen eines Mundschutzes kann einen Eingriff in die Glaubensfreiheit darstellen, sofern eine Religion oder Weltanschauung Gesichtsverhüllungen verbietet. – Versammlungsfreiheit: Der Grundrechtschutz aus Art. 8 GG wird wohl verkürzt, wenn eine Versammlung nur unter bestimmten Auflagen (z. B. Tragen eines Mundschutzes) stattfinden kann. Ein Eingriff liegt auch bei lediglich beschränkenden Maßnahmen vor.37 – Berufsfreiheit: Ein Eingriff ist gegeben, wenn die Maßnahme die Wahl oder Ausübung eines Berufes einschränkt oder unmöglich macht. Die Maßnahme muss sich entweder unmittelbar auf die Berufstätigkeit beziehen oder zumindest eine objektiv berufsregelnde Tendenz haben. Es genügt daher nicht, dass eine Rechtsnorm oder ihre Anwendung nur unter bestimmten Umständen Rückwirkungen auf die Berufstätigkeit entfaltet.38 Die Pflicht einen Mundschutz zu tragen, kann jedenfalls dann einen Eingriff darstellen, wenn sich die Pflicht auf einen bestimmten Beruf (wie Altenpfleger oder Koch) bezieht. – Allgemeine Handlungsfreiheit: Das Gebot einen Mundschutz bei Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs oder auch bei Betreten eines Geschäftes o. Ä. zu tragen, stellt einen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit dar. Eher kein Eingriff dürfte hingegen in Bezug auf folgende Freiheitsrechte vorliegen: – Eigentum: Ein Eingriff in die Eigentumsfreiheit liegt nicht darin, dass das Vermögen durch den notwendigen Erwerb eines Mundschutzes oder den Erwerb von Materialen zur Herstellung beeinträchtigt wird. Das Vermögen als solches unterfällt nicht dem Schutzbereich des Art. 14 GG. – Pressefreiheit: Auch mittelbare und mittelbar-faktische Eingriffe sind relevant.39 So dürfte die Pressefreiheit schon dadurch betroffen sein, dass Journalisten und Informanten bei Gesprächen gegebenenfalls einen Mundschutz tragen müssen und somit die Mimik des Gegenübers zu Zwecken der Glaubwürdigkeit nicht nachvollziehen können. Allerdings dürften sich aus räumlich beschränkten Schutzmaskenpflichten (z. B. Einzelhandel, Personennahverkehr ) keine für journalistische Tätigkeiten relevanten Eingriffe ergeben. – Informationsfreiheit: Da der Schutzbereich die Informationsbeschaffung als solche umfasst, stellt das Gebot bei dieser Beschaffung gegebenenfalls einen Mundschutz zu tragen, keinen Eingriff dar. Das Tragen einer Maske verhindert oder beeinträchtigt die Unterrichtung selbst wohl noch nicht. Ein Eingriff könnte aber darin gesehen werden, dass der Informationsbeschaffung eine Hürde entgegensteht, da zuvor eine Maske beschafft werden muss. 37 Vgl. Depenheuer, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 89. EL Oktober 2019, Art. 8 Rn. 124 f. 38 BVerfGE 95, 267 (302); 113, 29 (48). 39 Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 89. EL Oktober 2019, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 386 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 109/20 Seite 10 – Wissenschaftsfreiheit: Ähnliches dürfte für die Wissenschaftsfreiheit gelten. Der Schutzbereich umfasst zwar auch die Wiedergabe der wissenschaftlichen Erkenntnisse in frei wählbarer Form. Allein die Pflicht zum Tragen eines Mundschutzes hindert jedoch nicht daran etwa in Form einer Vorlesung zu lehren. 4. Schranke 4.1. Rechtsgrundlage 4.1.1. Verordnungsermächtigung In vorgenannte Grundrechte kann nur „durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes“ oder durch „allgemeine Gesetze“ eingegriffen werden (vgl. nur Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2, Art. 5 Abs. 2, Art. 8 Abs. 2, Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG). Die bisherige Rechtsprechung hat die alte Fassung des § 28 Abs. 1 IfSG als ausreichende Rechtsgrundlage für Allgemeinverfügungen zum Infektionsschutz angesehen.40 Dies gilt auch für Verordnungen nach § 32 IfSG i.V.m. § 28 Abs. 1 IfSG. Der Bundestag hat am 25. März 2020 Änderungen des Infektionsschutzgesetzes beschlossen.41 Die Änderungen des § 28 IfSG sind am Tag nach der Verkündung in Kraft getreten, mithin am 28. März 2020.42 Die Änderungen bieten weitere Anhaltspunkte dafür, dass § 28 Abs. 1 IfSG grundsätzlich eine gesetzliche Grundlage für notwendige Schutzmaßnahmen bietet.43 Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG schreibt vor, dass bei Erlass einer Rechtsverordnung „Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetze bestimmt werden“ müssen. Das Bundesverfassungsgericht prüft diese Voraussetzung insbesondere anhand folgender drei Kriterien:44 – Selbstentscheidungsformel: Der Gesetzgeber muss selbst die Entscheidung treffen, „dass bestimmte Fragen geregelt werden sollen, […] muss die Grenzen einer solchen Regelung festsetzen und [muss] angeben, welchem Ziel die Regelung dienen soll“.45 40 Näher hierzu: Wissenschaftliche Dienste, WD 3 - 3000 - 086/20, Ausgangsbeschränkungen gemäß § 28 Infektionsschutzgesetz . 41 BT-Drs. 19/18111, Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite. 42 Gesetz vom 27. März 2020, Bundesgesetzblatt Teil I 2020 Nr. 14 vom 27. März 2020, S. 587. 43 Näher hierzu: Wissenschaftliche Dienste, WD 3 - 3000 - 086/20, Ausgangsbeschränkungen gemäß § 28 Infektionsschutzgesetz . 44 Hierzu ausführlich Bauer, in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2015, Art. 80 Rn. 32 mit weiteren Nachweisen zur Rechtsprechung. 45 BVerfGE 2, 307 (334). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 109/20 Seite 11 – Programmformel: Aus dem Gesetz muss sich ermitteln lassen, „welches vom Gesetzgeber gesetzte ‚Programm‘ durch die Verordnung erreicht werden soll“.46 – Vorhersehbarkeitsformel: Es fehlt an der nach Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG notwendigen Beschränkung , „wenn die Ermächtigung so unbestimmt ist, dass nicht mehr vorausgesehen werden kann, in welchen Fällen und mit welcher Tendenz von ihr Gebrauch gemacht werden wird und welchen Inhalt die auf Grund der Ermächtigung erlassenen Verordnungen haben können“.47 Dabei sind Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung unter Heranziehung der allgemeinen Auslegungsgrundsätze aus dem ganzen Gesetz zu ermitteln. Insgesamt müsse „von Fall zu Fall“ entschieden werden. Es sei dem Gesetzgeber nicht verwehrt, Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe in der Ermächtigungsnorm zu verwenden. Die Bestimmtheitsanforderungen sind „von den Besonderheiten des jeweiligen Regelungsgegenstandes sowie der Intensität der Maßnahme abhängig […]. Geringere Anforderungen sind vor allem bei vielgestaltigen Sachverhalten zu stellen […] oder wenn zu erwarten ist, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse alsbald ändern werden […]. Greift die Regelung erheblich in die Rechtsstellung des Betroffenen ein, so müssen höhere Anforderungen an den Bestimmtheitsgrad der Ermächtigung gestellt werden, als wenn es sich um einen Regelungsbereich handelt, der die Grundrechtsausübung weniger tangiert.“48 Im Folgenden wird unterstellt, dass § 28 IfSG unter vorgenannten Voraussetzungen den Verordnungsgeber grundsätzlich ermächtigt, Schutzmaskenpflichten vorzusehen. In diesem Zusammenhang wäre wohl insbesondere § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 IfSG von Gewicht: Die zuständige Behörde „kann insbesondere Personen verpflichten, [...] von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten.“ Das Tragen einer Schutzmaske ließe sich als solche Bedingung ansehen. 4.1.2. Verordnungen Die Verordnungen müssten formell ordnungsgemäß zustande gekommen sein und das Zitiergebot (Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG) einhalten. Die Verordnungen müssten ferner dem Bestimmtheitsgebot entsprechen. Dieses Gebot folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG. Hiernach muss staatliches Handeln messbar und in gewissem Ausmaße für den Bürger voraussehbar und berechenbar sowie gerichtlich kontrollierbar sein.49 Es erscheint zweifelhaft, ob die Verordnungen 46 BVerfGE 5, 71 (77). 47 BVerfGE 1, 14 (60). 48 BVerfGE 58, 257 (277 f.) – Hervorhebung durch Autor. 49 Huster/Rux, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition Stand: 1. Dezember 2019, Art. 20 Rn. 182 mit Nachweisen zur Rechtsprechung. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 109/20 Seite 12 diesen Anforderungen durchgehend genügen. Die Problematik lässt sich an folgenden Beispielen illustrieren: – Wann ist die Schutzmaske zu tragen? Umfasst z. B. die „Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs “50 auch den Aufenthalt auf einem Bahnsteig im Freien oder die Zugangsbereiche (Unterführung, Treppen)?51 Muss ein Taxipassagier nur dann eine Schutzmaske tragen, wenn die Taxifahrt öffentlichen Personennahverkehr „ersetzt, ergänzt oder verdichtet“ (§ 8 Abs. 2 Personenbeförderungsgesetz)? – Was ist eine „Mund-Nasen-Bedeckung“?52 Fallen z. B. unter Begriffe wie „nicht-medizinische Alltagsmaske oder eine vergleichbare Mund-Nasen-Bedeckung“53 oder „Mund-Nasen-Bedeckung (zum Beispiel Alltagsmaske, Schal, Tuch)“54 auch Faschings- oder Sportmasken? Ist als Material eine Textilie erforderlich oder sind andere Filtermaterialien wie Kaffeefilter zulässig? Wie feinporig muss eine Textilie ggf. sein? Wie eng muss die Bedeckung anliegen – genügt auch ein über den Kopf gestülpter, auf den Schultern aufliegender Folienkubus?55 Eine detaillierte und weit gefasste Definition findet sich hingegen in § 5 Abs. 3 der Bremer Verordnung: „Eine Mund-Nasen-Bedeckung ist eine textile Barriere, die aufgrund ihrer Beschaffenheit geeignet ist, eine Ausbreitung von übertragungsfähigen Tröpfchenpartikeln durch Husten, Niesen und Aussprache zu verringern, unabhängig von einer Kennzeichnung oder zertifizierten Schutzkategorie; geeignet sind auch Schals, Tücher, Buffs [Markenname eines Schlauchtuchs für Nacken und Unterkopf], aus Baumwolle oder anderem geeigneten Material selbst hergestellte Masken oder Ähnliches.“56 Schließt diese Definition die u. a. in 50 So § 2 Abs. 3 Satz 1 der Berliner Eindämmungsverordnung. 51 Siehe demgegenüber § 1 Abs. 6 Dritte Verordnung (Hessen) zur Bekämpfung des Corona-Virus vom 14. März 2020: „In den Fahrzeugen des öffentlichen Personennahverkehrs ist eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen“ (Hervorhebung durch Autor); § 3 Abs. 1 CoronaVO des Landes Baden-Württemberg: „im öffentlichen Personennahverkehr , an Bahn- und Bussteigen“. 52 So der Begriff in § 2 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 und 3 der Zweiten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 21. April 2020. 53 § 3 Abs. 1 CoronaVO des Landes Baden-Württemberg. 54 § 3 Abs. 2 Nr. 1 Verordnung der Landesregierung zum Schutz gegen das neuartige Coronavirus in Mecklenburg- Vorpommern (Corona-Schutz-Verordnung MV– Corona-SV MV), https://www.regierung-mv.de/static/Regierungsportal /Ministerium%20f%C3%BCr%20Wirtschaft%2c%20Arbeit%20und%20Gesundheit/Dateien/Downloads /GVOBl.%20Nr.%2017%20vom%2017.4.2020%20-%20corona.pdf. 55 Siehe hierzu außerhalb der Verordnung die Hinweise des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege unter „Fragen zum Mund-Nasen-Schutz“: „Der Stoff für Alltags-Masken sollte möglichst dicht sein und aus 100 Prozent Baumwolle bestehen. Andere Materialien wie zum Beispiel Staubsaugerbeutel und Karton sind für die Erstellung von Alltags-Masken nicht geeignet“, https://www.stmgp.bayern.de/coronavirus/haeufig-gestellte -fragen/#MundNasenSchutz. 56 Zweite Verordnung zur Änderung der Verordnung zum Schutz vor Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS- CoV-2 vom 24. April 2020, https://www.gesetzblatt.bremen.de/fastmedia/832/2020_04_24_GBl_Nr_0028_signed.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 109/20 Seite 13 Apotheken erhältlichen einfachen Schutzmasken aus Zellstoff aus (nicht „textil“, da nicht aus verspinnbarem Material hergestellt)? – Wer muss die Schutzmaske tragen? So heißt es z. B. in § 5 Abs. 8 der Berliner Verordnung: „Ab dem 4. Mai 2020 dürfen Friseurbetriebe ihre Dienstleistungen erbringen. [...] Textile Mund-Nasen-Bedeckung ist zu tragen.“ Unklar ist, ob nur der „Dienstleistungserbringer“ die Bedeckung tragen muss, oder auch der Kunde. Dies ergibt sich letztlich nur aus der separaten Bußgeldverordnung („Adressat des Bußgeldbescheids: Beschäftigte, Kunden und Kundinnen“). – Welche Ausnahmen gelten? Wann ist eine Maske aus „medizinischen Gründen unzumutbar“ und auf welche Weise hat ein diesbezüglicher Nachweis zu erfolgen? Ist die Ausnahme „Menschen, die wegen einer Behinderung keine Mund-Nasen-Bedeckung tragen können“57 auch auf Fälle gesundheitlicher Beeinträchtigung anwendbar? Problematisch dürfte auch sein, wie Nicht-Virologen beurteilen sollen, ob „durch andere Vorrichtungen die Verringerung der Ausbreitung übertragungsfähiger Tröpfchenpartikel bewirkt“58 werden kann, wenn sich hierüber auch Mediziner nicht einig sind. Kann eine Person die Maske anheben, um – wie empfohlen – in die Armbeuge zu niesen? Im Zweifel muss sich der Verordnungsgeber an den verschärften Anforderungen des Bestimmtheitsgebots des Art. 103 Abs. 2 GG messen lassen, wenn er die Schutzmaskenpflicht als Ordnungswidrigkeit sanktioniert.59 Der Gesetzgeber hat hiernach „die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Anwendungsbereich und Tragweite der Straftatbestände sich aus dem Wortlaut ergeben oder jedenfalls durch Auslegung ermitteln lassen“.60 4.2. Verhältnismäßigkeit Ein Eingriff in Grundrechte muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Dies setzt voraus, dass der Eingriff ein legitimes Ziel in geeigneter, erforderlicher und angemessener Weise verfolgt. 57 § 3 Abs. 2 Nr. 1 Verordnung der Landesregierung zum Schutz gegen das neuartige Coronavirus in Mecklenburg- Vorpommern. 58 § 2 Abs. 3 Satz 2 der Berliner Eindämmungsverordnung in der Fassung vom 28. April 2020. 59 Zur Anwendbarkeit des Art. 103 Abs. 2 GG auf Ordnungswidrigkeiten siehe BVerfGE 38, 348 (371); zum Beispiel einer Ordnungswidrigkeit bei Verstößen gegen die Schutzmaskenpflicht siehe nur den Bußgeldkatalog des Landes Berlin, https://www.berlin.de/corona/massnahmen/verordnung/bussgeldkatalog/#headline_1_4: „Verstoß gegen Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes“. 60 BVerfGE 92, 1 (12). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 109/20 Seite 14 4.2.1. Legitimes Ziel Der „Schutz der Gesundheit der Bevölkerung und insbesondere eine Verhinderung der Überlastung des Gesundheitssystems“ sind ein legitimes Ziel für Grundrechtseingriffe:61 „Die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung dient einem legitimen Zweck. Die Maßnahmen im Zusammenhang mit der Bekämpfung der sogenannten Corona-Pandemie dienen dem Lebens- und Gesundheitsschutz, insbesondere der Schaffung ausreichender Behandlungskapazitäten aller Erkrankten durch Vermeidung von Überlastungs- und Engpasssituationen […]. Wie sich aus den öffentlichen Erklärungen der Antragsgegnerin ergibt, soll gerade auch durch die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung die Gefahr einer Ansteckung mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 verhindert werden […].“62 4.2.2. Geeignetheit Die Eingriffe müssten die Erreichung dieser Zwecke zumindest fördern. Dem Gesetzgeber wird diesbezüglich ein weiter Prognosespielraum zugestanden. Von einem „weiten Spielraum“ geht auch das VG Hamburg in seinem Beschluss vom 27. April 2020 aus: „Nach dieser Maßgabe ist hier mit Blick auf die mit Ungewissheiten behaftete Lage von einem weiten Spielraum auszugehen, den die Antragsgegnerin in nicht zu beanstandender Weise ausgefüllt haben dürfte.“63 Nicht in Betracht kommen nur solche Mittel, die zur Erreichung des Zweckes „objektiv untauglich “64, „objektiv ungeeignet“65 oder „schlechthin ungeeignet“66 sind. Dabei kann die Frage nach der Zwecktauglichkeit eines Gesetzes „nicht nach der tatsächlichen späteren Entwicklung, sondern nur danach beurteilt werden, ob der Gesetzgeber aus seiner Sicht davon ausgehen durfte, dass 61 So auch VG Bremen, Beschluss vom 26. März 2020, 5 V 553/20, juris, Rn. 43, zum „bezweckten Erfolg“ der „SARS- CoV-2-Eindämmungsverordnung“ (Hervorhebung durch Autor); siehe auch Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 30. März 2020, 20 NE 20.632, juris, Rn. 34: „Verhinderung weiterer Infektionsfälle“ und „Gewährleistung einer möglichst umfassenden medizinischen Versorgung von Personen“ als „legitimes Ziel“. 62 VG Hamburg, 10 E 1784/20, Beschluss vom 27. April 2020, https://justiz.hamburg.de/contentblob /13885086/74b4abfcd13c12aae3082788e851ad73/data/erfolgloser-eilantrag-gegen-die-die-aus-der-coronaverordnung -folgende-verpflichtung-zum-tragen-einer-mund-nasen-bedeckung.pdf (Hervorhebung durch Autor). 63 VG Hamburg, 10 E 1784/20, Beschluss vom 27. April 2020, https://justiz.hamburg.de/contentblob /13885086/74b4abfcd13c12aae3082788e851ad73/data/erfolgloser-eilantrag-gegen-die-die-aus-der-coronaverordnung -folgende-verpflichtung-zum-tragen-einer-mund-nasen-bedeckung.pdf (Hervorhebung durch Autor). 64 BVerfGE 16, 147 (181). 65 BVerfGE 19, 119 (127). 66 BVerfGE 17, 306 (317). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 109/20 Seite 15 die Maßnahmen zur Erreichung des gesetzten Ziels geeignet waren, ob also seine Prognose bei der Beurteilung wirtschaftspolitischer Zusammenhänge sachgerecht und vertretbar war.“67 Das „Corona-Virus“ soll sich vor allem durch infektiöse Tröpfchen übertragen, die man z. B. beim Sprechen, Husten oder Niesen ausstößt. Ein hoher Anteil von Übertragungen erfolgt dabei unbemerkt , noch vor dem Auftreten von Krankheitssymptomen. Die unbemerkte Ausscheidung des Virus kann „in diesen Fällen weder durch eine Verhaltensänderung (wie eine Selbstquarantäne) noch durch eine frühzeitige Testung erkannt werden, da der Beginn der Infektiosität unbekannt ist.“68 Aus diesem Grund empfehlen unter anderem das Robert Koch-Institut, das amerikanische Public- Health-Institut und das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten das Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen im öffentlichen Raum als zusätzlichen Baustein, um die Ausbreitungsgeschwindigkeit von COVID-19 in der Bevölkerung zu reduzieren:69 „Das Risiko, eine andere Person durch Husten, Niesen oder Sprechen anzustecken, kann so verringert werden (Fremdschutz).“70 Insbesondere dort, wo ein Abstand von 1,5 Metern zueinander nicht gewährleistet werden kann (z. B. im öffentlichen Nahverkehr), könnten die Maßnahmen zur Reduktion von Übertragungen führen, wenn sich möglichst viele Personen daran beteiligen.71 Wissenschaftlich belegt ist die Schutzwirkung von einfachen Mund-Nasen-Bedeckungen bisher nicht. Die Filterwirkung von einfachen Mund-Nasen-Bedeckungen auf Tröpfchen und Aerosole haben nur wenige Studien untersucht. Im Vergleich zum medizinisch geprüften Mund-Nasen-Schutz 67 BVerfGE 30, 250 (263) – Hervorhebung durch Autor. 68 Robert Koch-Institut „Mund-Nasen-Bedeckung im öffentlichen Raum als weitere Komponente zur Reduktion der Übertragungen von COVID-19“, Epid Bull 19/2020, 14. April 2020, https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Epid Bull/Archiv/2020/Ausgaben/19_20_MNB.pdf?__blob=publicationFile, mit weiteren Nachweisen zu den anderen genannten Instituten. 69 Robert Koch-Institut „Mund-Nasen-Bedeckung im öffentlichen Raum als weitere Komponente zur Reduktion der Übertragungen von COVID-19“, Epid Bull 19/2020, 14. April 2020, https://www.rki.de/DE/Content/Infekt /EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/19_20_MNB.pdf?__blob=publicationFile. 70 Robert Koch-Institut „Ist das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung in der Öffentlichkeit zum Schutz vor SARS- CoV-2 sinnvoll?“, 18. April 2020, https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/FAQ_Mund_Nasen _Schutz.html (Hervorhebung durch Autor). 71 Robert Koch-Institut „Mund-Nasen-Bedeckung im öffentlichen Raum als weitere Komponente zur Reduktion der Übertragungen von COVID-19“, Epid Bull 19/2020, 14. April 2020, https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Epid Bull/Archiv/2020/Ausgaben/19_20_MNB.pdf?__blob=publicationFile. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 109/20 Seite 16 war diese Filterwirkung geringer.72 Dennoch erscheint die Schutzwirkung dem Robert Koch-Institut „plausibel“.73 Demgegenüber zweifelt der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, die Geeignetheit von medizinisch nicht geprüften Mund-Nasen-Bedeckungen an. Er argumentiert, Schal oder Tuch hielten Viren nicht ab. Bei unsachgemäßer Anwendung könnten sich Viren darin sogar anreichern.74 Ferner äußert Montgomery die Sorge, „Leute würden sich durch eine Maske zu sicher fühlen“.75 Trotz bestehender Einwände dürften hinreichende Anhaltspunkte bestehen, innerhalb des Prognosespielraums das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung als geeignet anzusehen. Insbesondere könnte trotz aller Einwände hierfür auch sprechen, dass entsprechende Verpflichtungen ein erhöhtes „Bewusstsein für ‚physical distancing‘ und gesundheitsbewusstes Verhalten unterstützen“76. Für die Geeignetheit der Schutzmaskenpflicht hat sich das Verwaltungsgericht Hamburg in einem am 27. April 2020 gefassten Beschluss ausgesprochen: „Die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung ist zumindest geeignet, diesen Zweck zu fördern. Nicht notwendig ist der Nachweis, dass der angegebene Zweck durch das eingesetzte Mittel vollständig erreicht wird; es genügt, dass das Mittel die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass der angestrebte Erfolg zumindest teilweise eintritt […].“77 Im Übrigen hat das Amtsgericht Brandenburg zu der Frage der persönlichen Anhörung eines Betroffenen bei der Bestellung eines Betreuers Folgendes erwogen: 72 Robert Koch-Institut „Mund-Nasen-Bedeckung im öffentlichen Raum als weitere Komponente zur Reduktion der Übertragungen von COVID-19“, Epid Bull 19/2020, 14. April 2020, https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Epid Bull/Archiv/2020/Ausgaben/19_20_MNB.pdf?__blob=publicationFile. 73 Robert Koch-Institut „Ist das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung in der Öffentlichkeit zum Schutz vor SARS- CoV-2 sinnvoll?“, 18. April 2020, https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/FAQ_Mund_Nasen _Schutz.html (Hervorhebung durch Autor). 74 Morgenpost vom 27. April 2020, Coronavirus: Ärztepräsident fordert FFP2-Masken für Bürger, https://www.morgenpost.de/vermischtes/article228967407/Coronavirus-News-Ticker-RKI-Fallzahlen-Deutschland -Aktuelle-Zahlen-Trump-Merkel-Soforthilfen-Schule-Maskenpflicht-Italien.html. 75 Deutschlandfunk vom 27. April 2020, Pflicht für nicht funktionierende Masken ist ein Armutszeugnis, https://www.deutschlandfunk.de/weltaerztepraesident-montgomery-pflicht-fuer-nicht.694.de.html?dram:article _id=475525; so auch Ärztepräsident Klaus Reinhardt, FAZ vom 26. April 2020, „Masken erzeugen falsche Sicherheit“, https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/aerztepraesident-reinhardt-masken-erzeugen-falschesicherheit -16742139.html. 76 Unter Verweis auf Aussage des Robert Koch-Instituts: https://www.tagesschau.de/inland/schutzmasken-coronavirus -103.html. 77 VG Hamburg, 10 E 1784/20, Beschluss vom 27. April 2020, https://justiz.hamburg.de/contentblob /13885086/74b4abfcd13c12aae3082788e851ad73/data/erfolgloser-eilantrag-gegen-die-die-aus-der-coronaverordnung -folgende-verpflichtung-zum-tragen-einer-mund-nasen-bedeckung.pdf (Hervorhebung durch Autor). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 109/20 Seite 17 „Zwar verkennt das Gericht nicht, dass gegebenenfalls auch durch geeignete andere Maßnahmen das Infektionsrisiko so verringert werden könnte, dass eine Anhörung auf anderem als dem üblichen Wege stattfinden kann und muss. Infolge der aktuell überhaupt nicht einmal vorhandenen basalen Sicherungsmaßnahmen durch einen ausreichenden Mundschutz, Schutzbrille, Schutzkleidung etc. pp. bestehen diese Möglichkeiten derzeitig jedoch nicht.“78 Das Verwaltungsgericht Schwerin hat für eine Versammlung folgende Auflage formuliert und damit die Geeignetheit dieser Maßnahme implizit anerkannt: „Die Teilnehmer haben während der Veranstaltung einen Mund-Nasenschutz zu tragen.“79 In einer weiteren Eilentscheidung geht das Verwaltungsgericht Neustadt (Weinstraße) implizit davon aus, dass nur zertifizierte Schutzmasken geeignet sind. Allerdings bezieht sich diese Äußerung nur auf einen „Infektionsausschluss“, nicht auf eine Risikoverringerung: „Zwar schreibt beispielsweise die Stadt Jena inzwischen einen ‚Mund-Nasen-Schutz‘ für den Aufenthalt in bestimmten öffentlichen Bereichen vor [...]. Mit diesen Maßnahmen ist jedoch keinesfalls ein Infektionsausschluss zu erreichen. Denn es ist derzeit nicht möglich, überaus knappe Schutzmasken einer zertifizierten Schutzkategorie zur faktisch erfüllbaren Auflage zu machen.“80 Einen Sonderfall stellen Kinder dar. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte rät aus entwicklungspsychologischer Sicht, dass Kinder die Mund-Nasen-Bedeckung erst ab dem Grundschulalter tragen sollten. Vorher sei das Risiko groß, dass die Masken als Spielzeuge betrachtet würden und durch Herumhantieren die Infektionsgefahr verstärkt würde.81 Vor diesem Hintergrund haben die meisten Länder eine Schutzmaskenpflicht erst ab dem Grundschulalter festgesetzt.82 In 78 AG Brandenburg, Beschluss vom 6. April 2020, 85 XVII 69/20, BeckRS 2020, 5098, Rn. 22 (Hervorhebung durch Autor). 79 VG Schwerin, Beschluss vom 11. April 2020, 15 B 486/20 SN, BeckRS 2020, 5959 (Hervorhebung durch Autor). 80 VG Neustadt (Weinstraße), Beschluss vom 2. April 2020, 5 L 333/20.NW, BeckRS 2020, 5133, Rn. 42 (Hervorhebung durch Autor). 81 BVKJ vom 24. April 2020, Kinder- und Jugendärzte: Maskenpflicht für kleine Kinder kontraproduktiv, https://www.kinderaerzte-im-netz.de/news-archiv/meldung/article/kinder-und-jugendaerzte-maskenpflichtfuer -kleine-kinder-kontraproduktiv/. 82 Z. B. § 12a Abs. 2 Satz 2 „Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2“, https://www.land.nrw/sites/default/files/asset/document/stk_verordnung_24.04.2020.pdf; § 3 Abs. 4 „Verordnung zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 in der Freien und Hansestadt Hamburg“, https://www.hamburg.de/verordnung/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 109/20 Seite 18 Berlin besteht dagegen keine Altersbeschränkung.83 Insgesamt dürfte auch hier noch ein Einschätzungsspielraum in Betracht kommen. 4.2.3. Erforderlichkeit Auch bei der Frage nach gleich wirksamen, aber weniger einschneidenden Maßnahmen, steht dem Verordnungsgeber nach der Rechtsprechung ein Einschätzungsspielraum zu: „Für die Beurteilung der Geeignetheit und Erforderlichkeit der angeordneten Maßnahmen dürfte dem Verordnungsgeber grundsätzlich ein Einschätzungsspielraum zuzubilligen sein“.84 Als milderes Mittel käme die bloße Empfehlung zum Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen in Betracht. Eine solche Empfehlung bestand bereits vor Einführung der Schutzmaskenpflicht. Dennoch hat ein großer Teil der Bevölkerung auf eine derartige Bedeckung verzichtet.85 Da die Schutzwirkung der Mund-Nasen-Bedeckung umso höher ist, je mehr Menschen von ihr Gebrauch machen, ist die bloße Empfehlung nicht gleich wirksam. Eine Immunisierung nach einer Infektion mit Covid-19 ist nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) derzeit nicht erwiesen. Es gebe „aktuell keinen Beweis, dass Menschen, die sich von Covid-19 erholt haben und die Antikörper haben, vor einer zweiten Infektion geschützt sind“.86 Daher besteht nach derzeitigen Erkenntnissen wohl kein milderes Mittel darin, die Pflicht nur auf noch nicht Erkrankte zu beschränken. Bezüglich der Maskenpflicht im öffentlichen Personennahverkehr könnte es ein milderes Mittel sein, mehr Verkehrsmittel einzusetzen. Unabhängig von dem hierdurch verursachten Mehraufwand, wäre eine solche Maßnahme nicht gleich wirksam. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich Menschen näher als 1,5 Meter kommen, würde sich verringern, wäre aber angesichts der engen Türen und Gänge in Bussen und Straßenbahnen nicht ausgeschlossen. Im Einzelhandel oder bei Dienstleistungen käme als milderes Mittel in Betracht, das Risiko einer Tröpfcheninfektion von Personen statt durch Schutzmasken durch bauliche Maßnahmen entsprechend zu verringern. Dies könnte z. B. eine Plexiglasabtrennung zwischen (einzelnen) Kunden und Verkäufern sein. In diesem Zusammenhang ist die Ausnahme von der Schutzmaskenpflicht in 83 § 2 Abs. 3 „SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahenverordnung des Landes Berlin“, https://www.berlin .de/corona/massnahmen/verordnung/: „Bei der Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs ist ab dem 27. April 2020 eine textile Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen.“ 84 OVG Berlin-Brandenburg 11. Senat, 23. März 2020, 11 S 12/20, BeckRS 2020, 4408, Rn. 8 (Hervorhebung durch Autor). 85 Siehe Umfrageergebnis vom 31. März 2020, „Debatte um Mundschutz-Pflicht: Nur jeder zwanzigste Verbraucher hat bereits eine Maske gekauft“, https://pepper.pr.co/187508-debatte-um-mundschutz-pflicht-nur-jeder-zwanzigste -verbraucher-verfugt-uber-masken: „Knapp jeder Dritte (30,57 Prozent) gab an, er halte Masken für ‚unnötig‘“. 86 25. April 2020, https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/who-kein-beweis-fuer-immunitaet -nach-coronavirus-infektion-16741756.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 109/20 Seite 19 Baden-Württemberg zu nennen („wenn nicht ein anderweitiger mindestens gleichwertiger baulicher Schutz besteht“).87 Das Verwaltungsgericht Hamburg spricht im Rahmen der Erforderlichkeit zudem das Tragen einer FFP-Maske88 an (FFP: filtering face piece): „Die Maßnahme ist auch erforderlich; mildere und gleich geeignete Mittel sind nicht ersichtlich. Insbesondere wäre zwar möglicherweise das Tragen von FFP-Masken wirkungsvoller; im Hinblick auf einen begrenzten Bestand sollen diese aber vorrangig dem medizinisch-pflegerischen Bereich vorbehalten bleiben.“89 Darüber hinaus handelt es sich bei dieser Maßnahme schon nicht um ein milderes Mittel. 4.2.4. Angemessenheit 4.2.4.1. Grundsatz Die Angemessenheit ist gewahrt, wenn der Grundrechtseingriff nicht außer Verhältnis zum verfolgten Zweck steht.90 Für die betroffenen Grundrechte gelten dabei unterschiedliche Abwägungsmaßstäbe . Diese ergeben sich ausdrücklich aus dem Grundgesetz oder aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. So ist z. B. eine Berufsausübungsregel nur zulässig, wenn sie aufgrund „vernünftiger Allgemeinwohlerwägungen“91 zweckmäßig erscheint. Diese Unterschiede können letztlich dahingestellt bleiben, da die Schutzmaskenpflicht Leben und Gesundheit der Bevölkerung, und damit höchste Rechtsgüter92, schützen soll. 87 https://www.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/dateien/PDF/Coronainfos/200423_CoronaVO_Konsolidierte _Fassung_nach6AendVO_Stand_ab_270420_nurArtikel1.pdf. 88 Siehe zu der FFP-Klassifikation die europäische Norm EN149:2001 sowie die Richtlinie 89/686/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für persönliche Schutzausrüstungen ; https://www.bfarm.de/SharedDocs/Risikoinformationen/Medizinprodukte/DE/schutzmasken.html. 89 VG Hamburg, 10 E 1784/20, Beschluss vom 27. April 2020, https://justiz.hamburg.de/contentblob /13885086/74b4abfcd13c12aae3082788e851ad73/data/erfolgloser-eilantrag-gegen-die-die-aus-der-coronaverordnung -folgende-verpflichtung-zum-tragen-einer-mund-nasen-bedeckung.pdf. 90 BVerfGE 50, 217 (227); 80, 103 (107); 99, 202 (212 f.). 91 Ruffert, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition, Stand: 1. Dezember 2019, Art. 12 Rn. 94. 92 BVerfGE 39, 1 (42): „Das menschliche Leben stellt, wie nicht näher begründet werden muss, innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar; es ist die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte.“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 109/20 Seite 20 4.2.4.2. Abwägung Zweck/Mittel Die Schutzmaskenpflicht dient den höchsten Rechtsgütern Leben und Gesundheit der Bevölkerung. Demgegenüber wiegen deren Eingriffe im Allgemeinen weniger schwer. So sahen es auch die Verwaltungsgerichte in den bisher im einstweiligen Verfahren ergangenen Entscheidungen: Das Verwaltungsgericht Gera lehnte den Antrag eines Bürgers gegen die in Jena geltende Allgemeinverfügung vom 31. März 202093 ab: „Das befristete Tragen des Mund-Nasen-Schutzes wiegt nicht so schwer wie die möglichen Gefahren, die noch immer von einer weiteren dynamischen Verbreitung des hoch ansteckenden Sars-CoV-2-Virus für das Gesundheitssystem und die Gesundheit der Bevölkerung ausgehen.“94 Auch das Verwaltungsgericht Hamburg lehnte einen Antrag gegen die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung nach § 8 Abs. 5 Satz 1, 2 der Hamburger Eindämmungsverordnung95 ab. Es hielt den Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Antragsstellers für angemessen: „Die Maßnahme ist zuletzt auch angemessen. Dabei ist auf Seiten der Adressaten wie den Antragstellern zu berücksichtigen, dass sich die Maßnahme nicht als schwerwiegender Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht darstellt. Zwar gehört das äußere Erscheinungsbild zur geschützten Privatsphäre. Zu beachten ist aber, dass das Verbot einerseits einen zeitlich eng begrenzten Geltungsbereich hat und andererseits in räumlicher Hinsicht auf wenige öffentliche Orte beschränkt ist. Damit wird entgegen der Annahme der Antragsteller auch der Wesensgehalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nicht angetastet, Art. 19 Abs. 2 GG. Demgegenüber handelt es sich bei den Schutzgütern der Maßnahme um hochrangige Rechtsgüter. Die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems als wesentlicher Bestandteil der Daseinsvorsorge dient mittelbar der Gesundheit der Gesamtbevölkerung. Dabei entspringt ein möglichst weitgehender Gesundheits- und Lebensschutz auch einer staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (BVerfG, Beschl. v. 7.4.2020, 1 BvR 755/20, juris Rn. 11). In diesem Zusammenhang ist ferner zu berücksichtigen, dass die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung nicht isoliert steht, sondern einen Baustein für Lockerungen der zuvor in ihrer Gesamtheit deutlich eingriffsintensiveren Beschränkungen von Freiheitsrechten darstellt.“96 93 Siehe oben Fn. 2. 94 Redaktion beck-aktuell, Verlag C.H.BECK, 6. April 2020, becklink 2015971, Verwaltungsgericht Gera (Hervorhebung durch Autor). 95 § 8 Abs. 5 Satz 1, 2 „Verordnung zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 in der Freien und Hansestadt Hamburg vom 2. April 2020, in der ab dem 27. April 2020 gültigen Fassung“, https://www.hamburg .de/rechtsverordnungen/13876036/2020-04-24-rechtsverordnung/. 96 VG Hamburg, 10 E 1784/20, Beschluss vom 27. April 2020, https://justiz.hamburg.de/contentblob /13885086/74b4abfcd13c12aae3082788e851ad73/data/erfolgloser-eilantrag-gegen-die-die-aus-der-coronaverordnung -folgende-verpflichtung-zum-tragen-einer-mund-nasen-bedeckung.pdf (Hervorhebung durch Autor). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 109/20 Seite 21 4.2.4.3. Befristung und Evaluierung Für die Angemessenheit spricht neben der Befristung97 der Maßnahmen eine fortlaufende Evaluierung ihrer Notwendigkeit: – „Allerdings müsse die Stadt fortlaufend überprüfen, ob das Tragen von Gesichtsmasken wirksam und geeignet sei, die Infektion einzudämmen.“98 – „Zu beachten ist aber, dass das Verbot einerseits einen zeitlich eng begrenzten Geltungsbereich hat und andererseits in räumlicher Hinsicht auf wenige öffentliche Orte beschränkt ist.“99 4.2.4.4. Mögliche Ausnahmen Teile der Bevölkerung kann eine Schutzmaskenpflicht stärker beeinträchtigen. Die Zweck-Mittel- Abwägung kann hier zu anderen Ergebnissen kommen. Dies betrifft insbesondere folgende Fälle: Eine erhöhte Gefahr besteht für Menschen mit Atembeschwerden/Allergien. Das Robert Koch- Institut empfiehlt Personen zu berücksichtigen, die aufgrund von Vorerkrankungen den höheren Atemwiderstand beim Tragen von Masken nicht tolerieren können.100 Daher nehmen einige Länder Personen, für die das Tragen einer Maske aus medizinischen Gründen unzumutbar ist, von der Verpflichtung aus. Eine entsprechende Ausnahme findet sich in der Berliner Verordnung beispielsweise nicht. Auch bei Personen mit Demenz oder einer Behinderung besteht das Risiko, dass der Mundschutz selbst zu einer Gefahr wird. Auch für diese Personengruppen sehen die Verordnungen daher teilweise Ausnahmen vor. So nimmt zum Beispiel Baden-Württemberg Personen, für die die Verpflichtung aus „sonstigen zwingenden Gründen unzumutbar“101 ist, von der Regelung aus. Besonders betroffen von der Schutzmaskenpflicht sind Hörgeschädigte, die im Gespräch mit Menschen auf Lippenbewegungen angewiesen sind. Selbst Gebärdensprache ist durch Schutzmasken 97 Siehe z. B. § 25 „SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung des Landes Berlin“, https://www.berlin .de/corona/massnahmen/verordnung/. 98 Redaktion beck-aktuell, Verlag C.H.BECK, 6. April 2020, becklink 2015971, Verwaltungsgericht Gera (Hervorhebung durch Autor). 99 VG Hamburg, 10 E 1784/20, Beschluss vom 27. April 2020, https://justiz.hamburg.de/contentblob /13885086/74b4abfcd13c12aae3082788e851ad73/data/erfolgloser-eilantrag-gegen-die-die-aus-der-coronaverordnung -folgende-verpflichtung-zum-tragen-einer-mund-nasen-bedeckung.pdf (Hervorhebung durch Autor). 100 Robert Koch-Institut „Mund-Nasen-Bedeckung im öffentlichen Raum als weitere Komponente zur Reduktion der Übertragungen von COVID-19“, Epid Bull 19/2020, 14. April 2020, https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Epid Bull/Archiv/2020/Ausgaben/19_20_MNB.pdf?__blob=publicationFile. 101 § 3 Abs. 1 „Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-Cov-2“, https://www.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/dateien/PDF/Coronainfos /200423_CoronaVO_Konsolidierte_Fassung_nach6AendVO_Stand_ab_270420_nurArtikel1.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 109/20 Seite 22 beeinträchtigt, da es für eine Gebärde oft mehrere Bedeutungen gibt, die sich erst durch Lippenbewegungen erschließen.102 Letztlich müsste auf Schutzmasken insgesamt verzichtet werden, um Hörgeschädigten das Lesen von Lippenbewegungen (auch außerhalb von Gebärdensprache) zu ermöglichen (oder alle Masken müssten ein eingenähtes Sichtfeld im Mundbereich haben).103 Insoweit dürfte derzeit der Schutz von Leben und Gesundheit die in bestimmten Bereichen auftretenden Kommunikationsschwierigkeiten überwiegen. 4.2.5. Umsetzungsebene Neben der Ebene der Regelung ist auch, wenn nicht sogar vor allem, der Verhältnismäßigkeit bei der Umsetzung der Eindämmungsverordnungen durch die Vollzugsbehörden Rechnung zu tragen. Dies ist eine Frage der Anwendung im Einzelfall, auch bezüglich etwaiger Sanktionen. *** 102 FAZ vom 23. April 2020, Mit einer Maske verstehe ich einfach gar nichts, https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft /gesundheit/coronavirus/masken-machen-kommunikation-fuer-hoergeschaedigte-unmoeglich-16736920.html. 103 NDR vom 24. April 2020, Maskenpflicht ist für Gehörlose großes Problem, www.ndr.de/nachrichten/info/Maskenpflicht -ist-fuer-Gehoerlose-grosses-Problem,gehoerlosecorona100.html.