© 2019 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 109/19 Ausländische Minderjährige in Deutschland Fragen zur Identifizierung, statistischen Erfassung und zu Vermisstenmeldungen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 109/19 Seite 2 Ausländische Minderjährige in Deutschland Fragen zur Identifizierung, statistischen Erfassung und zu Vermisstenmeldungen Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 109/19 Abschluss der Arbeit: 6. September 2019 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 109/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Identifizierung von ausländischen Minderjährigen 4 2.1. Aufenthaltsrechtliche Bestimmungen zu Registrierung und Identitätsfeststellung 4 2.1.1. Minderjährige Asylsuchende 4 2.1.2. Sonstige ausländische Minderjährige 4 2.1.3. Änderungen durch das Zweite Datenaustauschverbesserungsgesetz 5 2.1.4. Speicherung der Daten im Ausländerzentralregister 5 2.2. Besondere Bestimmungen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und Ausländer 5 2.2.1. Verfahren der vorläufigen Inobhutnahme 5 2.2.2. Registrierung und Identitätsfeststellung 6 2.2.3. Altersfeststellung 6 3. Statistische Erfassung unbegleiteter Minderjähriger 7 3.1. Statistische Daten der Kinder- und Jugendhilfe 7 3.2. Zahl der Asylanträge von unbegleiteten Minderjährigen 8 4. Zahl der in Deutschland vermissten ausländischen Minderjährigen 9 5. Rechtlicher Rahmen für die Meldung ausländischer Minderjähriger als vermisst 11 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 109/19 Seite 4 1. Einleitung Der Sachstand beschäftigt sich mit Fragen zu ausländischen Minderjährigen in Deutschland. Zunächst wird ein Überblick über die Identifizierung von minderjährigen Ausländern und Flüchtlingen (2.) und die statistische Erfassung von unbegleiteten Minderjährigen gegeben (3.) Anschließend wird auf die Zahl der in Deutschland vermissten ausländischen Minderjährigen (4.) sowie rechtliche Verpflichtungen zur Vermisstenmeldung eingegangen (5.). 2. Identifizierung von ausländischen Minderjährigen Im Rahmen der Registrierung und Identitätsfeststellung von ausländischen Personen ohne Aufenthaltstitel erfolgt auch eine Alterseinschätzung, sodass Minderjährige identifiziert und im Falle ihrer unbegleiteten Einreise erforderliche Schutzmaßnahmen ergriffen werden können (siehe dazu 2.2.). Im Folgenden soll ein allgemeiner Überblick über den Registrierungs- und Identifizierungsprozess gegeben und auf Besonderheiten bezüglich unbegleiteter Minderjähriger eingegangen werden. 2.1. Aufenthaltsrechtliche Bestimmungen zu Registrierung und Identitätsfeststellung Hinsichtlich der für die Registrierung und Identitätsfeststellung relevanten Regelungen ist grundsätzlich zwischen Asylsuchenden (2.1.1.) und sonstigen unerlaubt eingereisten bzw. illegal in Deutschland aufhältigen Ausländern (2.1.2.) aus Drittstaaten zu unterscheiden, auch wenn die Bestimmungen inhaltlich im Wesentlichen vergleichbar sind. 2.1.1. Minderjährige Asylsuchende Gemäß § 16 Abs. 2 Asylgesetz (AsylG) sind die Grenzbehörden, Polizeibehörden, Ausländerbehörden , Aufnahmeeinrichtungen sowie das BAMF für die Sicherung und Feststellung der Identität von Asylsuchenden zuständig. Seit 2016 werden auch unbegleitet einreisende, minderjährige Flüchtlinge einheitlich beim Erstkontakt mit einer zur Registrierung befugten Stelle registriert.1 Zur Identitätssicherung eines Asylsuchenden sind gemäß § 16 Abs. 1 S. 1 und 2 AsylG grundsätzlich die Aufnahme von Lichtbildern und Abdrücke aller zehn Finger als erkennungsdienstliche Maßnahmen zulässig. Soweit ein Ausländer das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, dürfen allerdings nur Lichtbilder zur Identitätssicherung aufgenommen werden (§ 16 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 AsylG). Das Lichtbild ist zudem für die Ausstellung eines Ankunftsnachweises nach § 63a AsylG als „zentrales Identifizierungsmerkmal“ erforderlich.2 Die Fingerabdrücke von jugendlichen Asylsuchenden über 14 Jahren werden – ebenso wie die von Volljährigen – zentral im EURODAC- System in Luxemburg gespeichert.3 2.1.2. Sonstige ausländische Minderjährige Bei ausländischen Minderjährigen, die keinen Asylantrag stellen wollen, richtet sich die Identitätsfeststellung nach dem Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Ähnlich dem Verfahren nach dem AsylG 1 BT-Drs. 18/11540, S. 58. 2 Winkelmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, AufenthG § 49 Rn. 18. 3 Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, AsylG § 16 Rn. 5. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 109/19 Seite 5 bestimmt § 49 Abs. 9 S. 1 und 2 AufenthG, dass die Identitätssicherung eines Ausländers ohne Aufenthaltstitel durch die Aufnahme von Lichtbildern und Fingerabdrücken erfolgt. Gemäß § 49 Abs. 9 S. 3 AufenthG dürfen bei einem Ausländer unter 14 Jahren nur ein Lichtbild, nicht aber die Fingerabdrücke aufgenommen werden. 2.1.3. Änderungen durch das Zweite Datenaustauschverbesserungsgesetz Das soeben im Bundesgesetzblatt verkündete „Zweite Datenaustauschverbesserungsgesetz“4 (2. DAVG) sieht vor, dass das Mindestalter für die Abnahme von Fingerabdrücken ab dem 1. April 2021 sowohl im AufenthG als auch im AsylG auf den Zeitpunkt der Vollendung des sechsten Lebensjahres herabgesetzt wird. Dies dient nach der Begründung des Regierungsentwurfes vor allem dazu, das Kindeswohl zu schützen, um eine eindeutige Identifizierung von Kindern zu gewährleisten und etwaigen Straftaten zu Lasten des Kindes entgegenzuwirken.5 2.1.4. Speicherung der Daten im Ausländerzentralregister Im Ausländerzentralregister (AZR) werden gemäß § 3 Abs. 1 und 2 Ausländerzentralregistergesetz (AZRG) insbesondere die Grundpersonalien (Name, Geschlecht, Geburtsdatum und Geburtsort, Staatsangehörigkeit etc., § 3 Abs. 1 Nr. 4 AZRG), das Lichtbild (§ 3 Abs. 1 Nr. 5a AZRG) und – soweit diese erhoben werden dürfen auch – die Fingerabdruckdaten (§ 3 Abs. 2 Nr. 1 AZRG) der nach AsylG bzw. AufenthG identifizierten Personen gespeichert. Bei minderjährigen Ausländern, deren unbegleitete Einreise nach Deutschland festgestellt wird, wird gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 9 AZRG zusätzlich das Jugendamt der vorläufigen Inobhutnahme (siehe dazu 2.2.1.) und das endgültig zuständige Jugendamt vermerkt. 2.2. Besondere Bestimmungen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und Ausländer Reisen ausländische Minderjährige unbegleitet nach Deutschland ein, richtet sich ihre vorläufige Inobhutnahme durch das Jugendamt nach § 42a SGB VIII (2.2.1). Das AufenthG, AsylG und das SGB VIII enthalten auch besondere Regelungen zur Registrierung und Identitätsfeststellung (2.2.2.) sowie zur Altersfeststellung (2.2.3.). 2.2.1. Verfahren der vorläufigen Inobhutnahme § 42a Abs. 1 S. 1 SGB VIII berechtigt und verpflichtet das Jugendamt, ein ausländisches Kind oder einen ausländischen Jugendlichen vorläufig in Obhut zu nehmen, sobald dessen unbegleitete Einreise nach Deutschland festgestellt wird. Dabei ist in Zweifelsfällen zunächst die Minderjährigkeit der betreffenden Person anzunehmen; bis zur endgültigen Klärung des Alters sind Schutzmaßnahmen zu treffen.6 Für die vorläufige Inobhutnahme durch das Jugendamt nach § 42a SGB VIII ist es unerheblich, ob die Einreise rechtmäßig erfolgt ist oder ob der Minderjährige einen 4 Zweites Gesetz zur Verbesserung der Registrierung und des Datenaustausches zu aufenthalts- und asylrechtlichen Zwecken vom 4. August 2019, BGBl. I, S. 1131. 5 BT-Drs. 19/8752, S. 68. 6 Bayerischer VGH, Beschluss vom 23. September 2014, Az. 12 CE 14.1833, juris Rz. 23. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 109/19 Seite 6 Asylantrag stellt; die Regelung gilt ausweislich des Wortlauts für alle minderjährigen unbegleiteten Ausländer.7 Reist der Minderjährige nicht über einen offiziellen Grenzübertritt, sondern über eine nicht kontrollierte Binnengrenze oder irregulär ein, wird seine Einreise formlos festgestellt, sobald er sich bei einer Grenzbehörde, Polizeibehörde, Ausländerbehörde, einem Jugendamt oder einer Aufnahmeeinrichtung meldet, bzw. wenn er von der Polizei aufgegriffen wird.8 Während der vorläufigen Inobhutnahme wird die Entscheidung nach § 42b SGB VIII über eine Verteilung des Minderjährigen auf ein nach § 42c SGB VIII zu bestimmendes Bundesland getroffen. Im Falle einer Verteilung geht die Verpflichtung zur Inobhutnahme auf das danach zuständige Jugendamt über. Erfolgt keine Verteilung, endet die vorläufige Inobhutnahme entweder mit der Übergabe des Kindes oder des Jugendlichen an die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten oder mit der endgültigen Zuständigkeit eines Jugendamtes für die reguläre Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII. 2.2.2. Registrierung und Identitätsfeststellung Die durch das 2. DAVG neugefassten § 49 Absatz 8 und 9, § 71 Abs. 4 S. 4 Hs. 1 AufenthG berechtigen die Aufnahmeeinrichtungen oder Außenstellen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, unbegleitete ausländische Minderjährige im Wege der Amtshilfe bereits zeitnah zu ihrer Einreise – und damit vor der Stellung eines Asylantrags durch die Notvertretung des Jugendamts oder den Vormund – zu registrieren. Die erkennungsdienstlichen Maßnahmen sind im Beisein des zuständigen Jugendamtes auf kindgerechte Weise durchzuführen, § 71 Abs. 4 S. 4 Hs. 2 AufenthG. Zudem sind die für die vorläufige Inobhutnahme von unbegleitet eingereisten ausländischen Minderjährigen zuständigen Jugendämter nunmehr gemäß § 42a Absatz 3a SGB VIII gesetzlich verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die unbegleitet eingereisten ausländischen Minderjährigen bei Zweifeln an der Identität unverzüglich durch eine der zur Registrierung befugten Behörden erkennungsdienstlich behandelt werden. 2.2.3. Altersfeststellung § 42f Abs. 1 S. 1 SGB VIII bestimmt, dass das Jugendamt im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme einer ausländischen Person deren Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in deren Ausweispapiere festzustellen oder hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen und festzustellen hat.9 Auf Antrag des Betroffenen oder seines Vertreters oder von Amts wegen hat das 7 Kirchhoff, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Auflage 2018, § 42a Rn 42; vgl. auch die Auslegungshilfe des BMFSFJ zur Umsetzung des Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher, 14. April 2016, abrufbar unter: https://www.bmfsfj.de/blob/90270/e64c1982c8a82c431259af630a7b15b4/faq-auslegungshilfe-gesetz-unterbringung -auslaendische-kinder-jugendliche-data.pdf (zuletzt abgerufen am 5. September 2019). 8 Bohnert, in: Hauck/Noftz, SGB VIII, Januar 2018, § 42a Rn. 18. 9 Nähere Informationen zur Altersbestimmung enthält der Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages zum Thema: Gesetzliche Grundlagen einer Untersuchung zur Altersbestimmung, WD 3 - 3000 - 008/18, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/548280/5f36f880fae08cc390bc263536b0007d/WD-3- 008-18-pdf-data.pdf (zuletzt abgerufen am 5. September 2019). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 109/19 Seite 7 Jugendamt in Zweifelsfällen eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu veranlassen (§ 42f Abs. 2 S. 1 SGB VIII), wobei die Untersuchung nur mit Einwilligung der betroffenen Person und ihres Vertreters durchgeführt werden darf (§ 42f Abs. 2 S. 3 Hs. 2 SGB VIII). Die betroffene Person ist durch das Jugendamt umfassend über die Untersuchungsmethode und über die möglichen Folgen der Altersbestimmung aufzuklären (§ 42f Abs. 2 S. 2 SGB VIII). Bei einer ärztlichen Untersuchung von Amts wegen ist die betroffene Person zusätzlich über die Folgen einer Weigerung, sich der ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, aufzuklären (§ 42f Abs. 2 S. 3 Hs. 1 SGB VIII). 3. Statistische Erfassung unbegleiteter Minderjähriger Im Ausländerzentralregister wird das Merkmal „unbegleitete Einreise“ nicht gesondert erfasst.10 Allerdings können die Statistiken zu Inobhutnahmen und Asylantragstellungen Hinweise auf die Anzahl der unbegleiteten Minderjährigen liefern. 3.1. Statistische Daten der Kinder- und Jugendhilfe Die Bundesregierung berichtet gegenüber dem Deutschen Bundestag seit 2015 jährlich über die Situation unbegleiteter ausländischer Minderjähriger in Deutschland, § 42e SGB VIII, und wertet dafür insbesondere die Daten der Kinder- und Jugendhilfe zu unbegleiteten Minderjährigen aus. Im Jahr 2017 gab es danach in Deutschland insgesamt 22.492 Inobhutnahmen unbegleiteter minderjähriger Asylsuchender und sonstiger Ausländer.11 Diese Zahl umfasst 11.101 vorläufige Inobhutnahmen nach § 42a SGB VIII sowie 11.391 (endgültige bzw. reguläre) Inobhutnahmen nach § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII. Diese betrafen nach Auskunft des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) 1.403 Kinder (0 – 13 Jahre) und 21.098 Jugendliche (14 – 17 Jahre). Der Bericht für das Jahr 2018 liegt noch nicht vor. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes kam es 2018 nur noch zu 12.201 Inobhutnahmen unbegleiteter Minderjähriger nach §§ 42a bzw. 42 SGB VIII; darunter waren 945 Kinder (0 – 13 Jahre) und 11 256 Jugendliche (14 – 17 Jahre).12 Aus der Summe aller Inobhutnahmen lassen sich jedoch nur beschränkt Rückschlüsse auf die tatsächliche Anzahl der unbegleiteten Minderjährigen in Deutschland ziehen. Zum einen werden viele der nach § 42a SGB VIII vorläufig in Obhut genommenen Kinder und Jugendlichen später längerfristig nach § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII untergebracht (vgl. § 42b SGB VIII) und tauchen auf diese Weise in beiden – in der o.g. Summe addierten – Fallzahlen auf.13 Darüber hinaus werden 10 BT-Drs. 19/4517, S. 90. 11 BT-Drs. 19/4517, S. 13. 12 Statistisches Bundesamt (Destatis), Pressemitteilung Nr. 308 vom 16. August 2019, abrufbar unter: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2019/08/PD19_308_225.html#fussnote-2-367110 (zuletzt abgerufen am 5. September 2019). 13 Vgl. auch Statistisches Bundesamt (Destatis), Pressemitteilung Nr. 308 vom 16. August 2019, (Fn. 12), Anmerkung 2. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 109/19 Seite 8 in den Fallzahlen Mehrfachregistrierungen und nachträgliche Feststellung der Volljährigkeit nicht mehr korrigiert.14 Die Bundesregierung teilte in ihrem Bericht zum Jahr 2017 jedoch ebenfalls mit, dass sich zum Stichtag 2. Januar 2018 insgesamt 29.171 unbegleitete Minderjährige in Zuständigkeit der Kinderund Jugendhilfe befanden.15 3.2. Zahl der Asylanträge von unbegleiteten Minderjährigen Im Jahr 2017 stellten 89.207 Minderjährige Asylanträge, von denen 9.084 unbegleitet waren (ca. 10,2 %). Nach Auskunft des BMFSJ verteilten sich die Anträge der unbegleiteten Minderjährigen wie folgt auf die verschiedenen Altersgruppen: Altersgruppe Anzahl der Asylantragstellungen unbegleiteter Minderjähriger (2017) 0 – 5 Jahre: 98 6 – 10 Jahre: 172 10 – 15 Jahre: 1.475 16 – 17 Jahre: 7.339 Insgesamt: 9.084 2018 sank die Anzahl der Asylanträge Minderjähriger insgesamt auf 78.298, die der unbegleiteten auf 4.050 (ca. 5,2 %). Altersgruppe Anzahl der Asylantragstellungen unbegleiteter Minderjähriger (2018) 0 – 5 Jahre: 74 6 – 10 Jahre: 137 10 – 15 Jahre: 716 16 – 17 Jahre: 3.123 Insgesamt: 4.050 Im Zeitraum Januar 2019 bis Juli 2019 haben bisher 42.604 Minderjährige Asylanträge gestellt.16 Zahlen dazu, wie viele davon unbegleitet waren bzw. sind, liegen nicht vor. 14 Trenczek, Düring und Neumann-Witt, Inobhutnahme, 3. Auflage 2017, S. 90. 15 BT-Drs. 19/4517, S. 9. 16 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Aktuelle Zahlen zu Asyl, Juli 2019, S. 8, abrufbar unter: http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Statistik/Asyl/aktuelle-zahlen-zu-asyl-juli- 2019.pdf;jsessionid=74D84D537FB7C76DA62689FCCC02BC16.1_cid359?__blob=publicationFile (zuletzt abgerufen am 5. September 2019). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 109/19 Seite 9 4. Zahl der in Deutschland vermissten ausländischen Minderjährigen Das AZR beinhaltet keine Eintragungen zu Vermisstenmeldungen. Indizien für die Anzahl der in Deutschland vermissten ausländischen Minderjährigen können nur mittels einer Auswertung der allgemeinen Statistik zu in Deutschland vermissten Personen gewonnen werden. Meldungen zu vermissten Personen und unbekannten Toten werden in der beim Bundeskriminalamt (BKA) als Zentralstelle geführten Verbunddatei „Vermisste und unbekannte Tote“ („VermiUTot- Statistik“) erfasst. Die Zahlen beruhen auf den Fahndungsausschreibungen im polizeilichen Informationssystem INPOL sowie Zulieferungen der Bundesländer. Bis zum Februar 2018 wurden die Fahndungsdaten nur einmal täglich in die Vermisstendatei importiert, folglich wurden nur solche Meldungen registriert, die über 24 Uhr hinaus zur Fahndung ausgeschrieben waren. Seither findet alle 4 Stunden ein Datenimport statt, sodass nun auch kürzeres Verschwinden in der Statistik erfasst wird. Als vermisst gelten Personen für die Polizei, wenn sie ihren gewohnten Lebenskreis verlassen haben, ihr derzeitiger Aufenthalt unbekannt ist und eine Gefahr für Leib oder Leben angenommen werden kann.17 Für Minderjährige wird eine Gefahr für Leib und Leben bereits durch ihr Verschwinden angenommen, da diese ihren Aufenthaltsort nicht frei wählen dürfen.18 Neben dem Alter der vermissten Personen erfasst die Datei auch, ob es sich um „unbegleitete Flüchtlingskinder“ handelt. Zu beachten ist dabei, dass es bisher keine bundeseinheitliche Definition dieses Merkmals für die Kennzeichnung in der VermiUTot-Statistik gibt. Welche Fälle konkret von dieser Kategorie erfasst sind, lässt sich auch im Nachhinein nicht mehr abschließend klären, da die Eintragungen durch die jeweils zuständigen Stellen vorgenommen werden und nicht zentral durch das BKA. Begleitete minderjährige Flüchtlinge werden nicht als solche gesondert erfasst, sodass zu deren Verschwinden auch keine gesonderte statistische Auswertung möglich ist. Nach Auskunft des BKA sind im Jahr 2017 6.212 Vermisstenmeldungen zu unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in der VermiUTot-Verbunddatei registriert worden.19 Davon haben sich 5.848 erledigt, sodass es in diesem Zeitraum 364 ungeklärte Fälle gibt. Altersgruppe Anzahl der Vermisstenmeldungen (2017) Kinder (0 – 13 Jahre) insgesamt: 292 Davon 0 – 5 Jahre: 15 Davon 6 – 9 Jahre: 15 Davon 9 – 13 Jahre: 262 Jugendliche (14 – 17 Jahre: 5.920 Insgesamt: 6.212 17 https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Ermittlungsunterstuetzung/BearbeitungVermisstenfaelle/bearbeitung- Vermisstenfaelle.html?nn=30666#doc19618bodyText3 (zuletzt abgerufen am 5. September 2019). 18 https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Ermittlungsunterstuetzung/BearbeitungVermisstenfaelle/bearbeitung- Vermisstenfaelle.html?nn=30666#doc19618bodyText3 (zuletzt abgerufen am 5. September 2019). 19 Die folgenden Zahlen des BKA haben einen Stand vom 31. Mai 2019. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 109/19 Seite 10 2018 gab es 3.969 Vermisstenmeldungen mit dem Eintrag unbegleitetes Flüchtlingskind. 3.534 Fälle davon haben sich erledigt, sodass 435 Fälle aus diesem Zeitraum noch ungeklärt sind. Altersgruppe Anzahl der Vermisstenmeldungen (2018) Kinder (0 – 13 Jahre) insgesamt: 149 Davon 0 – 5 Jahre: 3 Davon 6 – 9 Jahre: 6 Davon 9 – 13 Jahre: 140 Jugendliche (14 – 17 Jahre: 3.820 Insgesamt: 3.969 Für das Jahr 2019 sind bisher nur Zahlen für den Zeitraum 1. Januar 2019 bis 31. Mai 2019 veröffentlicht . Das BKA teilte mit, dass in diesem Zeitraum insgesamt 1.048 Vermisstenmeldungen bezüglich unbegleiteter Flüchtlingskinder registriert wurden, von denen sich bereits 754 erledigt haben. Offen sind folglich aus diesem Zeitraum noch 294 Fälle. Altersgruppe Anzahl der Vermisstenmeldungen (1. Quartal 2019) Kinder (0 – 13 Jahre) insgesamt: 57 Davon 0 – 5 Jahre: 0 Davon 6 – 9 Jahre: 2 Davon 9 – 13 Jahre: 55 Jugendliche (14 – 17 Jahre): 991 Insgesamt: 1.048 Aus den genannten Zahlen lässt sich keine belastbare Aussage dazu treffen, wie viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Deutschland derzeit tatsächlich vermisst werden. Zum einen handelt es sich bei den vom BKA genannten Zahlen ausdrücklich allein um die Vermisstenmeldungen im jeweiligen Zeitraum. Dabei variiert nicht nur die Praxis dazu, zu welchem Zeitpunkt das Vermissen gemeldet wird, sondern auch, wie die Länder Meldungen an die Vermisstendatei weiterleiten (stichtagsgenau oder Meldungen zum Zeitpunkt der Datenabfrage).20 Auch das Wiederauftauchen von Vermissten wird häufig nicht einheitlich gemeldet, sodass die Zahlen zu den Erledigungen nicht abschließend sein können. Zusätzlich werden die Zahlen durch die Möglichkeit der Mehrfacherfassung minderjähriger Flüchtlinge, insbesondere aufgrund unterschiedlicher Schreibweisen des Namens und fehlender Ausweispapiere, verfälscht.21 20 BT-Drs. 19/4517, S. 90. 21 BT-Drs. 19/4517, S. 90; vgl. auch https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Ermittlungsunterstuetzung/Bearbeitung Vermisstenfaelle/bearbeitungVermisstenfaelle.html?nn=30666#doc19618bodyText3 (zuletzt abgerufen am 5. September 2019). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 109/19 Seite 11 5. Rechtlicher Rahmen für die Meldung ausländischer Minderjähriger als vermisst Es gibt keine spezielle bundesgesetzliche Regelung zum Vorgehen bei Vermisstenfällen von minderjährigen Ausländern. Es sind auch keine bundes- oder landesrechtlichen Normen ersichtlich, die einer bestimmten Institution die Pflicht auferlegen, das Verschwinden bei der Polizei zu melden. Hierfür gelten vielmehr die allgemeinen Bestimmungen. Die Pflicht, der Polizei das Verschwinden zu melden, kann sich aus der allgemeinen Fürsorgepflicht der zuständigen Jugendämter für das Wohl der Kinder und Jugendlichen nach (vorläufiger) Inobhutnahme aus § 1 Abs. 3 Nr. 3, § 42 Abs. 2 S. 3, § 42a Abs. 3 S. 1 SGB VIII ergeben. Diese umfasst Teilbereiche der Personensorge,22 die neben der Erziehung und Aufenthaltsbestimmung auch die Beaufsichtigung der Minderjährigen beinhaltet.23 Die Aufsichtspflicht umfasst wiederum die Pflicht, den Minderjährigen vor Selbstgefährdungen und Gefährdungen durch Dritte zu schützen.24 Die Jugendämter sind daher bei Verschwinden des Minderjährigen verpflichtet, alle Maßnahmen zu ergreifen um diesen wiederzufinden, also gegebenenfalls auch die Polizei zu alarmieren.25 Werden Sorgepflichten gröblich verletzt und kommt es dadurch zu einer konkreten Gefahr einer erheblichen Schädigung, können sich Mitarbeiter des Jugendamtes sogar nach § 171 StGB strafbar machen.26 Unterstehen Minderjährige der Obhut Privater (insbesondere freier Träger) sind diese regelmäßig durch die vertragliche Vereinbarung mit dem Jugendamt zur Aufsicht und damit zur Fürsorge im konkreten Fall verpflichtet. Weder die Bestellung eines Vormundes27 noch die Übertragung von Aufsichtspflichten an freie Träger28 können jedoch das Jugendamt gänzlich von seinen Fürsorgepflichten befreien. Als Anhaltspunkt für das Verfahren nach Verschwinden eines minderjährigen Ausländers dienen die (nicht verpflichtenden) Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen der Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter. Gerichtet sind die Empfehlungen direkt an Mitarbeitende in den Jugendämtern und bei freien Trägern, welche die Unterkünfte 22 BVerwGE 147, 170 (171 f.); Trenczek, Düring und Neumann-Witt, Inobhutnahme, 3. Auflage 2017, S. 363. 23 Vgl. § 1631 BGB. 24 Huber, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Auflage 2017, § 1631 Rn. 6. 25 Trenczek, Düring und Neumann-Witt, Inobhutnahme, 3. Auflage 2017, S. 303. 26 Vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom 27. April 2000, Az. 2 Ss 130/98 - 31/98 III, juris Rz. 19 (noch zum § 171 StGB entsprechenden § 170d StGB). 27 BVerwG, Urteil vom 08. Juli 2004, Az. 5 C 63.03, juris Rz. 13 f.; dieser wird jedoch ebenfalls fürsorgepflichtig, § 1793 Abs. 1 S. 1 BGB. 28 Vgl. § 76 Abs. 2 SGB VIII; Trenczek, Düring und Neumann-Witt, Inobhutnahme, 3. Auflage 2017, S. 344. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 3 - 3000 - 109/19 Seite 12 unterhalten.29 Diese sollen die Polizei und ggf. das Jugendamt informieren, sobald das Verschwinden eines unbegleiteten Minderjährigen bemerkt wird. Bei Minderjährigen unter 14 Jahren sei ein Ab- oder Zuwarten nicht angebracht, bei älteren solle zunächst nach den Verschwundenen gesucht werden. Sonstige Vorgaben ergeben sich aus (internen) landesrechtlichen Vorschriften sowie Regelungen, die die Institutionen mit der örtlichen Polizei individuell getroffen haben.30 Zwar entspricht das Vorgehen in der Praxis grundsätzlich dem oben genannten,31 im Detail handhaben die betreuenden Einrichtungen und Jugendämter Vermisstenfälle aber unterschiedlich. Beispielsweise melden einige Einrichtungen bzw. Jugendämter das Verschwinden unmittelbar nach Bekanntwerden, andere erst am Ende des jeweiligen bzw. des Folgetags und wieder andere erst nach 24 – 72 Stunden.32 *** 29 Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter, Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen - Verteilungsverfahren, Maßnahmen der Jugendhilfe und Clearingverfahren, 2. Fassung 2017, S. 7, abrufbar unter: http://www.bagljae.de/downloads/128_handlungsempfehlungen-zum-umgang-mit-unbge.pdf (zuletzt abgerufen am 5. September 2019). 30 BT-Drs. 19/4517, S. 33. 31 BT-Drs. 18/8087, S. 7; 18/11540 S. 57; 19/4517 S. 33. 32 BT-Drs. 19/4517, S. 33.