© 2017 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 109/17 Einreiseverweigerung und Einreisegestattung nach § 18 Asylgesetz Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Einleitung Es werden Fragen zur Einreiseverweigerung und zur Einreisegestattung gegenüber Asylsuchenden gemäß § 18 Asylgesetz (AsylG) gestellt. Konkret geht es um die Voraussetzungen der Einreiseverweigerung nach § 18 Abs. 2 AsylG gegenüber Asylsuchenden aus sicheren Drittstaaten (§ 26a Abs. 2 AsylG) sowie um die Reichweite der in § 18 Abs. 4 AsylG geregelten Ausnahmeregelungen, die eine Pflicht zur Einreisegestattung begründen. In Bezug auf die Reichweite der Ausnahmeregelungen nach § 18 Abs. 4 AsylG ist insbesondere auf den umfassten Personenkreis sowie auf die Frage nach der Mitwirkung des Bundestages einzugehen. Die abstrakten Rechtsfragen sollen darüber hinaus vor dem Hintergrund der Haltung der Bundesregierung während der Flüchtlingskrise ab Ende August/Anfang September 2015 erläutert werden. In diesem Zusammenhang wird gefragt, ob „die Ausnahmeentscheidung nach § 18 Abs. 4 AsylG, die im Herbst 2015 von der Bundesregierung getroffen wurde, rechtmäßig“ war. Die folgenden Ausführungen basieren auf den zu diesem Thema bereits erstellten Gutachten1 und nehmen die aktuelle Diskussion zur Einreiseverweigerung und Einreisegestattung nach § 18 Abs. 4 AsylG auf. 2. Einreiseverweigerung Für die Zurückweisung von Ausländern an der Grenze kommen verschiedene Rechtsgrundlagen in Betracht. Im Grundsatz ist die Vorschrift des § 15 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) einschlägig . Danach sind Ausländer, die unerlaubt einreisen wollen, an der Grenze zurückzuweisen. Soweit es – wie hier – um Zurückweisungen an den EU-Binnengrenzen geht, sind zudem die Vorschriften des Schengener Grenzkodex zu beachten. Schließlich gelten für Ausländer, die an der Grenze um Asyl nachsuchen, die besonderen Regelungen des § 18 AsylG, die wiederum durch das unionsrechtliche Asylrecht, u.a. durch die sog. Dublin-III-Verordnung (VO [EU] Nr. 604/2013), überlagert werden. Nach § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG ist Asylsuchenden die Einreise zu verweigern, wenn sie aus einem sicheren Drittstaat einreisen wollen.2 Die Pflicht zur Einreiseverweigerung gilt allerdings nicht ausnahmslos. Vielmehr sieht § 18 Abs. 4 AsylG zwei Ausnahmen vor, und zwar für den Fall einer unions- oder völkerrechtlich begründeten Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung von Asylverfahren gemäß § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG – einschlägig sind insoweit die sog. Dublin-Zuständigkeiten nach der Dublin-III-Verordnung, VO [EU] Nr. 604/2013 – sowie das Vorliegen einer entsprechenden Anordnung des Bundesministeriums des Innern aus völkerrechtlichen , humanitären oder politischen Gründen nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG. 1 Siehe Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Einreise von Asylsuchenden aus sicheren Drittstaaten (WD 3 - 3000 - 299/15); Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Einreise von Asylsuchenden aus sicheren Drittstaaten – Ergänzung zur Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 299/15 (WD 3 - 3000 - 014/16); Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Zurückweisungen von Ausländern an der Grenze zu Österreich (WD 3 - 3000 - 192/16). 2 Zu den sicheren Drittstaaten im Sinne des § 26a Abs. 2 AsylG gehören die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie Norwegen und die Schweiz. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 109/17 Seite 5 3. Einreisegestattung Bestehen vorrangige Dublin-Zuständigkeiten im Sinne des § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG oder liegt eine Anordnung des Bundesministeriums des Innern nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG vor, „ist von der Einreiseverweigerung abzusehen“, § 18 Abs. 4 AsylG. Die Norm des § 18 Abs. 4 AsylG gewährt der Grenzbehörde kein Ermessen. Vielmehr hat sie bei Vorliegen der Ausnahmegründe die Einreise zu gestatten und den Asylsuchenden gemäß § 18 Abs. 1 AsylG an die zuständige Aufnahmeeinrichtung weiterzuleiten.3 3.1. Vorrangige Dublin-Zuständigkeiten Vorrangige Dublin-Zuständigkeiten für die Durchführung von Asylverfahren sind beispielsweise möglich, wenn die eigentlich zuständigen ersten EU-Mitgliedstaaten, die die Asylsuchenden erreichen, mangels Registrierung nicht zu ermitteln sind (Art. 3 Abs. 2 S. 1 VO [EU] Nr. 604/2013) oder wenn in die zuständigen EU-Mitgliedstaaten wegen systemischer Mängel nicht überstellt werden kann (Art. 3 Abs. 2 S. 3 VO [EU] Nr. 604/2013). Auch können die EU-Mitgliedstaaten durch sog. Selbsteintritt ihre Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren begründen (Art. 17 Abs. 1 VO [EU] Nr. 604/2013).4 Von dem Selbsteintrittsrecht ist möglicherweise auch im Zusammenhang mit der Einreise von Flüchtlingen aus Ungarn über Österreich Anfang September 2015 Gebrauch gemacht worden. Dafür spricht der Umstand, dass zeitweilig die Prüfung von Dublin-Zuständigkeiten ausgesetzt wurde.5 Die Aussetzung von Dublin-Prüfungen bedeutet aber keine Aussetzung der Dublin-III-Verordnung. Vielmehr ermöglicht die Dublin-III-Verordnung gerade die (freiwillige) Übernahme von Asylzuständigkeiten.6 In der jüngeren Diskussion wird noch ein weiterer Aspekt einer vorrangigen Dublin-Zuständigkeit hervorgehoben. Unabhängig von den o.g. Vorschriften, die eine Dublin-Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren begründen, soll bereits die Zuständigkeit eines EU-Mitgliedstaates zur Prüfung der Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens dazu verpflichten, die Einreise 3 Vgl. dazu Winkelmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht (11. Aufl., 2016) Rn. 30 zu § 18 AsylG. 4 Art. 17 Abs. 1 S. 1 und 2 VO [EU] Nr. 604/2013 lauten: „Abweichend von Artikel 3 Absatz 1 kann jeder Mitgliedstaat beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Der Mitgliedstaat, der gemäß diesem Absatz beschließt, einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen.“ 5 Vgl. dazu Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Einreise von Asylsuchenden aus sicheren Drittstaaten (WD 3 - 3000 - 299/15), 4 f., 6. Wendel, Asylrechtlicher Selbsteintritt und Flüchtlingskrise, JZ 2016, 332, 337 ff., geht von einem „General-Selbsteintritt“ Deutschlands aus. 6 Zu den unionsrechtlichen Grenzen des Selbsteintritts ausführlich Wendel (Fn. 5), 338 ff. und mit Hinweis auf den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit aus Art. 4 Abs. 3 Vertrag der Europäischen Union, 339: „Für das Selbsteintrittsermessen im Kontext der Flüchtlingskrise heißt das: Seine Ausübung würde jedenfalls dort an unionsrechtliche Grenzen stoßen, wo sie Migrationsbewegungen in einem Ausmaß kanalisierte bzw. potenzierte, das für andere Mitgliedstaaten nicht mehr oder nur unter unverhältnismäßigem Aufwand zu bewältigen wäre oder gar ihre Befolgungsbereitschaft in Bezug auf geltendes Recht unterminierte.“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 109/17 Seite 6 von Asylsuchenden zu gestatten.7 Normativer Anknüpfungspunkt für diese Auffassung ist Art. 20 Abs. 1 VO [EU] Nr. 604/2013, der denjenigen Mitgliedstaat, in dem erstmals ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird, zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats verpflichtet (Verfahrenszuständigkeit).8 Eine Zurückweisung des Antragstellers in den Transitstaat sei ausgeschlossen , wenn mit dem Asylgesuch an der Grenze zu Deutschland die Verfahrenszuständigkeit Deutschlands begründet worden sei. Dagegen wird vorgebracht, dass Art. 20 Abs. 4 VO [EU] Nr. 604/2013 eine Ausnahmeregelung in Bezug auf die Verfahrenszuständigkeit enthalte.9 Für den Fall, dass das Asylgesuch an der Grenze zu einem anderen Mitgliedstaat gestellt werde, in den der Asylsuchende noch nicht eingereist sei, bleibe es bei der Verfahrenszuständigkeit des Transitstaates, so dass auch die Einreise verweigert werden könne.10 Ein anderer Ansatz wirft die Frage auf, wie mit den systemischen Defiziten des Dublin-Systems („Politik des Durchwinkens“, „Ineffektivität des Dublin-Überstellungsverfahrens“) umzugehen ist, solange die Europäische Union (noch) keine Abhilfe geschaffen hat.11 In Betracht käme ein Wiederaufleben der nationalen Zuständigkeitsordnung12 oder eine Berufung auf Art. 72 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, der die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit regelt. In diesem Sinne könnten „die betroffenen Staaten im begrenzten Umfang von den Dublin-Regeln abweichen, ohne hierbei die Wertungen des europäischen Asylsystems insgesamt außer Acht zu lassen. Konkret könnte einer begrenzten Anzahl an Asylbewerbern die Einreise verweigert werden, (…).“13 7 So Lehner, Grenze auf, Grenze zu? Die transnationale Wirkung von Rechtsverstößen im Dublin-System, Verf- Blog, 2015/10/30, http://www.verfassungsblog.de/grenze-auf-grenze-zu-die-transnationale-wirkung-von-rechtsverstoessen -im-dublin-system/; Wendel (Fn. 5), 341. 8 Art. 20 Abs. 1 VO [EU] Nr. 604/2013 lautet: „Das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats wird eingeleitet, sobald in einem Mitgliedstaat erstmals ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird.“ Siehe dazu auch Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Zulässigkeit direkter Zurückweisung von Flüchtlingen an EU-Binnengrenzen der Bundesrepublik, Ergänzung zur Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 259/15 (WD 3 - 3000 - 271/15). 9 Art. 20 Abs. 4 S. 1 VO [EU] Nr. 604/2013 lautet: „Stellt ein Antragsteller bei den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats einen Antrag auf internationalen Schutz, während er sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, obliegt die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich der Antragsteller aufhält.“ 10 Peukert/Hillgruber/Foerste/Putzke, Einreisen lassen oder zurückweisen? Was gebietet das Recht in der Flüchtlingskrise an der deutschen Staatsgrenze?, ZAR 2016, 131 ff.; Filzwieser/Sprung, Dublin III-Verordnung (2. Aufl., 2014), Art. 20 K 12: „Wenn eine Antragstellung an der Grenze zweier Mitgliedstaaten am Grenzüberwachungsposten vor der Einreise in den zweiten erfolgt, ist der erste Mitgliedstaat für das Zuständigkeitsprüfungsverfahren zuständig und kann der Fremde vom zweiten Mitgliedstaat an der Einreise gehindert werden.“ 11 Hailbronner/Thym, Grenzenloses Asylrecht? Die Flüchtlingskrise als Problem europäischer Rechtsintegration, JZ 2016, 753, 761. 12 So Hailbronner (Fn. 11), 762, mit Hinweis auf die abweichende Auffassung des Mitautors Thym. 13 Hailbronner/Thym (Fn. 11), 763. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 109/17 Seite 7 3.2. Anordnung des Bundesministeriums des Innern Die in § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG geregelte Anordnung aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland liegt im Ermessen des Bundesministeriums des Innern. Eine Beschränkung dieser Anordnung auf Einzelfälle ist nach dem Wortlaut des § 18 Abs. 4 AsylG nicht zwingend. In § 18 Abs. 4 AsylG heißt es lediglich, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen in Nr. 1 oder Nr. 2 „von der Einreiseverweigerung (…) im Falle der Einreise aus einem sicheren Drittstaat (…) abzusehen [ist]“. Das Tatbestandsmerkmal „im Falle der Einreise“ kann sich sowohl auf einzelne Asylsuchende14 als auch auf Gruppen von Asylsuchenden beziehen.15 Auch die Fassung der Norm als Ausnahmevorschrift zwingt nicht zu einer engen, auf Einzelfälle bezogenen Auslegung. Zum einen öffnet § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG die Einreisegestattung gerade für nicht weiter eingegrenzte Zuständigkeitsverteilungen nach Unions- oder Völkerrecht. Zum anderen sprechen die weiten, dem Bundesminister des Innern eingeräumten humanitären und politischen Gründe dafür, dass über den Einzelfall hinaus Gruppen von Asylsuchenden umfasst sein können, gerade auch im Zusammenhang mit Notsituationen.16 Unabhängig von diesen Erwägungen könnte man meinen, dass jedenfalls die pauschale und massenhafte Einreisegestattung nicht mehr von § 18 Abs. 4 AsylG gedeckt sei. Insoweit könnte man argumentieren, dass eine so weitgehende Anordnung durch das Bundesministerium des Innern oder die Wahrnehmung des Selbsteintrittsrechts nach der Dublin-III-Verordnung durch die Bundesrepublik innerstaatlich einer gesetzlichen Regelung oder einer parlamentarischen Zustimmung bedarf. 17 3.3. Mitwirkung des Bundestages? 3.3.1. Wesentlichkeitslehre Normativer Anknüpfungspunkt für eine Beteiligung des Bundestages im Zusammenhang mit der Einreise von Asylsuchenden aus sicheren Drittstaaten könnte die als Wesentlichkeitslehre bezeichnete und aus dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip folgende Verpflichtung des Gesetzgebers sein, in grundlegenden normativen Bereichen, insbesondere im Bereich der Grundrechtsausübung, 14 So Bruns, in: Hofmann/Hoffmann, Handkommentar Ausländerrecht (1. Aufl., 2008), Rn. 22 zu § 18 AsylVfG. 15 So Hailbronner, Ausländerrecht, Band 3 (Stand: August 2009), Rn. 43 zu § 18 AsylVfG; Hadamitzky/Senge, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze (Stand: Juli 2016), Rn. 9 zu § 18 AsylG. Siehe auch Di Fabio, Migrationskrise als föderales Problem, abrufbar unter: http://www.bayern.de/wp-content/uploads/2016/01/Gutachten _Bay_DiFabio_formatiert.pdf, 95, der zumindest „überschaubare und beherrschbare Fälle“ oder „situativ zeitlich oder örtlich begrenzte“ Entscheidungen im Rahmen des § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG für zulässig erachtet. 16 A.A. Haderlein, in: Kluth/Heusch, Beck‘scher Online-Kommentar Ausländerrecht (Stand: Februar 2017), Rn. 36 zu § 18 AsylG; Murswiek, Nationalstaatlichkeit, Staatsvolk und Einwanderung, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise (2016), 123, 135. 17 Die Frage nach der Mitwirkung des Bundestages stellt sich nicht, wenn bereits eine unionsrechtliche Pflicht zur Einreisegestattung angenommen wird. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 109/17 Seite 8 alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen.18 Das Bundesverfassungsgericht führte dazu in der sog. Kalkar-Entscheidung aus: „Heute ist es ständige Rechtsprechung, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, […] in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, soweit diese staatlicher Regelung zugänglich ist, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen (…). […] In welchen Bereichen danach staatliches Handeln einer Rechtsgrundlage im förmlichen Gesetz bedarf, lässt sich nur im Blick auf den jeweiligen Sachbereich und die Intensität der geplanten oder getroffenen Regelung ermitteln. Die verfassungsrechtlichen Wertungskriterien sind dabei in erster Linie den tragenden Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere den vom Grundgesetz anerkannten und verbürgten Grundrechten zu entnehmen . Nach den gleichen Maßstäben beurteilt sich, ob der Gesetzgeber, wie der verfassungsrechtliche Gesetzesvorbehalt weiter fordert (…), mit der zur Prüfung vorgelegten Norm die wesentlichen normativen Grundlagen des zu regelnden Rechtsbereichs selbst festgelegt und dies nicht dem Handeln etwa der Verwaltung überlassen hat.“19 Die grundsätzlich plausible Pflicht des Gesetzgebers, wesentliche Entscheidungen selbst zu treffen, lässt sich im konkreten Fall allerdings nur schwer ermitteln. Das Bundesverfassungsgericht verweist darauf, dass die Kriterien zur Feststellung der Wesentlichkeit den „tragenden Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere den darin verbürgten Grundrechten“ zu entnehmen seien.20 Danach sollen jedenfalls diejenigen Bereiche wesentlich sein, die für die Grundrechtsverwirklichung wesentlich sind (Grundrechtswesentlichkeit), wobei der jeweilige Sachbereich sowie die Intensität der Regelung zu berücksichtigen sind. Neben der Grundrechtswesentlichkeit werden weitere Kriterien herangezogen: u.a. die Langzeitwirkung einer Regelung, gravierende finanzielle Auswirkungen und Auswirkungen auf das Gemeinwesen.21 Dass über eine Angelegenheit politischer Streit herrscht, reicht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als solches nicht für die Annahme der Wesentlichkeit aus.22 3.3.2. Wesentlichkeit der Einreisegestattung? Es stellt sich also die Frage, ob im Fall der Einreisegestattung für Asylsuchende aus sicheren Drittstaaten ein grundlegender normativer Bereich betroffen ist, für den der Gesetzgeber die wesentlichen Regelungen hätte treffen müssen. Da mit § 18 Abs. 4 AsylG bereits eine gesetzliche Regelung für den Bereich der Einreisegestattung vorliegt, konzentriert sich die Anwendung der Wesentlichkeitslehre hier auf die Regelungsdichte. Sowohl für die Einreisegestattung nach § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG, der auf die Dublin-Zuständigkeit Bezug nimmt, als auch im Hinblick auf die Anordnungsbefugnis des Bundesministers des Innern nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG könnte man darauf verweisen, dass der Gesetzgeber zumindest die Grenzen für den Selbsteintritt nach der 18 Ausführlich zur Wesentlichkeitslehre, insbesondere in Abgrenzung zum Vorbehalt des Gesetzes, zum Parlamentsvorbehalt und zum Bestimmtheitsgrundsatz, Wissenschaftliche Dienste (WD 3 - 3000 - 043/15), Reichweite der Wesentlichkeitslehre. 19 BVerfGE 49, 89, 126 f. 20 BVerfGE 98, 218, 251. 21 Wissenschaftliche Dienste (Fn. 18), 7 f. 22 BVerfGE 98, 218, 251 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 109/17 Seite 9 Dublin-III-Verordnung sowie für die ministerielle Anordnungsbefugnis hätte treffen müssen. Angesichts der Vagheit der Kriterien zur Feststellung der Wesentlichkeit lässt sich allerdings kaum vorhersagen, ob das Bundesverfassungsgericht insofern von einer Wesentlichkeit ausgehen würde. Gegen eine Wesentlichkeit in diesem Sinne sprechen die Besonderheiten des betroffenen Regelungsbereichs . Die Einreisegestattung als solche enthält noch keine Vorentscheidung über den Verbleib der Ausländer im Bundesgebiet. Maßgeblich für den Verbleib der Asylsuchenden im Bundesgebiet ist vielmehr die Frage, ob die Bundesrepublik nach dem Dublin-Zuständigkeitssystem für die Prüfung des Asylgesuchs zuständig ist. Das Dublin-Zuständigkeitssystem weist aber Schwächen auf, wenn – wie tatsächlich geschehen – die Ermittlung des zuständigen EU-Mitgliedstaats durch fehlende Registrierung und Weiterreisegewährung unmöglich gemacht wird oder in die eigentlich zuständigen EU-Mitgliedstaaten wegen „systemischer Mängel“ nicht überstellt werden darf. Dann besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass das Zielland nach Art. 3 Abs. 2 VO [EU] Nr. 604/2013 zuständig ist. Vor diesem Hintergrund kann bei einem massenhaften Zustrom von Asylsuchenden die Wahrnehmung des Selbsteintrittsrechts nach der Dublin-III-Verordnung zur Verfahrensbeschleunigung sinnvoll sein, insbesondere um eine Notsituation – wie die in Ungarn – zu bewältigen. Ferner stellt die Einräumung von Ermessen für die Exekutive zur Aufnahme von Ausländern aus politischen oder humanitären Gründen keine systemfremde Regelung dar. Insofern ist auf die Aufnahme von Ausländern aufgrund der sog. EU-Massenzustromrichtlinie23 zu verweisen. Bei Vorliegen eines EU-Ratsbeschlusses nach Art. 5 RL 2001/55/EG über das Bestehen eines Massenzustroms von Vertriebenen geben die Mitgliedstaaten nach Art. 25 RL 2001/55/EG ihre jeweilige Aufnahmekapazität an. Die nationale Regelung zur Umsetzung der Massenzustromrichtlinie (§ 24 AufenthG) enthält zur Festlegung der Aufnahmekapazität der Bundesrepublik keine Vorgaben. Auch für die Aufnahme von sog. Kontingentflüchtlingen aus politischen Interessen sieht § 23 Abs. 2 AufenthG keine Grenzen vor.24 Auf der anderen Seite kann man vertreten, dass die pauschale und massenhafte Einreisegestattung gegenüber Asylsuchenden mit so erheblichen Folgen für das Gemeinwesen verbunden ist, dass sie die „Wesentlichkeitsschwelle“ überschreitet.25 Schon mit der Einreise von Asylsuchenden entstehen 23 Richtlinie 2001/55/EG v. 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten. 24 Hecker, in: Kluth/Heusch, Beck‘scher Online-Kommentar (Stand: November 2016), Rn. 8 zu § 23 AufenthG. 25 So im Ergebnis Murswiek, (Fn. 16), 134; Di Fabio (Fn. 15), 97: „Die Entscheidung über den – gemessen am Maßstab des § 18 Abs. 1 und Abs. 2 Asylgesetz – unkontrollierten Massenzustrom von Vertriebenen und Einreisewilligen betrifft, wenn er [gemeint ist wohl: sie] über eine momentane, zeitlich und örtlich begrenzte Grenzöffnung hinausreicht , die Lebensverhältnisse der Republik und der einzelnen Bürger insgesamt. Daneben ist wegen der unmittelbaren engen Beziehung dieser Entscheidung zur Eigenstaatlichkeit der Länder und im Blick auf die Wahrung des in Art. 30 GG verankerten Funktionsschutzes landesrechtlicher Kompetenzen und übertragenen Rechtspflichten auch das bundesstaatliche Gefüge betroffen. Das von der Ministeranordnung erlaubte Verhalten der Grenzbehörden des Bundes bedarf deshalb im Fall der vorliegend gegebenen zeitlichen (bereits mehrere Monate), qualitativen (den Ausfall von Einreisekontrollen und Zurückweisungen betreffende) und quantitativen Umstände einer gesetzlichen Grundlage, die Voraussetzungen, Art und Ausmaß und zeitliche Begrenzung einer solchen gravierenden Abweichung von der gesetzlichen Grundentscheidung näher regelt.“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 109/17 Seite 10 zahlreiche staatliche Pflichten, die – je nach Anzahl der Asylsuchenden – einen hohen Verwaltungsaufwand erfordern und hohe Kosten verursachen. Diese Auswirkungen beschränken sich dabei nicht auf die Dauer der Asylverfahren. Im Fall der Prüfung und Gewährung asylrechtlicher Schutzstatus sind die mit dem Aufenthalt und der Integration der Schutzberechtigten verbundenen Lasten zwar zunächst nur mittelfristig zu leisten26, doch können sie fortbestehen, wenn die Verfolgungsoder Bedrohungssituation in den Herkunftsstaaten anhält. Langzeitwirkungen können auch bei Ablehnung von Asylanträgen eintreten, wenn Abschiebungen in die Herkunftsstaaten nicht möglich sind. Wird von der Einreisegestattung massenhaft Gebrauch gemacht, kann dies ferner die Gesellschaftsstruktur 27 verändern und zu erheblichen Integrationsproblemen führen. Dass der Legislative bei der Entscheidung über den Zuzug von Ausländern eine gewisse Begrenzungsfunktion zukommt, wird in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Familiennachzug deutlich. Dort heißt es: „Es [erg. das Grundgesetz] schließt weder eine großzügige Zulassung von Fremden aus, noch gebietet es eine solche Praxis. In dem von ihm gesteckten weiten Rahmen obliegt es der Entscheidung der Legislative und – in den von dieser zulässigerweise gezogenen Grenzen – der Exekutive, ob und bei welchem Anteil Nichtdeutscher an der Gesamtbevölkerung die Zuwanderung von Ausländern ins Bundesgebiet begrenzt wird oder ob und bis zu welchem Umfang eine solche Zuwanderung geduldet oder gefördert wird; […].“28 3.4. Rechtliche Einordnung durch die Bundesregierung? Unklar ist allerdings, ob und inwieweit die Ausnahmetatbestände des § 18 Abs. 4 AsylG von der Bundesregierung als Grundlage für die Einreisegestattungen ab Ende August/Anfang September 2015 herangezogen wurden. Eine parlamentarische Frage, die vom Vorliegen einer Anordnung des Bundesministeriums des Innern nach § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG ausgeht und sich auf deren konkrete Ausgestaltung bezieht, lautet: „Mit welchem Wortlaut hat das Bundesministerium des Innern nach § 18 Absatz 4 Nummer 2 des Asylgesetzes (AsylG) angeordnet, von der Einreiseverweigerung gegenüber Asylsuchenden nach § 18 AsylG abzusehen, und wie lange gilt bzw. galt diese Anordnung (bitte unter Angabe des Zeitpunktes und der Art der Veröffentlichung)? Falls eine solche Anordnung nicht erfolgt ist, aus welchen Gründen hat das Bundesministerium des Innern von dieser Maßnahme abgesehen?“29 Die Antwort der Bundesregierung lautet: 26 Vgl. § 26 Abs. 1 S. 2 AufenthG, wonach die Aufenthaltserlaubnis für Asylberechtigte und Flüchtlinge zunächst für drei Jahre zu erteilen ist. 27 In diese Richtung wohl Nettesheim, Ein Vakuum darf nicht hingenommen werden, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. Oktober 2015, 8. 28 BVerfGE 76, 1, 47 f. 29 Schriftliche Fragen Nr. 39 und 40 des Abgeordneten Stephan Stracke in der BT-Drs. 18/7510, 29. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 109/17 Seite 11 „Maßnahmen der Zurückweisung an der Grenze mit Bezug auf um Schutz nachsuchende Drittstaatsangehörige kommen derzeit nicht zur Anwendung (§ 18 Absatz 2, 4 – AsylG). Dies hat die Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. mitgeteilt (…). Die Regelungen in § 18 Absatz 2 bis 4 AsylG sind im Kontext des europarechtlichen Regelungsgefüges zu betrachten. Zurückweisungen an der Grenze sind im Rechtsrahmen der Dublin-III-Verordnung und des § 18 AsylG zulässig. (…) Die Entscheidung, den betreffenden Personenkreis nicht zurückzuweisen, wurde im Zusammenhang mit der vorübergehenden Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den deutschen Binnengrenzen im Rahmen der bestehenden Zuständigkeiten innerhalb der Bundesregierung getroffen.“30 Zwar wird einerseits auf den „Rechtsrahmen der Dublin-III-Verordnung“ verwiesen, was die Anwendung des § 18 Abs. 4 Nr. 1 AsylG (vorrangige Dublin-Zuständigkeit) nahelegt. Andererseits wird die genaue Rechtsgrundlage des § 18 Abs. 4 AsylG in Bezug auf die Nr. 1 oder Nr. 2 gerade nicht benannt und das Vorliegen einer Anordnung des Bundesministeriums des Innern trotz der konkreten Fragestellung nicht ausdrücklich zurückgewiesen. Soweit vorrangige Dublin-Zuständigkeiten angenommen worden sein sollten, bliebe zu klären, ob und inwieweit die Bundesregierung vom Recht des Selbsteintritts Gebrauch gemacht hat oder von einer unionsrechtlichen Verpflichtung ausgegangen ist. *** 30 BT-Drs. 18/7510, 29 (Hervorhebungen nicht im Original).