© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 108/20 Ausreiseuntersagungen nach § 10 Abs. 1 S. 1 in Verbindung mit § 7 Abs. 1 Nr. 1 3. Alt. Passgesetz zur Eindämmung der Infektionen mit SARS-CoV-2 Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 108/20 Seite 2 Ausreiseuntersagungen nach § 10 Abs. 1 S. 1 in Verbindung mit § 7 Abs. 1 Nr. 1 3. Alt. Passgesetz zur Eindämmung der Infektionen mit SARS-CoV-2 Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 108/20 Abschluss der Arbeit: 30. April 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 108/20 Seite 3 1. Einleitung und Fragestellung Laut Pressemitteilungen des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat (BMI) gelten seit dem 16. März 2020 auf Anordnung des Bundesinnenministers Reisebeschränkungen und vorübergehende Binnengrenzkontrollen im Zusammenhang mit der Ausbreitung des Coronavirus (SARS-CoV-2). Reisende ohne triftigen Reisegrund dürfen an den Binnengrenzen zu Österreich, der Schweiz, Frankreich, Luxemburg und Dänemark nicht mehr ein- und ausreisen. Dies gilt auch für Reisende mit Krankheitssymptomen, die auf eine Corona-Infektion hindeuten könnten. Der grenzüberschreitende Warenverkehr sowie der grenzüberschreitende Verkehr von Berufspendlern bleiben gewährleistet.1 Diese Anordnung wurde am 18. März 2020 auf Flug- und Schiffsreisen aus und nach Italien, Spanien, Österreich, Frankreich, Luxemburg, Dänemark und der Schweiz ausgeweitet 2 und bis zum 4. Mai 2020 verlängert3. Nach Angaben des BMI erfolgte die Anordnung der Reisebeschränkungen, „um eine weitere rasche und unkontrollierte Ausbreitung des hochinfektiösen Coronavirus zu verhindern und das Gesundheitssystem leistungsfähig zu halten“4. Die Beschränkung auf Reisetätigkeiten aus triftigem Grund trage dazu bei, Infektionsrisiken deutlich zu reduzieren. Rechtsgrundlage für die Untersagung der Ausreise gegenüber deutschen Staatsbürgern sei § 10 Abs. 1 S. 2 in Verbindung mit § 7 Abs. 1 Nr. 1 3. Alt. Passgesetz (PassG)5. Welche Maßnahmen im jeweiligen Einzelfall zu treffen seien, sei von den Beamtinnen und Beamten vor Ort nach den Umständen des Einzelfalls im Rahmen der geltenden Rechtslage nach pflichtgemäßem Ermessen zu beurteilen.6 Geprüft werden soll, ob die Anordnung von Ausreiseuntersagungen für Reisen ohne triftigen Grund auf die genannte Rechtsgrundlage gestützt werden kann. 2. Zur Ausreiseuntersagung nach § 10 Abs. 1 S. 2 in Verbindung mit § 7 Abs. 1 Nr. 1 3. Alt. PassG Der genaue Wortlaut der Anordnung des BMI liegt nicht vor. Unklar bleibt anhand der vorliegenden Informationen, welche Rechtswirkung mit der Anordnung bezweckt wird, insbesondere ob diese als ermessenslenkende Verwaltungsvorschrift zu verstehen ist, die die Bundespolizei bei Maßnahmen im Einzelfall beachten muss, oder ob mit ihr auch eine direkte Außenwirkung gegenüber allen Bürgern verbunden sein soll. Unabhängig von der Rechtsqualität der Anordnung bestehen 1 Pressemitteilung des BMI vom 15. März 2020, abrufbar unter: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen /DE/2020/03/grenzschliessung-corona.html (letzter Abruf 29. April 2020). 2 Pressemitteilung des BMI vom 18. März 2020, abrufbar unter: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen /DE/2020/03/corona-grenzkontrollen-see-luft.html (letzter Abruf 29. April 2020). 3 Pressemitteilung des BMI vom 15. April 2020, abrufbar unter: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen /DE/2020/04/verlaengerung-grenzkontrollen.html (letzter Abruf 29. April 2020). 4 Vgl. Antwort des Staatssekretärs des BMI auf die schriftliche Frage der Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke (DIE LINKE.) vom 15. April 2020, BT-Drs. 19/18555, 37. 5 Passgesetz vom 19. April 1986 (BGBl. I S. 537), zuletzt geändert durch Artikel 4 des Gesetzes vom 21. Juni 2019 (BGBl. I S. 846). 6 BT-Drs. 19/18555, 37. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 108/20 Seite 4 Bedenken, dass sich § 10 Abs. 1 S. 2 in Verbindung mit § 7 Abs. 1 Nr. 1 3. Alt. PassG als Rechtsgrundlage für Ausreiseuntersagungen zum Zwecke des Infektionsschutzes heranziehen lassen. 2.1. Übersicht über die Tatbestandsalternativen des § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG Gemäß § 10 Abs. 1 S. 2 PassG können die für die polizeiliche Kontrolle zuständigen Behörden einem Deutschen die Ausreise in das Ausland untersagen, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen , dass bei ihm die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG vorliegen. Nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG ist der Pass „zu versagen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme begründen, dass der Passbewerber die innere oder äußere Sicherheit oder sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährdet“. Die Vorschrift enthält drei Tatbestandsalternativen: die Gefährdung der inneren (1. Alternative) oder der äußeren Sicherheit (2. Alternative) oder sonstiger erheblicher Belange (3. Alternative) der Bundesrepublik Deutschland. Nach einhelliger Meinung sind mit der inneren und äußeren Sicherheit nicht alle Fälle der öffentlichen Sicherheit im Sinne polizeilicher Generalklauseln, sondern „nur der Bereich der im engeren Sinne staatlichen Sicherheit“7 gemeint. Umfasst sind damit insbesondere die Sicherheit der Einrichtungen des Bundes und der Länder, die Amtsführung ihrer Organe, das friedliche und freie Zusammenleben der Bewohner sowie die Sicherheit lebenswichtiger Verkehrs- und Versorgungseinrichtungen .8 In der Literatur wird verlangt, dass die Gefährdung „eine bloße Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit in beachtlichem Maße übersteigt“9. Der Tatbestand ist danach bei Begehung von erheblichen Straftaten (insbesondere Staatsschutzdelikten) erfüllt.10 Bei der hier näher zu betrachtenden 3. Alternative „sonstiger erheblicher Belange“ des § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff. Nach den allgemeinen Verwaltungsvorschriften zur Durchführung des Passgesetzes (PassVwV) können die „sonstigen erheblichen Belange“ politischer, wirtschaftlicher oder auch finanzieller Art sein.11 Der Begriff ist eng auszulegen, da eine Ausreiseuntersagung nach der herrschenden Meinung in das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) eingreift.12 In den Fällen, in denen es sich 7 Vgl. nur Hornung, in: Hornung/Möller, Passgesetz – Personalausweisgesetz, PaßG § 7 Rn. 10; Rossi, Beschränkungen der Ausreisefreiheit im Lichte des Verfassungs- und Europarechts, Archiv des öffentlichen Rechts 2002, 612 (630 ff.). 8 Beimowski/Gawron, in: Beimowski/Gawron, Passgesetz, Personalausweisgesetz, 1. Auflage 2018, PaßG § 7 Rn. 22. 9 Beimowski/Gawron, in: Beimowski/Gawron, Passgesetz, Personalausweisgesetz, 1. Auflage 2018, PaßG § 7 Rn. 22. 10 Hornung, in: Hornung/Möller, Passgesetz – Personalausweisgesetz, PaßG § 7 Rn. 10; Rossi, Beschränkungen der Ausreisefreiheit im Lichte des Verfassungs- und Europarechts, Archiv des öffentlichen Rechts 2002, 612 (631 f.). 11 Nr. 7.1.1.4 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des Passgesetzes (Passverwaltungsvorschrift - PassVwV) vom 16. Dezember 2019, Fundstelle: GMBl. 2020 Nr. 2/3, 24. 12 Statt vieler: Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Auflage 2018, Art. 2 Rn. 121; a.A. Pagenkopf, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 11 Rn. 29. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 108/20 Seite 5 um eine Ausreise eines Unionsbürgers in das Hoheitsgebiet eines EU-Mitgliedstaats handelt, erfordert zudem das europäische Freizügigkeitsrecht aus Art. 21 AEUV und Art. 27 RL 2004/38/EG13 eine enge Auslegung.14 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fallen unter den Begriff der „sonstigen erheblichen Belange“ solche Tatbestände, die in ihrer Erheblichkeit den beiden anderen Tatbeständen der inneren und äußeren Sicherheit wenn auch nicht gleich, so doch nahekommen müssen und die so erheblich sind, dass sie der freiheitlichen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland aus zwingenden Gründen vorangestellt werden müssen.15 2.2. Schutz der Bevölkerung vor einer Pandemie und Sicherstellung der Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems als „sonstige erhebliche Belange“ im Sinne des § 7 Abs. 1 Nr. 1 3. Alt. PassG? Das BMI begründet seine Anordnung zum einen damit, dass dadurch eine unkontrollierte Ausbreitung des hochinfektiösen SARS-CoV-2 verhindert werden soll. Insofern stellt sich die Frage, ob der Schutz der Bevölkerung vor einer Pandemie einen „sonstigen erheblichen Belang“ im Sinne der Vorschrift darstellt. Dafür spricht grundsätzlich, dass es bei dem Schutz der Bevölkerung vor hochinfektiösen Krankheitserregern mit hoher Sterberate um den Schutz der hohen Güter von Leib und Leben geht. Mit unkontrollierten Pandemien können chaotische Zustände in allen Bereichen des Lebens ausgelöst werden. Dies lässt sich durchaus mit den von dem Tatbestandsmerkmal der inneren Sicherheit umfassten Ausprägungen der „Sicherstellung des friedlichen und freien Zusammenlebens der Bevölkerung“ sowie der „Sicherstellung lebenswichtiger Versorgungs- und Infrastruktureinrichtungen“ vergleichen. Je nach der konkreten Gefährdungslage können die Gefahren einer Pandemie von einer solchen Erheblichkeit sein, dass der Schutz der Bevölkerung dem Freiheitsrecht des Einzelnen zwingend voranzustellen ist. Das BMI hat die Anordnung zum anderen mit der Sicherstellung der Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems begründet. Diesbezüglich spricht allerdings einiges dafür, dass dieses Schutzgut bereits von der 1. Alternative des § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG – innere Sicherheit – umfasst ist und es keinen Rückgriff auf die „sonstigen erheblichen Belange“ bedarf. Der Begriff der inneren Sicherheit erfasst neben staatlichen Einrichtungen insbesondere auch lebenswichtige Versorgungs- und Infrastruktureinrichtungen.16 Darunter ist auch die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung zu verstehen; diese ist Teil der kritischen Infrastruktur eines Landes.17 Ein kollabierendes Gesundheitssystem würde dramatische Folgen haben und würde eine erhebliche Störung der öffentlichen Sicherheit bedeuten. 13 Ausführlich zum europarechtlichen Freizügigkeitsrecht siehe die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste, Fragen zur Reform des Freizügigkeitsgesetzes/EU, PE 6 - 3000 - 157/14 vom 10. Oktober 2014. 14 Beimowski/Gawron, in: Beimowski/Gawron, Passgesetz, Personalausweisgesetz, 1. Auflage 2018, PaßG § 7 Rn. 24. 15 BVerfGE 6, 32 (42 f.). 16 Beimowski/Gawron, in: Beimowski/Gawron, Passgesetz, Personalausweisgesetz, 1. Auflage 2018, PaßG § 7 Rn. 22. 17 Zu den kritischen Infrastrukturen Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, abrufbar unter: https://www.bbk.bund.de/DE/AufgabenundAusstattung/KritischeInfrastrukturen/kritischeinfrastrukturen _node.html (letzter Abruf 29. April 2020). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 108/20 Seite 6 2.3. Weitere in Betracht kommende „sonstige erhebliche Belange“? Neben den von der Regierung genannten Anordnungsgründen kommen weitere „sonstige erhebliche Belange“ im Sinne des § 7 Abs. 1 Nr. 1 3. Alt. PassG in Betracht, die letztlich aber auch nicht geeignet erscheinen, Ausreiseuntersagungen zu begründen. Von der wohl herrschenden Meinung wird auch die Gefährdung des internationalen Ansehens der Bundesrepublik als „sonstiger erheblicher Belang“ verstanden. Fraglich ist, ob dieses gefährdet sein könnte, wenn deutsche Staatsangehörige ungehindert in die von der Anordnung des BMI betroffenen Ländern ausreisen könnten. Es lässt sich hier zwar argumentieren, dass die Versorgung mit Intensivbetten in einigen der betroffenen Staaten sehr viel schlechter als in Deutschland bestellt ist. Insofern könnte in den Ausreiseuntersagungen ein Ausdruck europäischer Solidarität zu sehen sein, die von den anderen Mitgliedstaaten vorausgesetzt wird. Letztlich gibt es aber keine Anhaltspunkte dafür, dass Reisen von deutschen Staatsbürgern in die betroffenen Länder geeignet sind, das internationale Ansehen der Bundesrepublik zu gefährden. Das Beispiel Schwedens zeigt vielmehr, dass ein weniger restriktives Vorgehen zu keiner erheblichen Beeinträchtigung der auswärtigen Beziehungen und des internationalen Ansehens geführt hat. Zudem sind die Infektionsraten in den Ländern, die von der Ausreiseuntersagung betroffen sind, mit denen in der Bundesrepublik durchaus vergleichbar, wenn nicht sogar höher. Vor diesem Hintergrund ist es fraglich, ob die Einreise von Deutschen in diese Länder überhaupt als Bedrohung wahrgenommen werden würde. Schließlich haben es die betroffenen Länder auch selber in der Hand, den Gefahren gemäß ihrer Einschätzungen zu begegnen und entsprechende Einreiseverbote anzuordnen. Gemäß Nr. 7.1.1.4 PassVwV können die „sonstigen erheblichen Belange“ auch wirtschaftlicher oder auch finanzieller Art sein.18 Fraglich ist, ob nicht die Kosten und der Aufwand von staatlichen Rückholaktionen die Annahme des § 7 Abs. 1 Nr. 1 3. Alt. PassG begründen können. Die Frage, ob Rückführungskosten unter den Tatbestand der „sonstigen erheblichen Belange“ fallen, ist in der Literatur umstritten; diskutiert wurde dies im Fall der Gefahr von Entführungen von Staatsbürgern .19 Dabei handelt es sich aber um einen anderen Fall. Die Notlage von Staatsbürgern, die beispielsweise aufgrund stornierter Flüge nicht wieder einreisen können, ist eine gänzlich andere als die von Staatsbürgern, die gegen ihren Willen unter Gefahr für Leib und Leben von Entführern festgehalten werden. Neben den grundsätzlichen Bedenken, ob finanzielle Aspekte überhaupt geeignet sein können, die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Nähe zur Gefährdung der Staatssicherheit aufzuweisen, ist es auch eine Tatsachenfrage, wie hoch das finanzielle Risiko derzeit konkret einzuschätzen ist, und ob dies der geforderten Erheblichkeit entspricht. 2.4. Zum Tatbestandsmerkmal der Gefährdung § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG setzt weiter eine objektive Gefährdung der inneren und äußeren Sicherheit und der „sonstigen erheblichen Belange“ voraus; eines Verschuldens des Passbewerbers bedarf es 18 Nr. 7.1.1.4 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des Passgesetzes (Passverwaltungsvorschrift - PassVwV) vom 16. Dezember 2019, Fundstelle: GMBl. 2020 Nr. 2/3, 24. 19 Hornung, in: Hornung/Möller, Passgesetz – Personalausweisgesetz, PaßG § 7 Rn. 16. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 108/20 Seite 7 nicht.20 Die Einschätzung der Gefährdungslage hat sich dabei auf bestimmte Tatsachen zu stützen, welche die Annahme der Gefährdung dieser Rechtsgüter begründen. Aus der Eingangsformel des Absatzes 1 ergibt sich, dass das Vorliegen eines Versagungsgrundes voraussetzt, dass der Passbehörde bestimmte gerichtsverwertbare Tatsachen zur Verfügung stehen müssen. Die bloße Möglichkeit , eine Vermutung oder ein Verdacht reichen nicht aus.21 Problematisch erscheint in diesem Zusammenhang, dass von der Ausreise aus dem Bundesgebiet unmittelbar keine Gefahr für das deutsche Gesundheitssystem ausgeht. Dieses ist gerade nicht von solchen erkrankten Personen betroffen, die sich nicht mehr im deutschen Hoheitssystem aufhalten. Allerdings lässt sich argumentieren, dass mit der Ausreise eine Wiedereinreise – insbesondere von Deutschen mit Wohnsitz in Deutschland – in einem so engen Zusammenhang zu sehen ist, dass die Rückreisen im Rahmen der Einschätzung der Gefährdungslage zu berücksichtigen sind. Daran schließt sich die Erwägung an, dass den Staat eine Schutzpflicht für seine Staatsangehörigen trifft, die sich im Ausland aufhalten. Eine solche kann sich aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ergeben, wobei der Exekutive bei der Erfüllung der Schutzpflicht ein weiter Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum zusteht.22 Das Auswärtige Amt sah sich in Folge des Ausbruchs der aktuellen Pandemie gehalten, die größte Rückholaktion von im Ausland festsitzenden Staatsbürgern in der Geschichte der Bundesrepublik zu organisieren, nachdem viele Länder kurzfristig ihre Grenzen geschlossen und Flugverbindungen eingestellt oder stark beschränkt hatten.23 Soweit von einem solchen engen Zusammenhang der Ausreise mit der Rückreise ausgegangen werden kann, müsste sich die Einschätzung der Gefährdungslage auf bestimmte Tatsachen stützen, die eine Gefährdung der geschützten Rechtsgüter begründen können. Dies erscheint – zumindest zum jetzigen Zeitpunkt – zweifelhaft. Nach den bisherigen Einschätzungen und Erkenntnissen haben zwar Urlaubsreisen in Skigebiete mit dazu beigetragen, dass sich das SARS-CoV-2 im gesamten Bundesgebiet ausbreiten konnte.24 Die hohe Mobilität und Fluktuation zusammen mit einem stark von Öffentlichkeit und Geselligkeit geprägten Leben sprechen grundsätzlich dafür, dass von Urlaubsreisen in Infektionsgebiete besondere Gefahren ausgehen. Mittlerweile ist aber zu beobachten, dass das öffentliche Leben insbesondere in den von der Ausreiseuntersagung betroffenen Ländern massiv eingeschränkt ist. So sind beispielsweise Geschäfte, Restaurants, Museen 20 Nr. 7.1.1.1 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des Passgesetzes (Passverwaltungsvorschrift - PassVwV) vom 16. Dezember 2019; Beimowski/Gawron, in: Beimowski/Gawron, Passgesetz, Personalausweisgesetz , 1. Auflage 2018, PaßG § 7 Rn. 21. 21 Nr. 7.0.1 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des Passgesetzes (Passverwaltungsvorschrift - PassVwV) vom 16. Dezember 2019, (GMBl. 2020 Nr. 2/3, 24). 22 Vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 6. November 2019 – 10 S 43.19, juris zum Anspruch auf Rückholung einer deutschen Familie aus einem kurdischen Flüchtlingslager. 23 Presseartikel in der Süddeutschen Zeitung vom 24. April 2020, „Eine Viertelmillion Reisende sind zurück in Deutschland“, abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/reise/coronavirus-rueckholaktion-deutsche-ausland -touristen-1.4887266 (letzter Abruf 29. April 2020). 24 Siehe dazu den Presseartikel in der Süddeutschen Zeitung vom 20. März 2020 „Chronologie des Versagens“, abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/politik/corona-ischgl-tirol-chronologie-1.4848484 (letzter Abruf 29. April 2020). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 108/20 Seite 8 und Parks geschlossen und es gelten vielfach Ausgangsbeschränkungen.25 Die Situation hat sich damit gegenüber der Ausgangslage Anfang/Mitte März 2020 stark verändert und lässt auf ein deutlich geringeres Infektionsrisiko schließen. Zweifel an der Geeignetheit der Rechtsgrundlage bestehen zudem auch und vor allem in folgender Hinsicht. Nach dem Wortlaut der Vorschrift des § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG muss der Passbewerber die geschützten Rechtsgüter gefährden. Bisher wurde die Vorschrift auf Fälle angewandt, bei denen die Gefährdung individuell von dem Passbewerber ausging, zum Beispiel im Zusammenhang mit Ausreisen von Hooligans und gewalttätigen Demonstranten, die zu Fußballspielen oder gewalttätigen Demonstrationen ins Ausland reisen,26 oder mit Ausreisen gewaltbereiter Islamisten in terroristische Ausbildungslager oder zur Teilnahme an Kampfhandlungen in Kriegsgebieten27. Einen individuellen Zusammenhang fordert auch gerade der Wortlaut des § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG. Die Anordnung des BMI hat dagegen allgemeinen Charakter. Es wird nicht auf den einzelnen Reisenden und sein Verhalten sowie sein konkretes Reiseziel abgestellt, sondern grundsätzlich alle Reisen ohne triftigen Grund werden untersagt. Eine Gefährdungslage im konkreten Einzelfall anhand von gerichtsfesten bestimmten Tatsachen zu begründen, fällt angesichts der zahlreichen Unsicherheiten und der sich ständig weiterentwickelnden fachlichen Erkenntnisse über die mit dem SARS-CoV-2 verbundenen Infektionsgefahren und Risiken schwer. Dies könnte jedoch auch bedeuten, dass der Exekutive hier ein weiter Einschätzungsspielraum zuzubilligen ist. Angesichts fehlender bzw. unsicherer Kenntnisse erscheint es nicht unbillig, eine allgemein erhöhte Infektionsgefahr anzunehmen, die letztlich von jedem Staatsangehörigen ausgeht. Einer solchen typisierenden Betrachtung steht jedoch der Wortlaut und das historische Verständnis des § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG entgegen. 3. Fazit Es bestehen rechtliche und tatsächliche Bedenken, dass sich eine allgemeine Ausreiseuntersagung für Reisen ohne triftigen Grund auf die Rechtsgrundlage des § 10 Abs. 1 S. 2 PassG in Verbindung mit § 7 Abs. 1 Nr. 1 3. Alt. PassG stützen lässt. *** 25 Vgl. die Reise- und Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amts zu den einzelnen Ländern, abrufbar unter: https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/reise-und-sicherheitshinweise?letter=I (letzter Abruf 29. April 2020). 26 Beimowski/Gawron, in: Beimowski/Gawron, Passgesetz, Personalausweisgesetz, 1. Auflage 2018, PaßG § 7 Rn. 23 mit Verweis auf BT-Drs. 14/2726. 27 Beimowski/Gawron, in: Beimowski/Gawron, Passgesetz, Personalausweisgesetz, 1. Auflage 2018, PaßG § 7 Rn. 39.