© 2020 Deutscher Bundestag WD 3 - 3000 - 104/20 Klinische Frailty Skala Bedeutung der Grundrechte für eine Triage-Entscheidung Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 104/20 Seite 2 Klinische Frailty Skala Bedeutung der Grundrechte bei Einsatz für Triage-Entscheidung Aktenzeichen: WD 3 - 3000 - 104/20 Abschluss der Arbeit: 30. April 2020 Fachbereich: WD 3: Verfassung und Verwaltung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 104/20 Seite 3 1. Fragestellung und Sachverhalt Gefragt wird nach der Vereinbarkeit der Heranziehung einer schematischen Hinfälligkeitsskala bei der Triage mit den Grundrechten, wenn diese Skala nur für Patienten, die über 65 Lebensjahre alt sind, validiert ist. Den Ausgangspunkt bilden die von für intensivmedizinische Behandlungen zuständigen Fachgesellschaften 1 vorgelegten „Klinisch-ethischen Empfehlungen“ zu medizinischen Parametern für „Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie“.2 Diese nehmen auf eine sog. Clinical Frailty Scale (CFS), also eine Gebrechlichkeitsskala, Bezug. Mit dieser Skala sollen Personen anhand ihrer Fähigkeiten die sie zwei Wochen vor der Erkrankung hatten, auf ihre Gebrechlichkeit hin beurteilt werden. Die Erstellerin einer deutschen Übersetzung der Skala, die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG), weist ausdrücklich darauf hin, dass bei deren Anwendung bedacht werden soll, „dass die Klinische Frailty Skala nur bei älteren Personen (≥65 Jahren) umfangreich validiert ist.“3 Der Deutsche Ethikrat hat in einer ad-hoc-Empfehlung vom 27. März 2020 auf die vorgenannten klinisch-ethischen Empfehlungen Bezug genommen. Dabei hat er geäußert, dass diese eine Orientierungshilfe bieten können, sowie weitere ethische und grundrechtstheoretische Probleme der Triage benannt.4 2. Triage im Zusammenhang mit COVID-19 Zu beurteilen ist eine Situation der sog. Triage im Zusammenhang mit COVID-19-Erkrankungen. Triage meint die Priorisierung medizinischer Hilfeleistungen. Sie bezieht sich bei COVID-19- Erkranten auf die Situation, dass es zu einer Mittelknappheit insbesondere bezüglich intensivmedizinischer Leistungen, zum Beispiel Beatmungsgeräten, kommt. Wenn dies eintritt, muss über eine patientenorientierte Perspektive – zum Beispiel dessen individuelle Ablehnung einer intensivmedizinischen Behandlung – hinaus eine überindividuelle Perspektive treten. Die Triage dient nicht der Bewertung von Menschen oder Menschenleben. Sie zielt vielmehr darauf ab, mit begrenzten Ressourcen die medizinische Versorgung möglichst vielen Patienten zukommen 1 Beteiligt waren die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), die Deutsche Gesellschaft für Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA), die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI), die Deutsche Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN), die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP), die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) und die Akademie für Ethik in der Medizin (AEM). 2 2. überarbeitete Fassung vom 17.4.2020, abrufbar unter: https://divi.de/empfehlungen/publikationen/covid- 19/1549-entscheidungen-ueber-die-zuteilung-intensivmedizinischer-ressourcen-im-kontext-der-covid-19-pandemie -klinisch-ethische-empfehlungen/file (zuletzt aufgerufen am 27.4.2020). 3 Deutsche Gesellschaft für Geriatrie, Clinical Frailty Scale (CFS), 2020, abrufbar unter: https://divi.de/images/Dokumente /200331_DGG_Plakat_A4_Clinical_Frailty_Scale_CFS.pdf (zuletzt aufgerufen am 27.4.2020). 4 Deutscher Ethikrat, Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise, Ad-hoc-Empfehlungen vom 27.3.2020, S. 3 und 4, abrufbar unter: https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen /deutsch/ad-hoc-empfehlung-corona-krise.pdf (zuletzt aufgerufen am 28.4.2020). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 104/20 Seite 4 zu lassen.5 Das wesentliche Kriterium für die Entscheidung ist die klinische Erfolgsaussicht der Behandlung der Patienten. Es werden im Zweifel diejenigen Patienten ermittelt, die eine geringere Überlebenschance haben. Diese würden dann nicht intensivmedizinisch behandelt. Patienten mit einer höheren Überlebenschance würden vorrangig intensivmedizinisch behandelt werden. Dabei sind das kalendarische Alter, soziale Merkmale, Behinderung oder bestimmte Grunderkrankungen keine empfohlenen Differenzierungskriterien.6 Die Beurteilung soll möglichst nach dem Mehraugen- Prinzip und durch Kollegen unterschiedlicher medizinischer Fachrichtungen geschehen. Die genannten klinisch-ethischen Empfehlungen der Fachverbände sehen folgende Kriterien zur Priorisierung vor: „1. Informationen zum aktuellen klinischen Zustand des Patienten 2. Informationen zum Patientenwillen (aktuell/vorausverfügt/zuvor mündlich geäußert/mutmaßlich) 3. Anamnestische/klinische Erfassung von Komorbiditäten 4. Anamnestische und klinische Erfassung des Allgemeinzustands (einschl. Gebrechlichkeit, z.B. mit der Clinical Frailty Scale) 5. Laborparameter zu 1. und 3., soweit verfügbar 6. Prognostisch relevante Scores (z.B. SOFA-Score).“7 3. Verfassungsrechtsrahmen für die Triage Eine gesetzliche Regelung für die Triage im Falle der intensivmedizinischen Behandlung besteht nicht. Auch der Nationale Pandemieplan8 enthält dazu keine Empfehlungen. Dieser stellt ohnehin nur eine unverbindliche Empfehlung dar.9 Die im Bereich der ärztlichen Ethik anzuknüpfende Priorisierungsentscheidung richtet sich an den Vorgaben der Verfassung aus.10 5 Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie, Klinisch-ethische Empfehlungen, 2. überarbeitete Fassung vom 17.4.2020, S. 4 (vgl. oben Fn. 2). 6 Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie, Klinisch-ethische Empfehlungen, 2. überarbeitete Fassung vom 17.4.2020, S. 5 (vgl. oben Fn. 2). 7 Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie, Klinisch-ethische Empfehlungen, 2. überarbeitete Fassung vom 17.4.2020, S. 6 (vgl. oben Fn. 2). 8 Abrufbar unter: https://edoc.rki.de/bitstream/handle/176904/187/28Zz7BQWW2582iZMQ.pdf?sequence =1&isAllowed=y (zuletzt aufgerufen am 29.4.2020). 9 Taupitz, in: Klöpfer (Hrsg.), Pandemie als Herausforderung für die Rechtsordnung, 2011, S. 103, 106 f. 10 Deutscher Ethikrat, Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise, Ad-hoc-Empfehlungen vom 27.3.2020, S. 3 (vgl. oben Fn. 4); Brech, Triage und Recht, 2008, S. 383. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 104/20 Seite 5 3.1. Grundrechte Die Garantie der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG umfasst einen allgemeinen Diskriminierungsschutz .11 Für den Staat folgt daraus eine Lebenswertindifferenz.12 Er darf keine Bewertung oder Kategorisierung menschlichen Lebens vornehmen. Vorgaben bezüglich des Wertes und der Dauer eines Lebens und daran gebundene Unterscheidungen bezüglich der Zuteilung von Überlebenschancen durch eine andere medizinische Behandlung sind dem Staat verboten.13 Auch eine Differenzierung nach Alter, Herkunft, Geschlecht und sozialer Stellung, etc. ist dem Staat untersagt.14 Das Gleiche gilt auch für eine Unterscheidung nach der zu erwartenden Lebensdauer.15 Ebenso ist die Lebensqualität schon wegen ihrer subjektiven Bewertung keiner objektiven Bewertung zugänglich und damit kein taugliches Differenzierungskriterium.16 Eine Abwägung von Leben gegen Leben ist auch bezüglich einer möglichen Maximierung der Zahl der potentiell geretteten nicht zulässig.17 Nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ist das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit geschützt. Ein Eingriff in das Grundrecht kann jedoch nicht angenommen werden, wenn nicht auf den Körper eingewirkt wird. Bei Nichtvornahme einer medizinischen Heilbehandlung wird nicht auf den Körper eingewirkt oder das Leben aktiv verkürzt.18 Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in Verbindung mit dem in Art. 20 Abs. 1 GG verfassten Sozialstaatsprinzip enthalten darüber hinaus ein Leistungsrecht für Hilfsbedürftige auf das Existenzminimum. Zu diesem gehört auch eine medizinische Mindestversorgung. Dieser Anspruch hat jedoch bislang über den Schutz des Lebens hinaus kaum belastbare Konturen.19 Auch Art. 3 Abs. 1 GG enthält für den Bürger ein derivatives Teilhaberecht.20 11 Höfling, in: Sachs (Hrsg.), GG, 8. Auflage 2018, Art. 1, Rn. 35. 12 Brech, Triage und Recht, 2008, S. 263 ff.; Deutscher Ethikrat, Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise, Ad-hoc-Empfehlungen vom 27.3.2020, S. 3 (vgl. oben Fn. 4). 13 Deutscher Ethikrat, Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise, Ad-hoc-Empfehlungen vom 27.3.2020, S. 3 (vgl. oben Fn. 4). 14 Kern/Rehborn, in: Laufs/Kern/Rehborn (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 5. Auflage 2019, § 21, Rn. 49; Taupitz, in: Klöpfer (Hrsg.), Pandemie als Herausforderung für die Rechtsordnung, 2011, S. 103, 119 ff. 15 Deutscher Ethikrat, Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise, Ad-hoc-Empfehlungen vom 27.3.2020, S. 4 (vgl. oben Fn. 4). 16 Taupitz, in: Klöpfer (Hrsg.), Pandemie als Herausforderung für die Rechtsordnung, 2011, S. 103, 119. 17 BVerfGE 39, 1, 58; Kern/Rehborn, in: Laufs/Kern/Rehborn (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 5. Auflage 2019, § 21, Rn. 40; Taupitz, in: Klöpfer (Hrsg.), Pandemie als Herausforderung für die Rechtsordnung, 2011, S. 103, 116 f. 18 Brech, Triage und Recht, 2008, S. 182; Taupitz, in: Klöpfer (Hrsg.), Pandemie als Herausforderung für die Rechtsordnung , 2011, S. 103, 118. 19 Taupitz, in: Klöpfer (Hrsg.), Pandemie als Herausforderung für die Rechtsordnung, 2011, S. 103, 115. 20 Nußberger, in: Sachs (Hrsg.), GG, 8. Auflage 2018, Art. 3, Rn. 53; Kern/Rehborn, in: Laufs/Kern/Rehborn (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 5. Auflage 2019, § 21, Rn. 35. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 104/20 Seite 6 Art. 3 Abs. 1 GG verbietet eine Ungleichbehandlung von gleichen Sachverhalten. Das bedeutet, dass stets ein medizinisches Unterscheidungskriterium für eine abweichende Behandlung bestehen muss. Da im Falle der Triage nicht für alle Patienten genügend medizinische Versorgung gewährt werden kann, wandelt sich der Anspruch auf Gleichbehandlung in einen solchen auf materielle Abwägung. Kriterien wie die Dringlichkeit der Behandlung, Erfolgsaussichten und der Aufwand der medizinischen Behandlung sind insoweit in Ausgleich zu bringen.21 3.2. Gesetzesvorbehalt Mitunter wird eine rechtsstaatliche Legitimation in Form eines Gesetzes für die Triage gefordert. Dies würde die Rechtssicherheit fördern und sei im grundrechtsrelevanten Bereich auch für die Leistungsverwaltung wie die medizinische Daseinsvorsorge erforderlich.22 Andere argumentieren, dass eine Orientierung der Ärzte an den bekannten medizinischen Standards ausreicht.23 Jedoch handelt es sich um eine Materie, die aufgrund des oben dargestellten Verbots der Lebenswertdifferenzierung keiner staatlichen Regelung zugänglich ist.24 Eine konkrete Regelung über abstrakte Kriterien hinaus scheint insofern nicht möglich. Diese wiederum brächte für die Triage gegenüber dem ungeregelten Zustand einen geringen Mehrwert. 3.3. Nichtstaatliche Akteure Dass es dem Staat nicht erlaubt ist, konkrete Vorgaben bezüglich einer Priorisierung zu machen, bedeutet nicht, dass entsprechende Entscheidungen Dritter staatlich nicht akzeptiert werden können . Nichtstaatliche Ebenen können also eine Konkretisierung der Maßstäbe für die Priorisierung vornehmen. Akteure, die nicht dem Staat zuzurechnen sind, könnten allenfalls über die Drittwirkung der Grundrechte an diese und die durch diese bestimmte „objektive Werteordnung“ gebunden werden.25 Medizinische Fachverbände können insoweit über das hinausgehen, was dem Staat erlaubt ist.26 Die Leitlinien der Fachverbände können zu einer Erhöhung der Gleichbehandlung beitragen. Durch diese wird die Entscheidung nicht allein den individuellen Medizinern aufgebürdet , sondern durch einen gewissen Rahmen vereinheitlicht. Spielräume für die Ärzte bei der Triage-Entscheidung oder für die Verbände bei der Vorbereitung diesbezüglicher Leitlinien sind dort gegeben, wo der aktuelle Sachverstand vor Ort etwa hinsichtlich der Rettungschance zwingend erforderlich ist.27 Insoweit besteht ein nur eingeschränkt gerichtlich 21 Brech, Triage und Recht, 2008, S. 387; Kern/Rehborn, in: Laufs/Kern/Rehborn (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 5. Auflage 2019, § 21, Rn. 44. Taupitz, in: Klöpfer (Hrsg.), Pandemie als Herausforderung für die Rechtsordnung, 2011, S. 103, 123 f. 22 So u.a. Brech, Triage und Recht, 2008, S. 302 f., 390 f. m.w.N. 23 Vgl. Taupitz, in: Klöpfer (Hrsg.), Pandemie als Herausforderung für die Rechtsordnung, 2011, S. 103, 109 m.w.N. 24 Deutscher Ethikrat, Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise, Ad-hoc-Empfehlungen vom 27.3.2020, S. 4 (vgl. oben Fn. 4). 25 Wall/Wagner, JA 2011, 734 ff. 26 Deutscher Ethikrat, Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise, Ad-hoc-Empfehlungen vom 27.3.2020, S. 4 (vgl. oben Fn. 4). 27 Brech, Triage und Recht, 2008, S. 384. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 104/20 Seite 7 kontrollierbarer Beurteilungsspielraum. Allgemeine Diskriminierungskriterien wie das Alter können jedoch auch nicht durch nichtstaatliche Akteure herangezogen werden.28 Zudem ist auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und das darin enthaltene Diskriminierungsverbot hinzuweisen . Dieses gilt auch in Bezug auf die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehende Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen (§ 2 Abs. 1 Nr. 8 AGG). 4. Rechtliche Bewertung klinisch-ethischer Empfehlungen von Verbänden Es handelt sich bei der Entscheidung über die Weiterbehandlung bestimmter Patienten um eine ärztliche Entscheidung, die nach medizinisch-ethischen Kriterien getroffen wird. Die Entscheidung kann sich dabei nach ärztlichen Leitlinien richten.29 Bei den hier vorliegenden ärztlichen Leitlinien, die auch eine Skala zur Bewertung der Gebrechlichkeit einbeziehen, handelt es sich also um eine Äußerung eines Zusammenschlusses privat-rechtlich organisierter Verbände. Die klinisch-ethischen Empfehlungen stellen Leitlinien und kein zwingendes Berufsrecht oder eine vertragliche Vereinbarung dar. Daher besteht auch kein mittelbar überprüfbarer Rechtsakt, weil die Leitlinien nicht justiziabel sind. Allenfalls wenn es zu einer Regelung durch den Gesetzgeber kommen sollte, die einen vergleichbaren Inhalt wie die aufgezeigte Richtlinie hat, könnte dies direkt anhand der Grundrechte überprüft werden. Das Bundesministerium für Gesundheit hat am 8. April 2020 jedoch ausdrücklich geäußert: „Gesetzgeberischer Handlungsbedarf zu diesen medizinethischen Fragen besteht nicht.“30 Zu beachten ist zudem, dass es sich bei der Anwendung der Gebrechlichkeitsskala CFS um eine Variante von mehreren innerhalb der benannten klinisch-ethischen Empfehlungen handelt. Mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass diese Skala nicht für Menschen unter 65 Jahren validiert ist, macht die Skala auch ihre mangelnde Tauglichkeit bei der Entscheidung bezüglich jüngerer Menschen deutlich. Der Hinweis kann nicht als Diskriminierung verstanden werden, sondern nur als Gebrauchshinweis. Die Verfasser der klinisch-ethischen Empfehlungen weisen zusätzlich auf einen anderen Standard zur Messung des vor der akuten Erkrankung bestehenden Gesundheitszustandes hin.31 Zudem ist auch von ihnen der Hinweis auf die CFS nicht direktiv formuliert. Die Anwendung einer Skala, die nur für bestimmte Altersgruppen validiert ist, kann also auch beschränkt auf die validierte Altersgruppe erfolgen. Wenn die Anwendungsvoraussetzungen vorliegen, könnte sie als Hilfsmittel eingesetzt werden. Über die medizinische Sinnhaftigkeit einer Kategorisierung nach CFS kann hier keine Aussage getroffen werden. *** 28 Kern/Rehborn, in: Laufs/Kern/Rehborn (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 5. Auflage 2019, § 21, Rn. 48. 29 So Bundesministerin Lambrecht, „Nur Befristet“, Welt am Sonntag vom 26.4.2020, S. 4. 30 Schriftliche Fragen mit den in der Woche vom 13.4.2020 eingegangenen Antworten der Bundesregierung, Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Thomas Gebhart vom 8.4.2020, BT-Drs. 19/18555, Nr. 132. 31 Vgl. Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie, Klinisch-ethische Empfehlungen , 2. überarbeitete Fassung vom 17.4.2020, S. 14 (vgl. oben Fn. 2). ECOG = Eastern Cooperative Oncology Group Performance Status.